Die junge Frau hörte mit dem Kopfhörer Musik und kehrte in die Bolschaja Sadowaja uliza zurück. Dort, im obersten Geschoss des grünen Hauses, hatten sie und Mitka ihren geheimen Ort. Jemand hatte in der Eingangshalle eine schwarze Katze an die Wand gemalt, und im Treppenhaus waren die Wände mit Zitaten aus Bulgakows Roman Der Meister und Margarita vollgeschmiert. Wie oft war sie mit Mitka im Dunkel der Nacht die enge Holztreppe nach oben gestiegen! Im sechsten Stock waren zwei Stufen zerbrochen, und wenn man das nicht wusste, stürzte man direkt in den Tod. Aber sie wussten es und passten auf. Dort im obersten Geschoss, mitten im Gestank von Katzenpisse, hatte sie mit Mitka zum ersten Mal eine Marihuanazigarette geraucht.
Verschämt wechselte der Mann die Unterwäsche. Die schmutzige wickelte er in eine alte Literaturnaja Gazeta und verstaute das Paket in seiner Reisetasche.
Die Reisenden, die in Omsk zugestiegen waren, standen im Gang. Unter ihnen befand sich ein Offizier der Roten Armee mit seiner alten, bis zur Durchsichtigkeit dünnen Haushälterin. Sein Waffenrock saß gut, die Schuhe glänzten, ebenso das aufgedunsene Gesicht. Der Offizier hielt sich gerade und räusperte sich in gleichmäßigen Abständen würdevoll. Der Mann fixierte ihn von der Abteiltür aus.
»Zu Lenins Zeiten gab es in der Sowjetunion keine Offiziere, bloß Kommandanten und Mannschaft. Den Unterschied sah man nur aus der Nähe, an den Abzeichen am Kragen. Diese Zeit liegt lange zurück, heutzutage sitzen Leutnants und Hauptmänner am einen Tisch und Majore und Oberste am anderen. Der da hat die Visage eines Verbrechers. Ist wahrscheinlich ein Schwuler und kratzt der Sowjetmacht am Rücken.«
Der Offizier bekam rote Ohren. Mit einigen festen Schritten trat er vor den Lästerer hin, packte ihn an der Nase und drückte so fest zu, dass der Mann auf sein Bett sank.
»Am nächsten Bahnhof werden alle Rabauken aus dem Zug entfernt«, brüllte der Offizier. »Wenn Sie jünger wären, würde ich Sie zur Erziehung in Teufels Küche schicken.«
Der Mann war verwirrt, weil der Offizier ihn mit seiner Schnelligkeit überrascht hatte.
»Aber nicht doch …«, sagte er, schnellte hoch und schlug mit der Faust nach dem Offizier, doch dieser konnte ausweichen, und die Faust traf den Türrahmen.
Wütend spuckte der Mann über die linke Schulter auf den Gang und zischte. Der Offizier sah ihn an, seufzte tief und ging davon. Arisa kam mit dem Beil in der Hand auf den Gang gestürzt.
»Du Schwein! Hier wird nicht herumgespuckt! Ich werde dafür sorgen, dass dem Genossen Gusseisenheld die Pisse in die Hose läuft.«
Sie schwenkte heftig das Beil, und die junge Frau zog den Kopf ein. Aber dann verschwand Arisa. Der Mann blickte ihr erleichtert nach.
Bald darauf leerte sich der Gang. Eine Weile stand die junge Frau alleine da, dann ging sie ins Abteil, wo der Mann auf dem Bettrand saß, noch immer außer sich. Die junge Frau wagte es kaum, sich zu rühren. Allmählich beruhigte er sich. Er versenkte sein Kinn in der großen Pranke und seufzte immer wieder vor sich hin.
»Ich kann solche Gockel nicht ertragen. Zieht sich an wie eine Parteinutte. Diese Typen sind schuld daran, dass die Afghanen noch immer nicht besiegt sind. Dieser warme Bruder ist schlimmer als die afghanischen Kämpfer. Ich habe in den Fernsehnachrichten gesehen, was die Muselmanen da in der Wüste mit ihren Flinten machen. Sie tragen sie wie Säuglinge durch die Gegend. Und was tun die Offiziere unserer Roten Armee? Nehmen sich an den primitiven Urmenschen ein Beispiel und wackeln mit dem Arsch. Würden solche wie ich in den Krieg ziehen, wie es sich gehört, dann hätten wir diese Hutzelmännchen gleich beim ersten Angriff geschlagen. Aber nein, da wird nur rumgeschwuchtelt. Als ich in der Armee war, haben wir den Schwulen einen Spieß in den Arsch gesteckt. Ein richtiger Soldat weiß, was er mit seiner Waffe anstellt. Damit schießt man auf den Feind. Nicht mitten in die Stirn, sondern in den Bauch.«
Die junge Frau hatte nur einen einzigen Gedanken: Sie hasste diesen Mann.
Indessen kamen sie an resignierten Häusern vorbei, die von ihren Gärten geschluckt wurden, an Dörfern, die der Wald auffraß, Städten, die verschlungen wurden von der flechtenbewachsenen Taiga. Der Zug jagte nach Osten, dunkelbraune Wolken bedeckten den Himmel, aber plötzlich sah man im Süden in einem Wolkenriss einen kleinen Streifen helles Blau: Frühlingshimmel. Der Zug jagte nach Osten, und alle warteten auf den Morgen. Die junge Frau dachte daran, dass sie in einem überhitzten Zug durch das gefürchtete Sibirien reiste und dass vielleicht jemand diesen Zug sah, jemand, der sich nach Moskau sehnte, jemand, der genau in diesem Zug sein wollte, jemand, der womöglich einem Lager entflohen war, ohne Gewehr, ohne etwas zu essen, bloß mit feuchten Streichhölzern in der Tasche, jemand auf Skiern, die er einem Wächter gestohlen hatte, jemand, der ein rostiges Messer einstecken hatte und bereit war zu töten, bereit war zu darben und zu frieren, bereit, dem Leben entgegenzurennen.
Die ganze stille, stickige, düstere Nacht hindurch hatte die junge Frau auf Nowosibirsk gewartet. Auf den Schutz der Millionenstadt, darauf, dass sie wenigstens einige Stunden allein sein durfte. Die trockene, stramme Kälte Sibiriens schnitt ihr ins Gesicht und raubte ihr den Atem. Die Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorlugten, bereiften im Nu, die Wimpern klebten aneinander, die Lippen froren zu. Auf dem Bahnsteig lauschte sie, wie der Schnee unter ihren Füßen knirschte und knirrte, wie die Schienen in der Umklammerung des Frostes knackten. Sie betrachtete das weiche Licht der unregelmäßig sirrenden Lampen. Und als sie durchgefroren wieder in den Zug stieg, traf sie im Gang auf Arisa.
»Unsere geliebte Sieges-Lokomotive mit der rot besternten Stirn hat alles gegeben. Wenn sie nicht ungestört abkühlen und verschnaufen darf, wird sie sterben. Und das kann niemand wollen. Gönnen wir ihr eine kleine Atempause, ein paar Tage Urlaub.«
Die junge Frau beschloss, in die Stadt zu gehen und sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Dort könnte sie duschen und hätte ihren Frieden.
Als sie im Abteil ihren Koffer packte, schnappte der Mann sich ihre Kopfhörer und weigerte sich, sie zurückzugeben.
»Du kannst nicht alleine gehen. Das lasse ich nicht zu, Nowosibirsk wird dich auffressen. Wir gehen zusammen. Ich kümmere mich um alles.«
Zwei Stunden später trotteten sie dem in der Kälte erstarrten, in safrangelbem Morgenrot erstrahlenden Zentrum der Millionenstadt entgegen. Die junge Frau spürte die feste Straße unter ihren Füßen. Auf beiden Seiten der Bürgersteige wuchsen Schneewälle, die höher waren als der Mann. Dazwischen hatten die Stadtbewohner Pfade getrampelt. Steif und nach Luft schnappend, gingen sie an unbebauten Grundstücken und städtischen Gemüsefeldern entlang, alles unter Schnee begraben, sie kamen an einer Schule vorbei, an schneeverkrusteten Zäunen und Gartentoren, an eisgeblümten Verandasprossenfenstern und an einer gedrungenen Frau, die weißer Kältehauch einhüllte. Stellenweise lag so viel Schnee, dass er bis zu den Lichtquellen an den Laternenmasten reichte.
An der Haltestelle wartete eine schläfrige, dampfende Menschentraube auf den Trolleybus, in dünnen Steppjacken, mit alten, bereiften Pelzmützen auf dem Kopf und imposanten Filzstiefeln an den Füßen. In den Fenstern eines Mietshauses aus Beton blinkten gelbe Lichter, und im geschützten Innenhof heulten die Hunde im Rudel wie Wölfe. Der Wind blies den Fußgängern die Rockschöße auseinander und verwehte die wehmütigen Melodien einer zerschlissenen Ziehharmonika. Friseurgeschäfte gab es in jedem Viertel. In einer Seitenstraße ragten rostige Eisenstangen und eine Schubkarre aus dem Schnee, an einer Straßenecke stand schlaff ein kaputtes tschechisches Sofa, auf dem sich durch den Wind kleine Schneewehen gebildet hatten. Sie spazierten quer durch die aus ihrem eisigen Schlaf erwachende Industriestadt, sie gingen über Höfe und entdeckten im Frosthauch die traurigste Menschenschlange des Universums. Dort stellten sie sich auf dem Glatteis an, der Mann zuerst, die junge Frau hinter ihm. Das vordere Ende der Schlange verschwand in rußigem, dickem Kältenebel. Eine Frau ging durch diesen Nebel und hinterließ darin einen Korridor, die Menschen dampften wie Pferde. Mit einer schnellen Bewegung drehte sich der Mann um.
»Wir leiden hier ohne Grund und ohne uns zu wehren. Man kann mit uns machen, was man will, wir nehmen alles demütig an.«
Irgendwo hinter der jungen Frau rief ein Alter, der große graue Augen und einen Korb voller Piroggen hatte:
»Jesus hat gelitten und uns befohlen, auch zu leiden, das ist alles.«
»Nein, sondern ein leichtes Leben. Das ist es, was wir alle wollen«, brüllte ein junger Mann mit roter Säufernase.
»Nicht alle ertragen das leichte Leben, sondern gehen zugrunde«, sagte der Alte matt und drückte sich die Pelzmütze mit den Ohrenklappen noch tiefer ins Gesicht.
»Reine Unwissenheit«, gab die rote Schnapsnase zurück.
»Im Leiden schmecken wir das Leben, Dank sei Gott. Mangel und Leere sind was Gutes«, knurrte der Alte.
»Stimmt, der Mensch kommt mit wenig aus, aber ohne dieses wenige hat er gar nichts«, rief der junge Mann.
»Sie Arschloch, mit Ihnen rede ich nicht.« Der Alte machte eine scharfe Bewegung mit der Hand, die in einem Fäustling aus Hundeleder steckte.
»Ist doch alles nur Spaß, Väterchen, regen Sie sich nicht unnötig auf, schonen Sie Ihr Herz«, beschwichtigte der Mann mit gelassenem Tonfall.
Der Alte trat neben die junge Frau und schaute den Mann mit äußerst kritischem Blick lange an.
»Hör zu, Genosse, ein einfaches Leben hält die Seele rein.«
»Und leiden läutert«, gab der Mann zurück und zwinkerte dem Alten zu.
Er kaufte eine gefrorene Melone, die junge Frau einen gefleckten, kälteklammen Apfel. Sie gingen an einer übel zugerichteten Telefonzelle vorbei, in der eine Frau mit gelbem Hals hitzig in den Hörer sprach. Ein Mann mit roten, knochigen Fesseln klopfte mit einer Münze ans Glas, um die Frau zur Eile anzutreiben. Tiefe Risse spalteten die Wände der Plattenbauten, die Balkone bogen sich unter dem Schnee, Wasser rann und tropfte herab, Türen, deren Klinken gestohlen worden waren, hingen frivol in den Angeln, und die Türöffnungen waren voller Schnee. Im Schnee begrabene, erloschene Straßenlaternen, verbogene Straßenlaternen, zerschlagene Straßenlaternen. Stromleitungen, die in der Luft hingen, offene Kanaldeckel, Kabelbündel kreuz und quer auf den Schneehaufen. Und über alldem strahlte eine pralle Sonne vom hellblauen Himmel. Seite an Seite erreichten sie den dunklen Kulturpark. Dort waren die Wege geräumt, der rissige, gefrorene Asphalt blitzte unter dem Schnee hervor. Sie setzten sich auf eine beschneite Bank. Der Mann nahm das Klappmesser aus der Tasche, ließ die stabile Klinge herausschnappen und zerteilte die Melone.
»Wollen wir eine Spazierfahrt machen? Zeit haben wir ja und werden wir immer haben. Mein Plan deckt alles ab, und dafür brauchen wir eine Flasche Whisky. Die hast du doch dabei, oder? Ich kenne hier einen Menschen, der mir nahesteht, eigentlich ein guter Freund, der ist in der Lage, alles Mögliche zu organisieren. Aber auch in diesem Land ist nicht alles umsonst. Warte hier.«
Die junge Frau überlegte kurz, zog dann die Literflasche Whisky aus dem Rucksack und gab sie dem Mann. Dieser pfiff zufrieden, steckte die Flasche in die Innentasche seiner Jacke und ging davon. Schlotternd blieb sie auf der Bank zurück. Ihre Wangen glühten rot, und an ihren Nasenhaaren hingen kleine Eistropfen. Neben ihr landete plump eine von der Morgenkälte klamme Krähe. Die junge Frau bot ihr etwas von der gefrorenen Melone an. Stolz wandte die Krähe den Kopf ab.
Sie war fünfzehn gewesen, als der Zug früh am Morgen durch die Trabantenstädte von Moskau ratterte. Sie hatte aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont aufging, über die roten Fahnen hinwegstieg und die Schatten der endlosen Plattenbaukolonnen surreal in die Länge wachsen ließ. Sie hatten am Komsomolez-Platz gewohnt, im Hotel Leningradskaja: sie, ihr Vater und ihr großer Bruder. Das reich verzierte Foyer des Hotels hatte sie verwirrt. Nie zuvor hatte sie ein so vornehmes Hotel gesehen, nicht einmal auf Bildern. Aus dem Fenster im sechsundzwanzigsten Stock hatte man eine großartige Aussicht auf die ganze gewaltige Großstadt gehabt. Sie hatten Vollpension, das hieß, dass sie dreimal am Tag in dem verschnörkelten Speisesaal des Hotels essen durften. Den schwarzen Kaviar verabscheute sie, aber gern hörte sie dem warmen Klappern des Rechenbretts an der Kasse zu. Sie gingen über den Lenin-Prospekt und schauten den Straßenfegerinnen zu. So etwas gab es in Finnland nicht. Am Abend fuhren sie mit dem Taxi auf den Lenin-Hügel, wo sie zum ersten Mal ihre künftige Lehranstalt zu Gesicht bekam, das neue vierunddreißigstöckige Haupthaus der Universität Moskau. So hell angestrahlt, sah der monumentale Gebäudekomplex mit dem leuchtenden Rubinstern auf dem spitzen Turm aus wie aus Tausendundeiner Nacht entlehnt. Am zweiten Tag zeigte der Vater ihr und ihrem Bruder all das, worüber er selbst im Jahr ’64 gestaunt hatte, bei seinem ersten Besuch in der Sowjetunion. Sie gingen über den Roten Platz, in Lenins Mausoleum, das im Stil des Funktionalismus erbaut worden war, und sie bewunderten die Kremlmauer. Mit dem Trolleybus fuhren sie zum Platz der Volkserhebung, um die zweiundzwanzigstöckigen Wohnhäuser zu bestaunen, und zum Smolensker Platz, um angesichts der siebenundzwanzigstöckigen Amtsgebäude den Mund aufzusperren. Der Vater erklärte, es handle sich dabei um eine Mischung aus Kreml und amerikanischem Wolkenkratzer. Außerdem besuchten sie die Gräber von Gogol, Majakowski, Tschechow und Ostrowski auf dem Nowodewitschi-Friedhof.
Am dritten Tag führte der Vater sie und ihren Bruder in den Kosmos-Pavillon in der Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR. Es war das Heiligtum des sowjetischen Weltraumkults: Modelle von Raumschiffen und künstlichen Monden in Originalgröße, allerlei kleinerer Weltraumkitsch und natürlich die kostbarste Reliquie von allen, die Raumkapsel Sojus, vor der ein pompöses Blumenarrangement im Sowjetstil drapiert worden war. Man durfte nicht hinein, aber man durfte nach Herzenslust fotografieren. Für das Mädchen war der Pavillon das Beste gewesen, was es im ganzen Leben je gesehen hatte. In ihr Tagebuch schrieb sie, wenn sie achtzehn werde, wolle sie sofort nach Moskau umziehen.
Am selben Abend aßen sie in einem usbekischen Restaurant. Ein Orchester spielte slawische Melodien, und einige Leute tanzten. Um Mitternacht ließ sich ihr Bruder auf eine Rauferei mit einem deutschen Touristen ein, und jemand rief die Miliz, die prompt beide Streithähne mitnahm. Am nächsten Tag löste der Reiseführer den trübsinnigen Bruder gegen fünfzig Dollar aus. Bevor das Restaurant schloss, hatte der Vater sich eine schöne georgische Hure gekauft, war mit ihr verschwunden und hatte, wie sich später herausstellte, von ihr Hepatitis B als Souvenir mitbekommen. Das Mädchen war alleine im Lokal zurückgeblieben. Ein dicker Kellner bestellte ihr ein Taxi, und sie verfluchte ihre ganze Familie, auch ihre Mutter, die sich Jahre zuvor davongemacht hatte, um in einer Fischfabrik in Nordnorwegen zu arbeiten. Als der Vater in den frühen Morgenstunden von der Hure zurückkam, sagte er, die Schlampe habe nach Milch geschmeckt und ihre Fotze sei tief gewesen wie die Sünde selbst. Von da an war Moskau für das Mädchen wie die steinerne Faust aus Majakowskis Gedicht gewesen. Nie hatte es sich davon erholt.
Eine gewaltige Sonne schluckte die schwarzen Wolken, und am Rand des Parks tauchte ein grüner, sehr verbeulter, stabil gebauter Pobeda mit wulstigen Seiten auf.
»Hierher, mein Mädchen! Komm her! Glotz nicht auf die erbärmlichen, vom Rost geschändeten Kopeken, sondern schau auf diese prachtvolle Schönheit«, rief der Mann aus dem offenen Wagenfenster.
Im Nu taute die nach Benzin stinkende Wärme die mit Reif bedeckten Haare der jungen Frau auf, aber die Füße blieben kalt. Sie bewegte die Zehen, dann zog sie die Schuhe aus und rieb die Zehen mit den Händen. Die Rückbank roch nach verbranntem Leder und altem Eisen.
Der Mann trat das Gaspedal durch, und der Pobeda tauchte in eine Seitenstraße voller Eisbrocken ein. Die verschneiten Bäume im Park, gelb von der Sonne, schauten dem Auto verdutzt hinterher.
In irrsinnigem Tempo schoss der Wagen durch die zu Eis erstarrte Stadt in Richtung Ausfallstraße, vorbei an Kontrollpunkten und Männern mit Maschinenpistolen, der klaren Helligkeit des Landes entgegen. Zurück blieben der quälende Kältelärm der Stadt, die verrußten Plattenbauten und die geradewegs ins Weltall aufsteigenden Rauchsäulen. Beiderseits der Straße standen Reihen junger Birken, beschneit und mit weißen Stämmen. Im Geäst wuchsen die bauschigen Nester der Krähen. An den Südseiten der Häuser, die sich im drei Meter hohen Schnee versteckten, tauchten Wasserzapfstellen und Frauen in dicken Wollsachen auf. Bald wurden die Zapfstellen von quietschenden Ziehbrunnen abgelöst, die von dickem Eis umgeben waren. Der Mann fuhr so schnell über die schlierige gewundene Straße voller Winterschäden, wie es mit dem vierschrötigen Wagen nur ging.
Bald sprang der Pobeda über den Fabrikruß auf der Straße nach Tomsk. Es schneite, und die Brücken dröhnten. Das Transistorradio auf dem Beifahrersitz spielte Moskauer Abende von Solowjow-Sedoi, der Mann rauchte eine Machorka nach der anderen und nahm einen großen Schluck aus einer hohen Fuselflasche.
Harschiger Schnee hielt die Wälder gefangen, dazwischen lagen vernachlässigte Äcker unter dicken Schneewehen. An einer Ackerböschung standen zwei Ladas mit geknautschtem Bug. Fahrer waren keine zu sehen, aber im Schnee vereiste Blut. In vielen Kurven schien etwas Untröstliches in der Luft zu liegen.
Überraschend ragte aus einem kleinen Kiefernwald eine alte, kränkliche Kirche auf, wie ein blühender Busch mitten im strengsten sibirischen Winter. Sie trotzte jeder architektonischen Logik, sie wirkte wie ein Spielzeug mit überraschenden Ausmaßen und wuchs unkontrolliert in viele Richtungen. Über dem Haupteingang stand: »Klub«.
Die junge Frau schaute durch das vom Eiswind behauchte Heckfenster auf die wilde Schönheit Russlands. Bisweilen bedeckte eine funkelnde, violett-gelbe Schneewolke die Landschaft, dann wieder kroch eine Schleppe aus Schnee und Eisflocken hinter dem Auto her. Ein vereistes Distelfeld glitzerte am Rand eines düster dreinschauenden Waldes. Weit weg am Horizont schwebte rosa Pudernebel, dicke Wolken rissen am Himmel auf und flatterten wie Kinderlaken.
Am Nachmittag passierten sie das Bezirkszentrum, einen Teich, eine Kolchose, ein Birkenwäldchen und fuhren in ein Tal hinein. Dort hatte die Sonne den Sibirienfrost bereits bezwungen, und die kurvenreiche Straße wurde sofort matschig. Der Mann klatschte mit den schwarzen Handschuhen aufs Lenkrad. Mitten auf der Straße lag ein Brunnenring, der Mann trat auf die Bremse und konnte dem Hindernis mit Mühe und Not ausweichen.
»Verdammt, diese Muschiken! Haben ein schiefes Maul und lassen ihre Sachen von der Ladefläche fallen. Keiner merkt was, alle sind wie gebannt vom neuen Traktor.«
Plötzlich erzitterte die Sonne am Rand eines Wäldchens und tauchte hinter einer grünlichen Wolke ab. Wenig später schlugen die ersten zinnschweren Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Das Auto hatte keine Scheibenwischer, man sah nur sperrigen Regen durch die Scheibe, der Mann musste am Straßenrand anhalten. Die frierenden Regenkugeln hackten die Straße auf und verwandelten sie in einen schneematschigen Brei. Wie ein träger Fluss schlängelte sie sich durch das Tal. Eine Krähe mit nur einem Flügel fiel vom Himmel, der in allen Regenbogenfarben loderte.
Bald waren der wütend prasselnde Regen samt Regenbogen verschwunden. Nun umgab dicker, grünlicher Dunst das aufrechte Wäldchen und die trostlosen Waldstreifen. Dahinter stieg eine helle Sonne auf, und strenge Kälte schlug zu. Im Nu verwandelte sie die beschädigte Straße in eine Eishalde, über die der Pobeda hüpfte wie ein Tischtennisball. Jenseits der baumlosen, starren Taiga lagen unterm Schnee begrabene Dörfer, dampfende Kolchosen, rauchende Staatsgüter, neben deren Viehställen sich ganze Berge von Schwarzbrot häuften.
Die Straße endete, und vor dem Pobeda lag eine Art Militärstraße, von einer Planierraupe geplättet. Der Mann trat aufs Gas, dann sofort auf die Bremse und wieder aufs Gas. Die Sonne erhellte die ganze Landschaft, um in der nächsten Kurve hinter eine Wolkenbank zu springen. Bald blitzte sie wieder über einem Wäldchen auf, das in steifen Schnee gepackt war. Am Straßenrand sah man ein halb von einer Wehe begrabenes Motorrad, der angehängte rote Schlitten beladen mit beschneiten Stämmen. Der Pobeda schaukelte von einem Schlagloch ins nächste, dann drehten die Räder kurz auf der vereisten Oberfläche durch, bis es mit Gewimmer erneut ein paar Meter weiterging. Der Mann malträtierte die Kupplung, die junge Frau zitterte auf der Rückbank. Sie war mit Mitka in einem verschlafenen Museum gewesen, in der letzten Sitzreihe eines Kinos, im Straßengewimmel, im Gang eines schaukelnden, knarrenden Vorortzuges, am Aufzugsschacht eines Wolkenkratzers, am Ufer der Moskwa, wo die Lastwagen über die vielspurige Uferstraße röhrten, am Ecktisch einer Cocktailbar, immer auf der Suche nach »unseren« Orten. Das in Schnee gepackte Wäldchen verwandelte sich in einen niedrigen Birkenbestand. Ein einzelner Lichtstrahl stach zwischen den Bäumen hindurch, dann ein zweiter, und wenige Kilometer später erleuchtete eine kraftvolle Sonne die schneebedeckte Ebene.
An einer Straßenbaustelle wichen sie den Maschinen aus, die eine stellte ein Gespann aus Motorrad und Schneepflug dar, die andere sah wie eine Kombination aus Pkw und kleinem Bagger aus, allein die Walze glich sich selbst. In großen Metallkesseln brodelte heißes Bitum, Frauen in blauen wattierten Jacken schleppten schwere Steinlasten und blickten bösartig, die Männer hatten Zigaretten im Mundwinkel und schwangen Schaufeln mit langen Stielen. Die Maschinen husteten.
Nach der Baustelle kamen Holzhäuser. Sie bildeten ein graues Dorf, von dem eine graue, schlammige Straße ausging. Hinter dem ersten Haus tauchte eine graue, hundertköpfige Schafherde auf, gehütet von einem wettergegerbten Mann. Er saß auf einem braunen, dürren Gaul, schwenkte die Peitsche und fluchte so laut, dass man es bis ins Auto hörte. An der Straßenböschung lagen verfaulte Flachsgarben, durchgerostete Zinkeimer, gebrochene Deichseln, hart gewordene Düngersäcke, zerfetzte Rindenschuhe und Lumpenhaufen, umgekippte, vom Schlamm gemusterte Zäune, bewusstlose Säufer, die von umherstreunenden Hunden angepisst wurden.
Sie stellten das Auto vor dem Gemischtwarenladen ab und gingen die von Tausenden Schritten platt getrampelte Dorfstraße entlang. Die Kälte schlug ihnen in die Augen, wodurch ihnen die Tränen auf beide Wangen rannen, bis sie gefroren. Der Mann setzte sich auf einen vereisten Stein und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Die junge Frau ging hinter ein kleines Haus, das auf einem Hügel stand. Mit der Hand berührte sie die Hauswand. Sie war kalt, aber weich. Von der Veranda aus führte ein Weg zum Gartentor, das Eis rund um den Ziehbrunnen war aufgehackt worden. Am Brunnen stand mit gerunzelter Stirn ein verkümmerter Junge im Teenageralter, auf dessen Kopf eine abgenutzte Lammfellmütze schaukelte. Er musterte die junge Frau neugierig, den Mund leicht geöffnet, die langen Arme unbeholfen herabhängend, die kurzen Beine gespreizt.
»Führer der Komplexbrigade«, sagte der Junge und wies mit dem Fäustling auf sich.
Einen Moment später tauchte hinter dem Haus ein schwarzes Pferd auf, das einen roten Schlitten zog. Auf dem Schlitten sah man zwei Holzbottiche, aber keinen Fuhrmann. Der Junge mit der gerunzelten Stirn drehte die quietschende Kurbel am Gemeinschaftsbrunnen, füllte die Bottiche, schnappte sich die Zügel und beförderte das eiskalte Wasser zu einem in einiger Entfernung stehenden Haus.
Die Gebäude im Dorf sahen einander scheu an. Sie waren im Einklang mit der sie umgebenden Natur gebaut worden, und da man sie nicht gestrichen hatte, verschmolzen sie vollkommen mit der flachen Landschaft. Man hatte Balken auf Balken gelegt, in gleichmäßigen rhythmischen Reihen beiderseits der Dorfstraße, die Zäune waren Stakete für Stakete errichtet worden. All das konnte man sehen, obschon die Zeit bereits daran vorbeigezogen war und die Natur sich bald alles zurückholen würde. Hier, wo jetzt das Dorf stand, würden zuerst vereinzelt Erlen wachsen, dann etwas dichter Kiefern mit roten Stämmen und schließlich Mischwald. Hinter einem Schuppen heulte mit Unterbrechungen eine Motorsäge, hustete und ging aus. Über der Schuppentür hing ein Schild: »Technisches Depot der Kolchose«. Neben der Tür thronte ein Stoß Holzscheite, dahinter saßen einige Jungen. Sie trugen viel zu große Steppjacken oder Sakkos, die sie von ihren Vätern geerbt hatten, und Filzstiefel. Sie ließen eine Fuselflasche kreisen. Als sie leer war, steckte sie einer der Jungen in den Holzstoß.
Der Mann und die junge Frau gingen zum Gemischtwarenladen zurück. Dort parkten nun zwei Traktoren. Der eine hatte ein Führerhaus aus ungehobelten Brettern, mit einem alten Hausfenster als Windschutzscheibe, der andere statt Rädern schlaffe Raupenketten; wo das Lenkrad gewesen war, steckte eine Fahrradfelge. Die junge Frau kaufte ofenfrische Kohlpiroggen und eine Flasche Kompott, der Mann eine Flasche Fusel. Sie setzten sich neben einer weißen, struppigen Katze auf die Ladentreppe. Fünf kleine, lebhafte Bienen tauchten von irgendwoher auf. In der grellen Kälte schwirrten sie um die Piroggen herum. Als die junge Frau sie verscheuchte, flogen sie beleidigt davon, nur eine versuchte, sich auf einem vereisten Rosenbusch niederzulassen, starb aber noch vor der Landung.
Nun kam hinter dem Laden eine Kapelle hervor. Kinder Sibiriens in Pionieruniformen marschierten im Takt eines Liedes und einer kleinen Trommel die Dorfstraße entlang. Ihre schmächtigen Kinderkörper steckten in weiten Blusen, die sich im kalten Wind blähten. Die roten Pioniertücher setzten sich hübsch von den braunen Oberteilen ab, und die bunten Bommelmützen beschatteten offene, unschuldige Gesichter.
Nachdem die Pioniere hinter dem Schulhaus verschwunden waren, gingen der Mann und die junge Frau zum Auto und setzten ohne Eile ihre Reise fort.
»Früher dachten die Menschen, Gott ist die Natur, aber heute hört man viele sagen, Gott ist die Stadt. Ich bin der zweiten Meinung. Jemand hat gesagt, die Städte bestehen aus Krebszellen. Scheißdreck! Schon der Menschenverstand sagt einem doch, dass ein Dutzend Würmer nicht ewig vom selben Apfel fressen können. Hier gibt es unendlich viel Natur. Sie ist umsonst und hört nie auf. Die menschlichen Ressourcen sind hier unerschöpflich, uns gehen die Massen nicht aus. In den Fünfzigerjahren pflegte im Dorf Suchoblinowo ein Brigadier der Maschinen-Traktoren-Station zu sagen: Die Freiheit besteht aus weiten Ebenen, über die man sein Leben lang gehen und dabei die Luft des offenen Geländes atmen kann. Man saugt den Wind ein, so tief wie möglich, und spürt über sich das unendliche Universum. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Zwischen Hügeln schlängelte sich der Ob, gefangen von gewaltigen Eismassen und bestrahlt von der Sonne. Lange, spröde, bereifte Gräser lugten an seinen Ufern aus dem Schnee und grüßten die Reisenden. Sie hielten oft an, aus reiner Neugierde oder weil es verbrannt aus dem Motor roch.
Eine Weile spazierten sie über die vereisten Sanddünen am gewaltigen Fluss entlang. Erfrorenes, trockenes Schilf raschelte rau. Der schluchzende Nordwind brachte mehlartigen, frischen Schnee mit. Der Mann blieb stehen, um auf die Stille zu lauschen.
»Sollten auf einmal gelbäugige Wölfe auftauchen, müssen wir ihnen zuhören und sagen, es geht uns gut, Brüder.«
Eine kleine Stelle am Ufer war eisfrei, dort schwammen Eisbrocken in den Strudeln. Etwas weiter weg hielten ein Boot und eine Rindenhütte, die der Erde in den Schoß gesunken war, unter dem Schnee ihren Winterschlaf. Als Fortsetzung einer Reihe wintertoter Ebereschen kauerten zwei Auerhähne am Boden, am Himmel flogen ein paar Krähen ihre Bögen und kündigten Schneefall an. Nördlich der Vögel tat sich ein merkwürdiges schwärzliches Gelände auf. Dort wollte der Mann hin, mitten auf die gewellten, von den Frühfrühjahrsnebeln zerfressenen Schneefelder. Der Wind pfiff über die Fläche, auf der im Sommer saftiges Gras wuchs. Wie eine glühende Kohle loderte die Sonne. Der Schnee blendete und brannte in den Augen. Unter der eisigen, messerscharfen Oberfläche war der Schnee so porig, trocken und weich, dass der Mann und die junge Frau bei jedem Schritt tief einsanken. Zuerst bis zu den Knien, dann bis zu den Oberschenkeln, dann bis zu den Lenden und schließlich bis zum Nabel. Aber der Schnee wurde wieder weniger, je näher sie dem angesteuerten Gelände kamen, bis er nur noch Lehmschlamm war, der an den Stiefeln hängen blieb.
Bald hatten sie ihr Ziel erreicht. Es war eine Asphaltfläche, und sie war warm. Der Ölkies roch genauso wie die sommerheißen Straßen in Moskau. Begeistert maß der Mann das Gelände mit Blicken ab.
»Hier ist ein Raumschiff gelandet. Die Kraterform beweist es. Solche Landeplätze gibt es in ganz Sibirien, am meisten in Kolyma. Dort gibt es zehn Stationen, wo Wissenschaftler Ufos und Systeme im äußeren Weltraum erforschen.«
Als sie sich schwitzend durch den Tiefschnee zurück zur Straße kämpften, pfiff eine IL-14 mit dröhnenden Motoren über sie hinweg. In der Ferne, am Rand eines glatten Schneefelds, hielt ein einzelnes graues Holzhaus die Stellung. Auf dem Grundstück davor war eine Rindenjurte im ostjakischen Stil aufgebaut. Dort wollte die junge Frau hin.
»Die Ostjaken leben wie die wilden Tiere, sie leben schlecht, und alles bei ihnen ist mangelhaft«, warnte sie der Mann. »Erbärmliches Volk, hinterhältige Lügner. Jeder Kerl heißt bei denen Iwan.«
Auf einem schmalen Pfad betraten sie das von Schneewehen eingefasste Grundstück. Schwanzwedelnd rannten ihnen die Hunde entgegen. Vor der Veranda war der Schnee platt getrampelt worden, dort konnte man stehen, ohne einzusinken. Das Hausdach war zusammengesackt, der Schornstein halb eingefallen. Sie standen in der frischen Luft, als würden sie darauf warten, dass die Hausbewohner herauskämen, bis die junge Frau die morsche Treppe hinaufstieg und anklopfte. Nichts geschah. Sie drückte die Klinke, die Tür war offen. Der Mann wollte gerade zum Wagen zurückgehen, da erschien eine furchtlose ostjakische Frau mit schönen Gesichtszügen und gestikulierte.
»Die ist taub«, sagte der Mann überdrüssig.
Die junge Frau deutete auf die kunstvoll gebaute Rindenjurte und dann auf ihre Augen, worauf die Ostjakin lautlos auflachte und nickte. Sie zog große Gummistiefel an und kam heraus, um die junge Frau schüchtern lächelnd zur Jurte zu führen. Der Wind fegte über den bereiften Erdboden in der Unterkunft. Durch die Tür drang das verdichtete Frühjahrslicht. Die Jurte diente als Schuppen für die Fischerausrüstung: angefaulte Fischnetzhölzer, aus Bast geflochtene Reusen, dazu ein kleiner verrosteter Separator und eine gehobelte Birkenholzkiste ohne Deckel, in der schimmliges Getreide aufbewahrt wurde.
Als die junge Frau wieder ins Freie trat, lenkte der Mann das Auto vor die Jurte.
»Schmutziges Pack. Einen halben Meter große Pfoten und ein formloser Körper von einem Meter«, schnaubte der Mann, während er wendete und zur Straße zurückfuhr. »Auch die Hure da ist in ihrem Element, wenn sie einen Hasen anbellt. Die sollte man alle, ohne Foltermethoden zu scheuen, mit Gewalt zu normalen Russen machen. Dafür braucht man aber die Hand eines eisernen Vaters!«
Für eine Weile hielt Stille das Auto umklammert.
Am Nachmittag, als die Sonne wie ein Diskus über den Dächern der höheren Plattenbauten hing, erreichten sie das gottverlassene Tomsk. Der Mann kurvte die ungeräumten, von Lkw-Reifen zerpflügten Straßen auf und ab. Purpurfarben verzog sich die Sonne weit in den Westen, eine Zeit lang hielt sich noch schamhaftes rosiges Abendrot, bevor sandhaltiger, gelber Schnee zu fallen begann. Der Nordwind peitschte seitlich den Pobeda. Vor einer Bierhalle in der Vorstadt hielt der Mann an und stieg aus, ließ aber den Motor laufen.
Die junge Frau streckte die Beine auf der Rückbank aus. Müde und ungleichmäßig tuckerte der Motor, ab und zu wimmerte er kurz auf und ruckelte, als hätte er einen Herzanfall bekommen. Die Karosserie erbebte, die Federung knarrte. Abgase drangen ins Wageninnere, und die junge Frau hustete. Sie stellte den Motor ab. Wenig später war es so kalt, dass sie aussteigen musste.
Die Tür der Bierhalle gab keine Ruhe. Ununterbrochen gingen Filzstiefel mit festen Sohlen ein und aus.
Als der Mann in der Nacht zurück in den Wagen kam, roch er nach Hefe.
»Ich habe mich mit einem jungen Kerl festgequatscht. Ein Samojede aus dem Kreis Taimyr, eine echte Kneipenseele.«
Der Wind hatte gedreht, er kam jetzt aus dem Süden, und sein Hauch war frühlingshaft. Schneeklumpen plumpsten von den Hausdächern auf die geräumten Gehwege. Mit einer Wodkaflasche im Schoß schlief der Mann auf dem Beifahrersitz ein. Die junge Frau drehte den Zündschlüssel. Der Motor brüllte wütend auf und erlosch. Sie ahmte den Mann nach, beschwor den Motor lange mit zärtlichen Worten und drehte den Schlüssel. Wieder schrie der Motor bemitleidenswert, ging diesmal aber nicht aus. Die junge Frau ließ ihn eine Weile laufen und lobte ihn ausführlich, bevor sie mehr Gas gab und das Fahrzeug ins Rollen brachte.
Sie fuhr auf sowjetische Art mit Standlicht durch die vom Morgenschein zerschnittene Stadt Tomsk. An einer kleinen Brücke hing ein leerer roter Lada Kombi. Die Fahrertür klaffte obszön offen, die Rücklichter funkelten den Himmel an. Die letzten Sterne der Nacht irrten um die aufgehende Sonne herum, und die im Wind rappelnden Lampen gingen eine nach der anderen aus. Die junge Frau betrachtete die rosa Wohnblocks, ihre schmalen, schiefen Belüftungsfenster, an denen der Südwind rüttelte.
Das Auto hüpfte kreuz und quer durch die schmalen Straßen von Tomsk. An den Kreuzungen hielt die junge Frau an und schaute in die Straßenspiegel, in denen die friedliche Stadtlandschaft gebrochen und verzerrt erschien. Der Mann döste, nickte ein, wachte auf, trank Wodka und wurde schließlich munter. Die junge Frau suchte ein Hotel, fand aber keines. Schließlich stoppte sie an einer Bushaltestelle, wo mürrische Sowjetbürger schweigend in einer Schlange standen. Der Mann stieg aus und ging schwankend zu ihnen.
»Zuerst fährst du links, mein kleines Fräulein, dann kultiviert geradeaus und schließlich in einem Bogen hinter ein fensterloses, unterm Staub begrabenes Industriekombinat«, sagte er, als er wieder im Auto saß.
Die Industriegebäude, Fertigungshallen und Magazine des Kombinats gingen halb im Schnee unter, nur die werkseigenen verzweigten Gleise glänzten. Hinter dem Kombinat stand ein ausgelaugtes, in die Erde eingesacktes kleines Holzhaus. Das Hoflicht hing an einem Kabel herab und war kaputt.
»Da ist es, unser Hotel. Fahr langsam. Die Alte, die da wohnt, quartiert auch Landstreicher ein.«
Nachlässig untergehakt, spazierten sie zur Eingangstreppe. Die Trübheit des kalten Morgens hüllte die Hütte ein. An der Tür hingen fünf gebrochene Haken, eine Klinke gab es nicht. Mit den Fingerspitzen fuhr die junge Frau in den Spalt und zog die Tür auf. Im dunklen Flur wurden sie von einem surrenden Stromzähler und einer Balalaika von der Größe eines Kleiderschranks empfangen.
Das spezielle Hotel wurde von einer vertrockneten Oma betrieben, die drei Strickjacken und zwei dicke, lange, grellbunte Röcke trug. Aus der Warze auf ihrer Wange spross eine Ähre. Die Alte wohnte mit ihren drei erwachsenen Söhnen, die allesamt Arbeiter waren, in der Küche, die beiden übrigen Räume vermietete sie an Reisende, wie sie sagte.
»Ich müsste ein bisschen schlafen, mein Mütterchen«, sagte der Mann. Seine Stimme hatte inzwischen jeglichen Mumm eingebüßt.
»Was denn! Schlafen kann man noch im Grab. Zuerst einen Tee und dann vielleicht ausruhen.«
Auf dem klebrigen Holzboden in der Küche lag ein Stück abgetretener Kunststoffbelag. Die Bretter quietschten und knarrten. Über die ungeraden Wände liefen schwarze Stromkabel wie Blutegel. Das Farbfoto von Stalin in der Ikonenecke hing schief, darunter hatte man eine alte Ikone des heiligen Nikolaus aufgehängt. In der türlosen Speisekammer bogen sich die Regalbretter unter Trockennahrung und Einweckgläsern. Der Fensterzwischenraum war mit Lebensmitteln vollgestopft, die kühl aufbewahrt werden mussten. In der dunkelsten Ecke der Küche zischelte es in einem großen Zuber aus Emaille. Darin garte eine Sauerkrautmischung mit Preiselbeeren. Vor dem Fenster schlummerte offenbar ein Pflanzbeet, denn dort hatte man Asche auf den schützenden Schneehaufen geworfen.
Die Alte bot ihnen Kohlsuppe, Buchweizengrütze, Tee, Marmelade und Kohlpiroggen an. Sie besaß ein schönes, zierliches Teeservice. Die großformatigen Löffel polierte sie, indem sie auf jeden spuckte und ihn dann mit der geblümten Schürze blank rieb. Die junge Frau versank in Gedanken, der Mann wischte sich den aufkommenden Katerschweiß von der Stirn. Dann knallte seine Stirn auf die Tischplatte, und er fing an zu schnarchen. Die Alte servierte mit starkem Kümmel gewürzten Kohlauflauf und goss der jungen Frau eine zweite Tasse von dem schalen Tee, der seinen Charakter verloren hatte, ein.
»Als ich ein kleines Mädchen war, verkaufte mich mein Vater für eine Flasche Wodka an einen runzligen russischen Kerl. Der schleifte mich in dieses Haus hier, wo er wohnte, und was hab ich geweint. Sobald er dazu fähig war, schwängerte er mich, aber zum Glück starb er, bevor der Junge auf die Welt kam. Dadurch fiel das Haus an seine blinde Schwester, an mich und den Jungen. Zu dritt lebten wir sehr gut zusammen. Dann starb die Blinde, und ich blieb mit dem Jungen allein, bis eines schnakenreichen Frühlingstages ein Samojede durch die Tür trat. Er hatte sein voriges Weib so lange geschlagen, bis sie wahnsinnig wurde, und nun war ich an der Reihe. Bald brachte ich meinen zweiten Sohn zur Welt. Eine Weile lebten wir gut, aber nur eine kleine Weile.«
Sie stand auf, lief flink zum Schrank, holte eine halb volle Wodkaflasche heraus und goss sich einen Schluck in ihr Teeglas.
»Er war ein großer Jäger, vertrank aber sein ganzes Geld. Ich lebte mit meinen Söhnen am Rand des Hungertodes. Einmal, an Ostern, ging er was erledigen und kam nicht wieder. Sein jüngerer Bruder brachte mir die Todesnachricht: Er hatte sich im Suff geprügelt und ein Messer in den Bauch bekommen. Der Bruder blieb und wohnte hier. War ein guter Mann. Ich brachte drei Mädchen zur Welt, aber die starben alle. Dann fiel der Bruder da drüben an der Hausecke in den Brunnen und ertrank. Ich ging in die Fabrik putzen, und allmählich kam das Leben in glücklichere Bahnen. Als altes Weib brachte ich noch einen Jungen zur Welt. Der ist gerade mit seinen Brüdern am Fluss.«
Hinter dem Speiseschrank hörte man leise das Rascheln einer Maus.
»Ich bin zufrieden, dass ich in meinem eigenen Haus wohnen darf, auch wenn ich mein Leben lang dieses russische Kaff gehasst habe.«
Die Alte stand auf, nahm Zwieback aus dem Schrank und drapierte ihn schön auf einem mit Blumen verzierten Teller vor der jungen Frau.
»Ich sehne mich nur nach der Tundra.«
Als der Mann aufwachte, schnaubte er:
»Die Alte redet Unsinn wie Puschkin persönlich.«
Das Zimmer der jungen Frau war klein, dunkel und melancholisch. Es hatte sich darin der Gestank uralter Bettwäsche dauerhaft einquartiert. Auf der schimmelfleckigen Tapete hing ein kratziger alter Gobelin. Ein großer, heiß glühender Ofen machte sich im Raum breit, trotzdem waren die Ecken der Außenwand dick bereift, und am äußeren Rand des Fußbodens glänzte blankes Eis.
Die junge Frau lag zwischen sauberen, gestärkten Laken auf der Strohmatratze, die glatte Kühle der Wäsche beruhigte sie. Hinter der Tapete nagte und raschelte eine Maus, die junge Frau schlief ein.
Sie erwachte vom Seufzen einer Katze, die neben ihrem Kopfkissen aufgetaucht war und sie unverwandt anstarrte. Sie streichelte das glänzende Fell des greisen Tiers, lauschte auf das Knacken des Frosts in den Ecken, auf das Scheppern des Samowars und auf die dumpfen Schritte der alten Frau. Eine Weile sah sie dem reglos im Gegenlicht schwebenden Staub zu, dann sprang sie plötzlich erschrocken aus dem Bett und spähte durchs Fenster in den schmächtigen Morgen. Sie musste vierundzwanzig Stunden geschlafen haben.
Sie nahm die Katze auf den Arm. Das Tier öffnete den Mund zum Miauen, brachte aber keinen Ton heraus. In dem Moment empfand die junge Frau enorme Sehnsucht.
Im dritten Studienjahr hatte sie im Musikladen Melodija Mitka kennengelernt, einen zerbrechlichen Menschen mit schlechter Haltung und Brille, dem ein kleiner Ziegenbart am Kinn wuchs. Er hatte pechschwarze, kurze Haare und Augen, die blinzelten, als würde sie das Licht irgendwie ganz besonders anstrengen. Sie waren in eine Saftbar gegangen, hatten sich stundenlang unterhalten und sich verabredet. Mitka mochte ihre eisblauen Augen und das gedankenlose Lachen. Einige Wochen später lud er sie zu sich nach Hause ein. Von seinem Zimmer aus blickte man auf einen kleinen Park, und von dort aus bestaunte sie die mal in rauchigen Nebel, mal in milchigen Dunst gehüllte Stadt und ihren rosa Winterhimmel. Mitka sagte, er sei gerade siebzehn geworden. Er besaß ein breites, altes Eisenbett mit einer harten Federkernmatratze, einem gestreiften Leinenlaken und einem weißen Bettbezug, dessen beinerne Knöpfe klickten, wenn sie sich berührten. Sie war über Nacht geblieben. Danach hatte es weitere Nächte gegeben, weitere Tage, die sich glichen, erfüllte Tage voller Licht und Schatten.
Die Alte hatte den Tisch mit einer Schüssel Buchweizengrütze und einer Terrine mit dampfendem, fettigem Borschtsch gedeckt und dem Mann ein Glas Sauerrahm und eine prächtige Wodkaflasche hingestellt. Die junge Frau trank Tee, die Alte Chai, der Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn, kippte sich den Sauerrahm in den Mund, rülpste zufrieden und goss Wodka in ein zweites Glas.
»Trinken wir auf die Frauen dieser Welt! Auf die Weisheit der Alten, auf den Verstand des Herzens und auf die Schönheit der Jugend! Auf Ihre Freundlichkeit, mein altes Mütterchen, und auf den silbernen Gründling!«
Nachdem er getrunken hatte, biss er von der Scheibe Schwarzbrot ab, die er mit Senf bestrichen und mit Pfeffer und Salz bestreut hatte. Er füllte erneut sein Wodkaglas und stand kurz auf.
»Manch ein Volksgenosse, der seiner Zeit vorausgeeilt war, hat an einem schrecklichen Ort darauf warten müssen, darum lasst uns nicht hektisch werden, sondern gemeinsam die Wärme und diese Stunde genießen!«
Als es Zeit war zu gehen, zog der Mann eine zierliche chinesische Taschenlampe und einen Fünfundzwanzig-Rubel-Schein aus der Tasche und gab beides der Alten. Sie nickte zufrieden mit dem Kopf und folgte ihnen zur Haustür. Der Mann und die junge Frau traten aus der brütend heißen Küche in die frische Kälte des Morgens, die ihnen wie eine Gerte ins Gesicht schlug.
Mit seinen schweren Händen drehte der Mann das unwillige Steuer des Pobeda. Auf einer kurzen Geraden prallte er mit dem Kopf aufs Lenkrad. Die junge Frau schlug vor, selbst weiterzufahren.
Nach und nach wurden die bäuchlings daliegenden, Furche für Furche beschneiten Felder zum Balken für Balken gezimmerten Dorf, das Dorf dann zur matschigen Vorstadt, wo Blockhäuser und Plattenbauten nebeneinanderstanden. Die Gärten und Pflanzbeete der Holzhäuser erstreckten sich in der einen Richtung bis zur Stadt, in der anderen bis zu den Feldern und Wäldern ringsum. Dann wurde die Vorstadt zur Straße für Straße angelegten schlammigen Stadt.
Vor den Fenstern der Wohnblocks hatten die Leute Weißfische zum Trocknen aufgehängt, graue Tauben trippelten auf den Fensterbrettern. Sie waren bereits aus dem Winterurlaub nach Nowosibirsk zurückgekehrt.
Der Mann schluckte an seinem alten Kater, den die paar Gläser Wodka nicht in frische Betrunkenheit verwandelt hatten. Er schlotterte am ganzen Leib, sein Adamsapfel zuckte.
»Wenn ich einen Schluck Brühe aus dem Gurkenglas trinken könnte, wäre alles gut. Dann würde sich mein Herz beruhigen.«
Sein Gesicht war rot und sein Blick so schwer, dass die junge Frau es nicht ertrug und sich abwandte.
Der Mann bat sie, an der Ecke anzuhalten, wo ein blauer Tankwagen stand.
»Ich fühle mich so grausig, dass ich kurz aussteigen muss.«
Er sprang energisch aus dem Auto, nahm den leeren Zehn-Liter-Kanister aus dem Kofferraum und füllte ihn am Tankwagen auf, auf dessen Behälter in schönen schwarzen Buchstaben das Wort »Kwas« gemalt war. Als der Mann mit dem Kanister wieder einstieg, summte er vor sich hin.
»Ich hab Zahnweh.«
Mit zuversichtlicher Miene trank er direkt aus dem Kanister. Der süßliche Kwas-Geruch machte sich überall breit.
»Jetzt nicht mehr.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem Gagarinlächeln.
»Als ich mich in Katinka verliebte, besaß ich keine einzige Kopeke. Monatelang war ich blank, aber trotzdem schmeckte mir das Leben, und ich hatte genug Essen, Fotzen und Wodka. Dann stieß ich an der Tür vom Brotladen auf Katinka, und so besoffen, wie ich war, lud ich sie zu mir ein. Damit fingen die Probleme an. Da kriegt ein Kerl Besuch von einer Frau oder zumindest von einer Art Hure und hat nicht mal Geld für Kringel, Tee und Sekt. Also krempelte ich wie ein richtiger Hund die Ärmel hoch und legte los. Als Erstes fragte ich Kolja, meinen Zimmernachbarn, ob er mir fünf Rubel leiht. Ich hab nur drei, und die brauch ich selber, schmetterte er mich eiskalt ab. Dann platzte ich bei Wowka im Eckzimmer hinein, ob er ein oder zwei Rubel hätte, aber der Schluckspecht saß vollkommen auf dem Trockenen. Ich ging einen Stock tiefer, wo Sergej wohnte, und bat ihn um einen Fünfer. Du kriegst einen Rubel, sagte er. So ging ich von Tür zu Tür. Ich klapperte sämtliche Freunde und Feinde ab, und in der Woche darauf hatte ich sechsundzwanzig Rubel und drei Kopeken in der Kasse. Das ging mir in Mark und Schwanz. Schließlich kam Katinka hereingeschlüpft. Ich bot ihr Sekt an und trank selbst die eine oder andere Flasche Wodka. Alles war also in bester Ordnung. Als die Schlafenszeit näher rückte, spielte ich den demütigen, bescheidenen Mann. Ich nahm das Feldbett aus dem Schrank und richtete mir darauf mein Lager her, meine Koje trat ich an Katinka ab.
Aber wie es dann so kommt. Sobald ich mich ausgestreckt hatte, nichts als die Vorstellung einer Fotze im Kopf, packte mich Katinka so fest am Schwanz, dass mein Feldbett einkrachte. Sie klebte mir ihre schweißige Möse auf den Schlauch, und ich ließ die Zügel schießen. Als ich fast fertig war, krächzte sie, wir heiraten. Und ich im Fotzenrausch sag einfach, was soll’s, warum nicht.
Der Mann wischte sich mit dem Zeigefinger über die geschwollenen Lippen.
»Ganz so war es nicht. Aber es hätte so sein können.«
Sie fanden den krummnasigen Besitzer des Pobeda in einem Telefonnummernkiosk, der zwischen zwei Genossenschaftskiosken eingeklemmt war. Der Alte trug eine zerschlissene, mit Watte gefüllte Steppjacke und hatte so lange Arme, dass sie bis zu den Knien reichten. Nachdem er eine Weile mit seiner Krummnase gezuckt hatte, lud der Mann sie zum Essen ein.
Schlotternd vor Kälte gingen sie zur nächsten öffentlichen Kantine. An deren Tür hing schlaff ein Schild: »Diese Einrichtung ist geschlossen«. Sie traten ein.
Aus der fabrikartigen Küche drang fettiger Gestank. Der Speisesaal war weitläufig und hoch, und die funktionellen Möbel hatte man so platziert, dass es praktisch war. Vor den Fenstern standen lange Tische mit schmalen Bänken. Die junge Frau und die beiden Männer stellten sich an die Schlange an, die sich vor der Essensausgabe gebildet hatte. An prominenter Stelle hing schief eine gute gemalte Kopie von Repins Gemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief. Jemand hatte mit Bleistift einen Pfeil gezeichnet, der auf den Brief wies, und dazugeschrieben: »An Stalin.« An der hinteren Wand ratterte ein Ventilator, darunter stand ein mit geblümtem Wachstuch bezogener Sofakadaver.
Die junge Frau wählte aus der Vitrine dicken Tomatensaft, gezwiebelten Hering und an der Theke Schwarzbrot dazu. Aus einem großen Topf schöpfte sie sich lauwarme Bauernsuppe, die scharfe Knochensplitter enthielt, in einen tiefen Teller und trug alles auf einem schmierigen Tablett zum Tisch, setzte sich und kostete den Hering. Der war allerdings so kräftig gesalzen, dass sie ihn stehen ließ. Der Mann schlürfte seine Suppe demonstrativ laut, der Krummnasige aß seine Buchweizengrütze und die Rote Bete unauffällig. Als sie gegessen hatten, kratzte sich der Krummnasige unschlüssig die Glatze.
»Der Generalsekretär des Bezirksgewerkschaftsrats pflegte in solchen Situationen zu sagen, wenn der Zigeuner vom Kompott träumt, hat er keinen Löffel, geht er aber mit einem Löffel ins Bett, ist das Kompott weg.«
Der Mann seufzte überdrüssig vor sich hin.
»Er will nur sagen, dass einem historisch gesehen auf jeden Fall das Glück blüht.«
Anschließend spuckte er faul auf den Boden.
»Die Frauen nichts als Schlangen, die Finnen Russen, die Russen Juden und die Juden …«
Der Mann biss verächtlich die Lippen zusammen, stand auf und verließ mit leicht ferderndem Schritt gelassen die Kantine.
»Das ist das größte aller Großmäuler, ein vollblütiger Schlachter«, stieß der Krummnasige ängstlich aus und seufzte anschließend lang und resigniert. »Hätte ich das gewusst, hätte ich ihm das Auto nicht gegeben.«
Die junge Frau gab dem Krummnasigen den üblichen Fünfundzwanzig-Rubel-Schein, er nickte zum Dank und ließ den Schein dann schnell in der Tasche seiner Steppjacke verschwinden, worauf die junge Frau aufstand und ihrem Reisegefährten hinterhereilte.
Die CCCP-Lichtreklame auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes an der Hauptstraße schlitzte die dunkle Nacht auf. Erschöpft und trübsinnig schleppten sich der Mann und die junge Frau zum Zug. Erst als sie die Pfiffe der Lokomotiven hörte und das Bahnhofsgelände sah, wo alte Loks wie für immer und ewig tot herumlagen, wurde ihr leichter zumute. Der Anblick des vertrauten Zuges, der Schnauzen der vertrauten kalbsgroßen, zottig-räudigen Hunde brachte auch den Mann zum Grinsen. Sie blieben auf dem Bahnsteig stehen und lauschten, wie die kaiserliche Lokomotive zufrieden auf ihrem Gleis vor sich hin schnaufte. Nachdem sie das Abteil betreten hatten, fing der Mann an zu singen und zu pfeifen: »Oh, Russland! Vergiss deinen alten Ruf, die Fetzen deiner Fahne … äh, wie ging das noch? Egal!«
Er musterte die junge Frau mit einem breiten, spöttischen Grinsen.
»Denkst du noch an den von vorhin? Das war ein skrupelloser jüdischer Schwätzer mit verschimmelter Lunge. Ich sitze nicht mit Juden am Tisch, weil die Juden die Jungfrau Maria umgebracht haben.«
Die Worte des Mannes brachten das Herz der jungen Frau zum Pochen. Sie zählte innerlich: eins, drei, neun, zwölf … Sie zählte so lange, bis sie sich beruhigte. Die Lokomotive heulte zwei Mal, dann ruckte der Zug an. Aus den Plastiklautsprechern brach lautstark Schostakowitschs siebte Sinfonie, und zurück bleibt Nowosibirsk, der Baustellenlärm der Wohnsiedlung, der Gestank von verrottendem Metall, der durch das offene Fenster dringt. Zurück bleibt der blasse Duft weißer Nelken, das robuste Aroma des Knoblauchs und der durch Zwangsarbeit erzeugte Schweißgeruch. Zurück bleibt Nowosibirsk mit Installateuren und Bergleuten, die Industriestadt vergangener Träume, bewacht von rußigen, modernen, vom Wetter zerhäckselten Vorstädten, von Tausenden elenden Plattenbaukadavern. Zurück bleiben die Lichter von blinden, bei vierzig Grad minus schwitzenden Fabriken und die jammernden Fabriktore, die Zentralkaufhäuser, die Aase gefolterter Katzen an den Hotelecken, Filzpantoffeln und braune Wollhosen, die Läden der Konsumgenossenschaften, das müde Land, Nowosibirsk. Und da geht das Industriegebiet in Plattenbausiedlungen über, zerfressen von der Luftverschmutzung. Licht, helles Licht, und die Siedlung verwandelt sich, Licht und Halbdunkel, und ein Güterzug braust aus der Gegenrichtung heran, lang wie die Nacht dessen, der nicht schlafen kann, und Licht, das helle Licht des sibirischen Himmels, und Siedlungen, Vorstädte, Plattenbauten, es hört gar nicht auf. Das ist noch Nowosibirsk: ein Lastwagen auf einem schlecht befestigten Weg, Pferd und Heuwagen, die Taiga Sibiriens, über der roter Dunst liegt. Wild huscht der Wald vorüber, ein einsames, neunzehnstöckiges Haus inmitten zerfleischter Felder unter Schneewehen. Lawinenartiger Wald, das ist nicht mehr Nowosibirsk: Hügel, Tal, Gebüsch. Der Zug rast der unbekannten Tundra entgegen, und Nowosibirsk fällt in der Ferne zu einem Steinhaufen zusammen. Der Zug taucht in die Natur ein, stampft durch verschneites, menschenleeres Land.