Siebtes Kapitel

Als Musa hörte, daß der Domherr die Chronik verbrannt hatte, machte er dem Freund milde Vorwürfe. Er stellte ihm vor, die von den Chronisten aufgezeichnete Weltgeschichte sei das Gedächtnis der Menschheit. Die großen Alten hätten eine Göttin der Geschichtsschreibung verehrt, und Juden, Christen, Moslems nähmen zu Recht an, Gott habe Wohlgefallen an dem Werk der Chronisten.

»Mein Werk war Gott nicht wohlgefällig«, antwortete grimmig der Domherr. »Mir ist die Gabe versagt, den Finger Gottes in den Geschehnissen wahrzunehmen. Ich habe die Ereignisse nicht verstanden; alles, was ich aufzeichnete, war falsch. Ich durfte mein Werk nicht fortsetzen, ich durfte es nicht bestehen lassen. Selber blind, durfte ich die Blinden nicht irreführen. Du hast es leicht, mein Musa«, fuhr er trüb und bitter fort. »Du hast deine Richtlinien, du hast noch nicht eingesehen, daß sie falsch sind, du darfst ruhig weiterschreiben.« Musa versuchte, ihn zu trösten: »Auch du wirst neue Prinzipien finden, mein sehr würdiger und verehrter Freund, welche dir auf einige Jahre richtig scheinen.«

Der alte Gelehrte war jetzt den ganzen Tag unterwegs. Hunger und Seuche herrschten in der belagerten Stadt, immer mehr Kranke verlangten nach seiner Kunst und seiner Kur.

Er selber freilich war sich der Grenzen seiner Kunst bewußt. Die moslemische Heilkunde, setzte er dem Domherrn auseinander, habe seit langer Zeit nichts zugelernt. Seitdem der unduldsame Alghazali alles Wissen, das nicht aus dem Koran stamme, für Ketzerei erklärt habe, sei auch die ärztliche Wissenschaft der Moslems im Abstieg, und die Führung in der Medizin sei nun endgültig auf die Juden übergegangen. »Der Sultan hat recht«, erklärte er, »daß er sich den Juden Mose Ben Maimon als Leibarzt verschrieb. Wir Moslems haben niemand, der sich ihm vergleichen könnte. Unsere Kultur hat eben ihre Blüte hinter sich. Im übrigen«, schloß er, »sind aller ärztlichen Kunst von der Natur Grenzen gesetzt, und viel vermag auch der beste Meister nicht. Es ist, wie Hippokrates gelehrt hat: die Medizin tröstet häufig, lindert manchmal, heilt selten.«

Dem Erzbischof Don Martín jedenfalls vermochte kein Arzt zu helfen; seine Verwundung war tödlich. Alle wußten es, er selber wußte es. Doch inmitten des großen Sterbens ringsum hielt er zäh am Leben fest. Versuchte weiterzuarbeiten. Verlangte, daß Don Rodrigue ihn täglich besuche, um ihn über die Geschäfte zu unterrichten.

Es geschah jedoch aus einem tiefern Grund, daß der Erzbischof die Gesellschaft Don Rodrigues so dringlich begehrte. Er wollte sich in der Zeit, die ihm noch vergönnt war, zur Buße seiner Sünden recht oft und heiß über seinen allzu milden Sekretär ärgern. Da lag er, roch an einer Zitrone, stöhnte und forderte den andern heraus. Gab etwa seiner Genugtuung Ausdruck über das verdiente böse Ende des Juden Ibn Esra und seiner Tochter. Wie er’s erwartete, verwies ihm der Domherr die unchristliche Freude, und er seinesteils konnte, daran anknüpfend, dem Rodrigue vorhalten, daß dessen übergroße Barmherzigkeit schlecht angebracht sei im Heiligen Krieg.

Ein andermal wieder sprach er vor sich hin jenen wilden Satz aus dem Kriegslied des Mose: »Dominus vir pugnator – Der Herr ist ein rechter Kriegsmann«, und bat mit freundlicher Tücke: »Sag mir doch den hebräischen Text, mein lieber und gelehrter Bruder.« Und da der andere diesen Text nicht auswendig wußte, tadelte er ihn sanft: »Solche Verse, mein mildherziger Freund, sind dir natürlich nicht gegenwärtig. Aber ist er nicht herrlich, der Vers, auch auf lateinisch?« Und: »Dominus vir pugnator«, sagte er vor sich hin, mehrmals, genießerisch, wartend auf eine Entgegnung des Domherrn. Der aber hatte nicht das Herz, dem todnahen, streitbaren Freund Friedensverse der Schrift entgegenzuhalten. Er schwieg.

Don Martíns schwerste Sorge war, wen ihm wohl der König zum Nachfolger geben werde. Der Erzbischof von Toledo nämlich, der Primas von Hispanien, war nächst dem König der mächtigste Mann in Kastilien; seine Einkünfte waren größer als die des Königs, sein Einfluß ungemessen. Ständig also setzte Don Martín dem König zu, den rechten Mann zu wählen. »Höre auf die Worte eines Sterbenden, mein Sohn«, beschwor er ihn. »Unser lieber Don Rodrigue ist weise und fromm, fast ein Heiliger, und du kannst keinen bessern Ratgeber finden in deinen Geschäften mit Gott. Aber für die Geschäfte dieser Welt, für die Geschäfte des Krieges, ist er nicht der rechte Mann, und als Erzbischof von Toledo würde er dir für dein Heer kein Geld geben oder doch zuwenig. Setze du mir also, mein lieber Sohn und König, ich bitte dich, auf den Stuhl des heiligen Ildefonso keinen Waschlappen, sondern einen rechten christlichen Ritter, wie ich selber einer war in aller Bescheidenheit und mit all meinen Fehlern.«

Noch am gleichen Tage bereute Don Martín, daß er dem Domherrn in den Rücken gefallen war. Er schickte nach ihm. Bekannte. Klagte: »Oh, warum hat mich Gott zum Priester gemacht und nicht zum Feldhauptmann!« Don Rodrigue hatte Mühe, ihn zu trösten.

Eine grimmige, unverhoffte Freude wurde dem Sterbenden noch zuteil. Auf mancherlei Umwegen, behindert durch die überall streifenden Moslems, traf, um viele Wochen verspätet, ein Bote ein mit einem Schreiben des Papstes. Der Heilige Vater erteilte dem König schärfsten Befehl, endlich seinen jüdischen Escrivano, den unheilvollen Ibn Esra, zu entlassen. Wie solle Don Alfonso seinen Heiligen Krieg zum guten Ende führen, wenn er einen Ungläubigen zum wichtigsten Ratgeber habe? »Da siehst du es, mein lieber, würdiger Bruder«, frohlockte Don Martín vor dem Domherrn. »Unsere fromm und tapfern Kastilier haben im Sinn des Statthalters Christi gehandelt, als sie den Juden züchtigten. War also mein Herz wirklich böse, daß es sich daran weidete?«

Die frohe Erregung zehrte die letzte Kraft des Erzbischofs auf. Es begann sein Todeskampf, er war lang und hart. Im Geiste war Don Martín in der Schlacht, er versuchte zu schreien: A lor, a lor! Er röchelte, er stritt und litt.

Musa meinte, das Menschlichste wäre, dem Sterbenden einen starken Betäubungstrank zu geben. »Das Leben zu verkürzen ist nicht menschlich«, wies ihn der Domherr zurück, und der Erzbischof hatte noch zwei Stunden zu leiden, ehe er starb.

In der Gegend von Tripolis waren neue Aufstände ausgebrochen, und der Kalif, um dort, an seiner afrikanischen Ostgrenze, Ordnung zu schaffen, mußte Truppen aus Hispanien abziehen. Er verzichtete auf seine Eroberungen im Norden der Halbinsel. Er zog sich mitten im Siege zurück.

Tief aufatmete Don Alfonso. Wurde von einem Tag zum andern zu dem Ritter und König, der er vorher gewesen war. Vor dem Domherrn ließ er seinem Jubel freien Lauf. Jetzt wird er die Schande von Alarcos austilgen. Wird, was er noch an Truppen hat, zusammenraffen. Wird den Feind zurückwerfen. Wird tief in den Süden vorstoßen, Córdova nehmen, und, trotz allem, Sevilla!

Der Domherr erschrak. Ihm schien, was er da hören mußte, verbrecherischer Wahnsinn. Seitdem er den König bei der Nachricht von Raquels Ermordung hatte zusammenbrechen sehen, hatte Rodrigue in all seiner Verzweiflung die leise Hoffnung gehegt, Alfonso werde sich nach so harten Schlägen das wilde Rittertum aus der Brust reißen. Ja, es war dem Domherrn eine solche Erlösung des Königs zur eigenen Sache geworden. Wenn sich Alfonso infolge seiner Strafe wandelte, dann war zuletzt doch Sinn gewesen in all dem Übel und Unheil. Und nun war die erste Prüfung da, und Alfonso versagte.

Rodrigue war nicht gewillt, dieses Versagen ohne Kampf hinzunehmen. War nicht – hielt er dem König entgegen – der ganze moslemische Süden unversehrt und in Blüte? Waren die Heere des Kalifen nicht auch jetzt den Christen an Zahl um ein Vielfaches überlegen? Wenn Kastilien, als es noch in voller Kraft stand, so schwer geschlagen worden war, wie sollte es jetzt, grausam geschwächt, erfolgreich angreifen können? »Schlage keine zweite Schlacht vor Alarcos!« warnte er. »Danke Gott in Demut für deine Rettung. Offenbar ist der Kalif zu Verhandlungen bereit. Schließ Frieden zu jeder annehmbaren Bedingung!«

In seinem Innersten hatte Alfonso von Anfang an gewußt, daß dieser Weg der einzig richtige war. Sowie indes Rodrigue das Wort Alarcos aussprach, bäumte sich der alte Stolz des Königs auf. Er soll die Flügel hängenlassen in dem guten Wind, den Gott ihm so unverhofft gesandt hatte! Er soll seine innere Stimme schweigen heißen, die ihm zurief: Greif an, greif an!

Leichthin, mit dem alten Übermut, freundlich überlegen, antwortete er: »Jetzt, mein Vater und Freund, spricht aus dir der Priester und Heilige, vor dessen Rat Don Martín mich gewarnt hat. Du mahnst mich an Alarcos. Doch dieses Mal liegen die Dinge sehr anders. Der Kalif ist im Rückzug, und es ist alte, gute Feldherrnregel, nachzustoßen, wenn der Feind im Weichen ist. Gewiß, die Moslems haben nach wie vor die Übermacht, und es erfordert Mut, sie anzugreifen. Aber willst du mir’s verwehren, mutig zu sein?!«

Vultu vivax. Rodrigue sah schmerzhaft und empört durch das Antlitz Alfonsos das Gesicht des unbändigen Bertran. »Bist du blind?« rief er Alfonso an. »Waren dir die Zeichen Gottes nicht deutlich genug? Willst du seine Langmut ein zweites Mal auf die Probe stellen?«

Alfonso, immer mit der gleichen, lächelnden Sicherheit, sagte: »Du mußt es dem König von Kastilien zugute halten, daß er die Zeichen anders deutet als du. Ich war vermessen, als ich mich vor Alarcos schlug, ich geb dir’s zu, ich habe Züchtigung verdient, und Gott hat mich gezüchtigt. Er hat die bittere Niederlage über mich verhängt, er hat mir die Reiter der Apokalypse geschickt, und das war gerechte Strafe, ich nehme sie an. Dann aber hat er mir Raquel getötet, und du willst behaupten, auch ihr Tod gehöre zur Strafe für Alarcos und für meine Kühnheit? Nein, Gott hat mich so übergrausam gestraft, gerade weil ich ihm mehr am Herzen liege als andere. Gott wollte, daß er etwas gutzumachen habe an mir. Und jetzt hat er’s gutgemacht, und darum hat der Kalif abziehen müssen, und darum werde ich siegen.«

Ein großer Zorn faßte den Rodrigue. Dieser Ritter durch und durch kniff die Augen zusammen, um in seiner Blindheit zu verharren. Aber er, Rodrigue, wird sie ihm öffnen. Er mußte jetzt hart sein; er war mitleidig, wenn er hart war. An die Wirkung denkend, die der Bericht Benjamíns auf ihn selber gemacht hatte, sagte er voll strengen Triumphes: »Der Tod Raquels gehört zu deiner Strafe. Was du so stolz bestreitest, ist die genaue Wahrheit. Raquel hat sterben müssen um deiner ritterlichen Leichtfertigkeit willen.« Und er erzählte ihm, was er von Benjamín wußte, daß Raquel und ihr Vater den Schutz der Judería nur deshalb verschmäht hatten, weil Alfonso sie geheißen hatte, in der Galiana auf ihn zu warten.

Erinnerung und Erkenntnis überstürzten Alfonso in jäher, ungeheurer Flutung. Der zürnende Priester hatte recht: es war seine Schuld. »Warum sind sie nicht in die Judería gegangen?« hatte höhnisch Leonor ihn gefragt, hatte er selber sich gefragt. Er hatte es nicht mehr gewußt, daß er Raquel jene Weisung gegeben hatte, er hatte es ganz und gar vergessen. Nun stand es vor ihm auf, scharf und klar. Zweimal hatte er ihr die Weisung gegeben, leichthin, beiläufig. Er hatte vieles und sehr Übermütiges geschwatzt in jener letzten Nacht, sie aber hatte all sein Geschwatz und Geprahle ernst genommen, auch seine beiläufige Weisung, sie hatte sie tief in sich einsinken lassen. Und daran war sie gestorben. Er aber hatte ihr nicht einmal Lebwohl gesagt, er war fortgeritten, ausgefüllt von seinem frivolen Heldentum, er hatte sie vergessen und war in seine dumme Schlacht gerannt. Und darüber waren seine Calatrava-Ritter untergegangen, und ihr Bruder Alazar war gefallen, und sein halbes Reich war verlorengegangen, und sie selber und ihr Vater waren umgekommen.

Und nun hatte er sich bereitet, eine neue, dumme Schlacht zu schlagen!

Er starrte töricht ins Leere. Aber er sah. Sah jenes Gesicht, das vor ihm aufgestiegen war bei dem vernachlässigten Grab in der Galiana, das stumme, beredte Gesicht Raquels.

Seine Versunkenheit wurde zerrissen von der Stimme Rodrigues. »Überhebe dich nicht länger, Don Alfonso«, sagte er. »Mach dir nicht vor, daß du Gott näher am Herzen lägest als die andern. Nicht deinethalben hat Gott den Rückzug des Kalifen bewirkt. Du bist nur ein Instrument, dessen Er sich bedient. Halte dich nicht für die Mitte der Welt, Don Alfonso. Du bist nicht Kastilien. Du bist einer von den tausend mal tausend Bewohnern Kastiliens. Lerne Demut.«

Alfonso schaute vor sich hin, abwesend, aber er hörte. Er sagte: »Ich will deine Worte gut bedenken, mein Freund Rodrigue. Ich will tun nach deinen Worten.« Er ließ dem Kalifen erklären, er sei willens, in Friedensverhandlungen einzutreten. Allein der Kalif war der Sieger, er stellte viele Bedingungen, bevor er Verhandlungen auch nur begann. Er verlangte unter anderm, daß Alfonso Delegierte nach Sevilla sende; alle Welt sollte wissen, daß Alfonso, der den Waffenstillstand mit Sevilla gebrochen und den Krieg heraufbeschworen hatte, nun als Besiegter zu dem Überfallenen kam, ihn um Frieden zu bitten. Alfonso widersetzte sich lang und heftig. Der Kalif bestand. Alfonso fügte sich.

Wer aber sollte als Unterhändler nach Sevilla gehen? Wer besaß die Umsicht, Schnelle, Schmiegsamkeit und List, wer die Haltung und innere Würde für das heikle und demütigende Amt? Manrique war zu alt; den Priester Rodrigue zu den Ungläubigen zu schicken ging nicht an.

Rodrigue schlug vor, Don Ephraim Bar Abba, den Vorsteher der Aljama, mit der Sendung zu betrauen.

Alfonso selber hatte das schon erwogen. Ephraim hatte sich in schwierigen Geschäften als kluger Mann bewährt; auch konnte er, der Jude, bestimmt besser als ein Grande und Ritter die Erniedrigungen auf sich nehmen, denen der Gesandte Kastiliens in Sevilla ausgesetzt sein mochte. Aber Alfonso dachte nur mit Unbehagen an Ephraim. Er hatte es all die Zeit her vermieden, mit ihm zusammenzukommen, wiewohl mancherlei Geschäfte eine Aussprache erfordert hätten. Von den dreitausend Mann, welche die Aljama ihm gestellt hatte, waren die meisten umgekommen. Werden die Juden ihm das nicht nachtragen? Und werden sie ihm den Untergang ihres Ibn Esra nicht nachtragen?

Nun Rodrigue den Ephraim vorgeschlagen hatte, sprach ihm der König von diesen Spürungen. Langsam redete er sich in Zorn, und nun ließ er seinen geheimsten Argwohn laut werden. »Alle«, grollte er, »sind sie verknüpft, diese Juden. Bestimmt hat sich Jehuda mit dem Ephraim verschworen. Ganz sicher wissen sie, wo mein Sohn ist, mein lieber Sancho. Und wenn sie ihn mir nicht in Güte herausgeben, dann werde ich sie zwingen. Schließlich bin ich der König, und die Juden sind mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will, das hat mir Jehuda selber erklärt. Ich dulde nicht, daß sie sich rächen an meinem Kinde.«

Rodrigue, bestürzt über diesen Ausbruch, drang nicht länger auf die Bestallung Don Ephraims.

Alfonso indes spürte eine wachsende Lockung, Ephraim zu sehen und mit ihm zu reden. Dabei wußte er nicht, ob er von ihm verlangen werde, daß er ihm seinen Sohn herausgebe, oder ihn bitten, sein Gesandter zu sein. Er berief ihn zu sich.

»Es ist dir bekannt, Don Ephraim«, begann er, »daß der Kalif über den Frieden verhandeln will.« Und da sich Ephraim nur schweigend verneigte, forderte er ihn sogleich heraus: »Wahrscheinlich weißt du mehr als ich und kennst bereits seine Bedingungen.«

Don Ephraim stand vor ihm, dünn, alt, gebrechlich. Es war beunruhigend, daß Don Alfonso ihn seit der Niederlage von Alarcos und der Ermordung Jehudas nicht hatte kommen lassen, und es war sehr wohl möglich, daß sich des Königs Schuldgefühl in neuen Gewalttätigkeiten gegen die Juden entlud. Ephraim mußte vorsichtig sein.

»Wir haben«, antwortete er, »Dankgottesdienste abgehalten, als der Feind von Toledo abzog, und Gott gebeten, weiteren Segen auf dein Haupt herabzuschicken.«

Don Alfonso fuhr fort, ihn zu hänseln: »Findest du es nicht ungerecht, daß der Himmel mir wieder so große Gnade zeigt? Ihr werdet ja wohl mir die Schuld zuschreiben an dem Untergang eurer Männer und an der Ermordung eures Ibn Esra.«

»Wir haben gelitten und gebetet«, antwortete Don Ephraim.

Alfonso fragte geradezu: »Was also weißt du von den Friedensbedingungen?« Ephraim erwiderte: »Genaues wissen wir so wenig wie du. Der Kalif, vermuten wir, wird alles Gebiet südlich des Guadiana behalten wollen. Sicher wird er für seinen Schatz eine reichliche Jahresabgabe verlangen und für den Emir von Sevilla eine hohe Kriegsentschädigung. Auch wird er wohl für den neuen Friedensvertrag eine sehr lange Dauer fordern.«

Alfonso, sehr finster, sagte: »Soll ich nicht doch, ehe ich dergleichen annehme, den Krieg weiterführen? Oder findet ihr solche Bedingungen angemessen?« fragte er hämisch.

Ephraim zögerte mit der Antwort. Wenn er jetzt für Vertrag und Frieden sprach, dann konnte es geschehen, daß der König seine ohnmächtige Wut an der Aljama ausließ und an ihm selber. Es lockte ihn, auszuweichen, etwas ehrerbietig Nichtssagendes zu erwidern. Das aber wird Alfonso als Zustimmung auffassen, er wartete ja nur auf die leiseste Aufmunterung, und er wird seinen sinnlosen Krieg fortsetzen. Und Gott wird kein zweites Wunder tun, Toledo wird verloren sein, und mit Toledo die Aljama. Der tote Jehuda, in ähnlichen Zweifeln und ähnlicher Beklommenheit, hatte es oft und abermals gewagt, diesem Christenkönig zum Frieden und zur Vernunft zu raten. Ein Jahrhundert lang hatten jüdische Ratgeber ihre kastilischen Könige zur Vernunft gemahnt.

»Wenn du die offene Meinung eines alten Mannes hören willst, Herr König«, sagte er schließlich mit seiner morschen Stimme, »dann rat ich dir: mach Frieden. Du hast diesen Krieg verloren. Wenn du ihn weiterführst, werden eher die Moslems an die Pyrenäen vorstoßen als du ans südliche Meer. Welche Bedingungen immer der Kalif stellt, solang er sich mit einer Grenze südlich von Toledo bescheidet, mach Frieden.«

Alfonso ging auf und ab, in den Augen jenen gefährlichen hellen Schein, die Stirne tief verfurcht. Was der Jude da sagte, war eine Frechheit. Er wird ihn greifen lassen und in sein unterstes Verlies sperren, bis ihm die Frechheit vergeht und er ihm seinen Sancho herausgibt. Und er wird, was er noch an Mann und Roß besitzt, zusammenraffen, er wird die Moslems überraschend angreifen und ihre Linien durchstoßen. Er wußte, solches Geplane war sinnlos, er mußte um den Frieden verhandeln, und zwar durch diesen Ephraim. Aber nein, nein, nun gerade nicht! Er wird es dem Rodrigue und diesem Juden zeigen, daß Don Alfonso noch lebt. Aber er war ein geschlagener Alfonso, und der Jude hatte recht, und er war kein Narr und Verbrecher, und er wird nach Sevilla schicken und um Frieden betteln. Er lief auf und ab, heftigen Schrittes, eine kurze Minute lang, eine endlose Minute lang, und wechselte dreimal den Entschluß.

Don Ephraim stand schweigend, in ehrerbietiger Haltung, furchtlosen Gesichtes, doch in seinem Innern ängstlich gespannt. Seine Augen folgten dem König, er sah, wie es in dessen Gesicht arbeitete.

Plötzlich blieb Alfonso vor ihm stehen, sehr nahe, und sagte, herausfordernd, böse: »Höre! Da du so warm für den Frieden eintrittst, würdest du als mein Unterhändler nach Sevilla gehen?«

Ephraim hatte von dem unberechenbaren Mann viel erwartet im guten oder im bösen, doch nicht dieses Angebot. Er verbarg nicht seine Überraschung, er wich, gegen allen höfischen Anstand, ein wenig zurück und hob abwehrend die alte Hand. Bevor er indes sprechen konnte, beschwor ihn Alfonso, nun unerwartet freundlich: »Bitte, sag nicht gleich nein. Setze dich und überlege!«

Sie saßen einander gegenüber. Ephraim rieb sich mit den Fingern der einen Hand die Fläche der andern. All sein Leben hindurch hat er’s vermieden, aufzufallen. Wie hat er sich bemüht, dem Jehuda vor glänzenden Ämtern abzuraten, und nun soll er selber diese Gesandtschaft übernehmen, auf die alle Augen gerichtet sind. Und was immer er erwirkt, das dumme, undankbare Toledo wird Verrat schreien, und wenn der König ihn bestätigt, dann werden ihm tausend Neider erstehen. Andernteils kann er, wenn er jetzt einen dauernden Frieden zurückbringt, dem Land und der Judenheit einen Dienst leisten wie selten einer vor ihm. Der sonst so kühle Rechner war erregt, verwirrt. Sein ganzes Wesen sträubte sich gegen diese Gesandtschaft. Das Nein zog ihn mächtig an, aber er dachte an Jehuda und hielt das Ja für seine Pflicht.

»Der Kalif liebt nicht die Juden«, gab er schließlich zu bedenken. »Er liebt auch die Christen nicht sehr«, antwortete Alfonso.

Ephraim sagte: »Die Verhandlungen werden umständlich sein, und ich bin alt und kränklich.«

Der König überwand sich und erwiderte: »Es ist nicht wegen deines Alters und nicht wegen deiner Kränklichkeit, daß du mir nein sagst. Du fürchtest, ich sei zu hartnäckig und zu stolz. Ich bin es nicht. Ich habe eingesehen, daß ein Mann, der so geschlagen wurde wie ich, nicht lange fackeln und feilschen kann. Ich werde dich nicht behindern, ich werde dir weite Vollmachten mitgeben. Ich bin bereit, eine hohe Kriegsentschädigung an den Emir von Sevilla zu zahlen und auch eine jährliche Abgabe an den Kalifen. Einen Tribut«, schloß er grimmig.

Don Ephraim, vorsichtig, unverbindlich, antwortete: »Ich glaube, dein Unterhändler könnte in diesen Fragen ein Einverständnis erzielen. Aber laß mich wissen, Herr König, wie denkst du über jenen andern, wichtigsten Punkt: die Dauer des Waffenstillstands? Ich glaube nicht, daß sich der Kalif mit einem Frieden von weniger als zwölf Jahren begnügte. Würdest du einen solchen Vertrag unterzeichnen? Und bist du willens, ihn zu halten?«

Wieder wollte Alfonso aufbrausen. Der Jude tat, als wäre er sein Beichtvater. Doch wiederum zügelte des Königs Vernunft seinen Groll. Als er damals die Worte, in octo annos, auf acht Jahre, in den Vertrag mit Sevilla hatte aufnehmen lassen, waren sie ihm von Anfang an nichts anderes gewesen als Tinte auf Pergament. Aber diese drei Worte hatten den Kalifen ins Land gerufen, sie hatten seine Calatrava-Ritter erschlagen. Don Ephraim hatte recht, ihn zu erinnern, daß, wenn er jetzt einen Frieden auf zwölf Jahre schließt, er wirklich zwölf lange Jahre wird stillhalten müssen.

»Ich sehe«, sagte er leise und bitter, »du hast dir die Interessen des Kalifen lange überlegt.« Ephraim hatte einen schlimmeren Ausbruch befürchtet; er antwortete erleichtert: »So tat wohl ein jeder, dem die öffentlichen Dinge am Herzen liegen.«

Alfonso schwieg vor sich hin, brütend. Ephraim redete ihm zu: »Ein langer Friede wird dir nützlicher sein als den Moslems. Du kannst, und wenn du’s noch so heiß wünschest, einen großen Krieg so bald nicht führen. Du brauchst Zeit, das ganze, arg verwüstete christliche Hispanien braucht Zeit, sich zu erholen.«

Alfonso sagte: »Zwölf Jahre. Du verlangst vieles, alter Mann.«

Ephraim erwiderte empfindlich, fast schroff: »Ich bitte dich, Herr König, schick mich nicht nach Sevilla.«

Alfonso sagte: »Ich gebe dir die zwölf Jahre.«

Er erhob sich, lief wieder auf und ab. »Ich wünsche«, sagte er, »daß du so bald wie möglich nach Sevilla gehst. Laß mich wissen, welche Vollmachten du brauchst, und wähle deine Begleiter.« – »Da du es befiehlst«, sagte Ephraim, »will ich an der Delegation teilnehmen, aber nur als ihr Finanzberater oder ihr Sekretär. An die Spitze der Gesandtschaft geruhe einen deiner Granden zu stellen. Wenn nicht, werden die Moslems von Anfang an verstimmt sein.« Alfonso erwiderte: »Es sollen zwei meiner Barone in der Gesandtschaft sein oder auch drei. Aber Vollmacht haben sollst nur du.« Ephraim neigte sich tief. »Ich will mit Gottes Hilfe versuchen«, sagte er, »dir einen nicht zu schlechten Frieden heimzubringen«, und er schickte sich an, Urlaub zu nehmen.

Doch Don Alfonso entließ ihn noch nicht. Er sagte, zögernd: »Da ist noch eine andere Sache, Don Ephraim, in der ich um deinen Rat bitte. Die Hinterlassenschaft meines toten Freundes und Escrivanos Don Jehuda muß sehr beträchtlich sein. Ich glaube nicht, daß es Verwandte gibt, die mit Fug darauf Anspruch machen können. Oder weißt du von solchen?« Don Ephraim, nun wieder sehr auf der Hut, entgegnete: »Da wäre in Saragossa Don Joseph Ibn Esra, ein Vetter des Don Jehuda – das Andenken des Gerechten zum Segen. Nach unserem Gesetz und Brauch hätte er Anspruch auf ein Zehntel des Erbes. Ich würde deiner Majestät raten, Don Joseph diesen Anteil zu überlassen. Er wird dir gute Dienste leisten bei dem schwierigen Geschäft, die Außenstände einzutreiben, die Don Jehuda überall in der Welt hatte.« Alfonso sagte: »Es soll geschehen, wie du vorschlägst. Ich habe auch daran gedacht, einen Teil des Nachlasses der Aljama von Toledo zur Verfügung zu stellen.« – »Du bist sehr großmütig, Herr König«, sagte Don Ephraim. »Ist dir bewußt, daß es sich um sehr hohe Summen handelt? Nächst dem Erzbischof von Toledo war Don Jehuda der reichste Mann deines Landes.«

Der König sagte, nicht ohne Befangenheit: »Was sonst an Vermögen vorhanden ist, will ich von den Beamten meines Kronschatzes verwalten lassen, bis sich der Haupterbe gefunden hat, der Sohn Doña Raquels. Es liegen übrigens«, schloß er ohne rechten Zusammenhang, »Dokumente bereit, die diesem Sohne Doña Raquels alle Rechte und Titel der Grafschaft Olmedo übertragen. Don Jehuda selber hat sie noch ausfertigen lassen.« Ephraim erwiderte trocken: »Es ist dein gutes Recht, Herr König, aus der Hinterlassenschaft Don Jehudas für deinen Kronschatz einzuziehen, was immer dir beliebt, und niemand kann dich darum tadeln.«

Alfonso, mit Anlauf, ein wenig heiser, sagte: »Mein toter Freund Jehuda war oft mit dir zusammen, und wahrscheinlich weißt du vieles. Ich will nicht in dich dringen, alter Mann, und dich fragen, wieviel du weißt. Aber der Gedanke, daß mein Sohn unter euch herumgeht und ich kenne ihn nicht, bedrückt mich. Das mußt du verstehen. Willst du mir nicht helfen?«

Er sprach bittend, er sprach zart, das schmeichelte dem Ephraim und beängstigte ihn. Es war eine gefährliche Aufgabe, die sein toter Freundfeind ihm aufgeladen hatte. Er sagte: »Niemand weiß, Herr König, und niemand kann mehr erforschen, ob Don Jehuda Ibn Esra mit dem Verschwinden seines Enkels zu tun hatte. Wenn es so war, dann hat er in einer so heikeln Angelegenheit sicherlich nicht mehr als einen Helfer zugezogen, und einen verlässigen, verschwiegenen.«

Alfonso fühlte sich erniedrigt und vereitelt. Aber, gegen seinen Willen, ließ er nicht ab und sagte: »Ich glaube dir, und ich glaube dir nicht. Ich fürchte: auch wenn ihr was wißt, werdet ihr mir’s nicht sagen. Es nagt mir an der Seele, ich gesteh es dir, daß mein Sohn unter euch groß werden soll und in euern Sitten. Ich sollte euch hassen dafür, und manchmal hab ich euch gehaßt.«

Ephraim sagte: »Nochmals frag ich dich, Herr König, willst du wirklich, daß ein Mann, über den du so denkst, deine und deines Landes Geschäfte in Sevilla führt?«

Der König sagte: »Ich hegte manchmal auch vor Don Jehuda Argwohn und habe doch gewußt, daß er mein Freund war. Du bist alt und erfahren und kennst die Menschen und verstehst, wie das ist. Ich will, daß du für mich nach Sevilla gehst. Ich weiß, ich habe keinen Besseren zu schicken.«

Ephraim spürte ein Mitleid, das nicht ohne Genugtuung war. Er sagte: »Es kommt vielleicht einmal die Zeit, da sich der oder jener melden wird und behauptet, er sei der Verschwundene. Ich rate dir, Herr König, kümmere dich nicht darum. Wahrscheinlich wird Betrug dahinterstecken. Überlaß es uns, zu erforschen, ob es so ist, und beschwere du dich zu deinen vielen andern Sorgen nicht noch mit dieser. Bescheide dich, Don Alfonso. Du hast wohlgeratene Töchter, edle Infantinnen, die einmal große Königinnen sein werden. Deine Enkel werden sitzen auf den Thronen Hispaniens und mit der Hilfe Gottes die Länder der Halbinsel vereinigen.« Und dunkel, doch der König verstand ihn, schloß er: »Don Jehuda Ibn Esra ist tot, sein Sohn und seine Tochter sind tot. Wenn wer aus seinem Geschlecht geblieben ist, dann nur dieser Enkel. Und Don Jehuda ist aus dem Islam zurückgekehrt in das Judentum seiner Väter, und das ist sein Vermächtnis.«

Don Alfonso spürte, was es bedeutete, daß er den Krieg, mit dem er nicht fertig geworden war, durch Ephraim abwickeln ließ, den Juden, den Kaufmann. Er hatte sein bedenkenloses Rittertum fahrenlassen, hatte Abschied genommen von Bertran, hatte seine Vergangenheit, seine Jugend abgetan. Er bereute es nicht, aber er spürte fast leibhaft den Verzicht, die Leere.

Auf der Straße, die er jetzt einschlug, lockten keine geheimnisvollen Nebenwege, sie führte zu keiner blauen, schimmernden Ferne, sie lief kahl und nüchtern geradeaus zu einem braven, soliden Ziel. Aber nun er sie einmal eingeschlagen hatte, war er willens, sie zu Ende zu gehen. Er wird sich selber Ketten anlegen, auf daß er den bittern Frieden, den er auf sich nahm, nicht durch süße und heldische Abenteuer gefährde.

Eine Nacht lang schlief er nicht. Wog, verwarf, wog von neuem, beschloß, verwarf.

Beschloß.

Eröffnete dem Rodrigue, mit einem ganz kleinen Lächeln, er wolle nun endlich die erledigten Bistümer von Avila, Segovia, Sigüenza neu besetzen, und zwar wolle er ihm, Rodrigue, das Bistum Sigüenza übertragen.

Rodrigue, unwillig erstaunt, fragte: »Willst du den lästigen Warner los sein?« Alfonso lächelte stärker, und es stand in seinen Zügen die abgelebte knabenhafte Anmut und Schalkheit wieder auf. »Dieses Mal«, sagte er, »mißtraust du mir zu Unrecht, mein ehrwürdiger Vater. Nicht fort will ich dich haben, ich will dich enger an mich binden. Aber wenn ich recht unterrichtet bin, erlauben es die Kirchengesetze nicht, daß ein Domherr ohne Zwischenstufe zum Erzbischof von Toledo aufsteigt.«

Stürmisch und widerspruchsvoll jagten sich dem Rodrigue die Gedanken. Ihn wollte Alfonso zum Primas von Hispanien machen! Er war gut im Rate, doch von einer solchen Erhöhung hatte der bescheidene Mann niemals geträumt; es hatte ihn höchlich gewundert, daß damals Don Martín dergleichen befürchtet hatte. Fortan also sollte er nicht nur raten und meinen: er sollte verfügen über die reichsten Einkünfte des Landes, er sollte gewichtig mitentscheiden über Krieg und Frieden. Die Vorstellung betäubte ihn. Was da auf ihn niederging, war Segen und Gnade und schwerste Last.

Alfonso sah Rodrigues bewegtes Gesicht, und halb scherzhaft, halb im Ernst sagte er: »Auf ein paar Monate freilich wirst du nach Sigüenza gehen müssen, und ich werde dich nicht sehen können. Der Heilige Vater ist ein harter Händler; so schnell krieg ich ihn nicht dazu, daß er dir das Pallium gibt. Aber ich will mir’s was kosten lassen, und am Ende werde ich es schaffen. Ich will dich zum zweiten Mann im Reich haben«, fuhr er fort mit knabenhaftem Eigensinn. »Du hast mir die hispanische Zeitrechnung abgeschafft, aber ich will dich zum Primas von Hispanien haben.«

Musa, als er von der neuen Wendung erfuhr, war bestürzt. Rodrigue wird nach Sigüenza gehen. Wie soll er, Musa, der Moslem, der von vielen angefeindete, in Toledo weiterleben ohne den Schutz des Domherrn? Er wird unstet und flüchtig sein und freundlos, nicht das erstemal. Kahl und unwirtlich lag die letzte Strecke seines Lebens vor ihm.

Allein der weise, menschenkundige Mann vergaß über der eigenen Bedrängnis nicht den Segen, den der Umschwung dem Domherrn brachte, und er fand Worte warmer Teilnahme. »Die vielerlei Geschäfte deines neuen Amtes«, sagte er, »werden dich schnell der Acedia entreißen, dem trübseligen Brüten dieser letzten Monate. Du wirst Entscheidungen treffen und Taten tun, die viele Schicksale bewegen. Und diese Arbeit«, fuhr er angeregt fort, »wird dich, hoffe ich, anspornen, auch deine Chronik wieder aufzunehmen. Ja, mein hochwürdiger Freund«, schloß er nachdenklich heiter, »wer Geschichte macht, wird bestimmt auch versucht sein, sie darzustellen.«

Nun hatte sich in der Tat, kaum hatte der König ihm das Erzbistum angeboten, im Kopfe Rodrigues eine solche Versuchung geregt. Erst hatte sich Don Alfonso belastet mit dem bedächtigen Mahner Ephraim, jetzt machte er sich aus eigenem Antrieb abhängig von ihm, Rodrigue, dem unritterlichen, friedliebenden Manne. Nur ein Alfonso, der sich von innen her gewandelt hatte, konnte sich eine solche zwiefache Rute binden. Aus dieser Erkenntnis aber war dem Rodrigue eine kleine neue Zuversicht gewachsen und ein seliges Spüren und Ahnen, daß, all seiner trüben Klügelei zum Trotz, Sinn gewesen sein mochte in dem grauenvollen Geschehen dieses letzten Jahres. Allein er verwehrte sich’s, diesen Empfindungen nachzuhängen, er erlaubte ihnen nicht, sich zu klaren Gedankengängen zu verdichten, er wollte keine zweite Enttäuschung erleben.

Geradezu hitzig erwiderte er dem Musa: »Auch nicht im entferntesten denke ich daran, meine Chronik wieder aufzunehmen. Ich habe all mein Material zerstört, du weißt es.« – »Deine Akademie kann dir Material binnen nicht zu langer Frist neu beschaffen«, antwortete gelassen Musa. »Auch aus meinem Material kann dir vieles dienlich sein. Ich stell es dir gerne zusammen. Leicht freilich«, fuhr er fort, erlöschenden Gesichtes, »wird es nicht sein, mit dir in Verbindung zu bleiben. Wer weiß, in welchem Erdenwinkel ich mich verbergen muß, wenn ich deinen Schutz nicht mehr habe.«

Zuerst verstand ihn Rodrigue nicht. Dann ereiferte er sich: »Aber was hast du dir denn gedacht? Selbstverständlich kommst du mit nach Sigüenza.«

Musa leuchtete auf. Seine moslemische Höflichkeit indes gebot ihm, Einwände zu machen. »Werde ich nicht«, sagte er, »im Bischofspalast von Sigüenza sehr befremdlich wirken? Die unter deinem Krummstab wohnen, werden sich wundern über den beschnittenen Hausgenossen.« – »Mögen sie!« antwortete kurz und grimmig Rodrigue.

Musa, noch immer das breite, glückliche Lächeln über dem häßlichen Gesicht, fuhr fort: »Auch muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß du jetzt erst recht deine liebe Not mit mir haben wirst. Denn fortan werde ich dir bestimmt keine Ruhe lassen, ehe du dich wieder an deine Chronik machst.«

Schon jetzt, noch in Toledo, wetzte er dem Freund den Appetit und verwickelte ihn immerzu in weitläufige geschichtsphilosophische Debatten. Da stand er an seinem Schreibpult, kritzelte und sagte über die Schulter: »Es ist kein Zufall, daß wir Moslems Toledo wieder haben aufgeben müssen, nachdem wir es schon so gut wie in der Hand hatten. Unsere Zeit, die große Zeit unserer Macht, ist eben leider vorbei, und die innern Zwistigkeiten, die den Kalifen mitten im Sieg zurückriefen, werden sich wiederholen. Das ist so gewiß wie die mathematischen Regeln des Alcharesmi. Das Weltreich der Moslems, so mächtig es ausschaut, ist zu alt. Es ist brüchig.«

Wie sich’s Musa erhofft hatte, biß Rodrigue an. »Eure Zeit vorbei, wagst du zu sagen!« antwortete er. »Aber ihr habt doch gesiegt! Unser Heer ist vernichtet, eure Grenze läuft unmittelbar vor Toledo, unser stolzer Don Alfonso zahlt euch Tribut.« Er ereiferte sich. »Die Herrschaft der Moslems im Abstieg! Die große Zeit der Moslems vorbei! Dreimal in diesem Jahrhundert sind wir gegen euch angelaufen mit Heeresmassen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Fünfhundert mal tausend christliche Ritter sind in diesen Kreuzzügen umgekommen, und tausend mal tausend Mann andern christlichen Volkes, von Tod, Seuchen und Elend in der Heimat zu schweigen. Und die Heilige Stadt ist heute genauso in euerm Besitz wie vor hundert Jahren. Und da klagst du, euer Reich verfällt!«

Musa erwiderte höflich: »Du stellst dich weniger weise, als du bist, mein hochwürdiger Freund. Du spannst die Historie weniger Jahrzehnte oder eines Jahrhunderts in einen Rahmen und tust, als wäre sie etwas Geschlossenes. Aber wir, du und ich, wir wollen doch nicht nur das Heute beschreiben und das bißchen Gestern, wir trachten doch, den Sinn der Ereignisse festzuhalten, wir wollen die Richtung der Geschehnisse erkennen und in die Zukunft weisen als wahre Kundschafter Gottes. Und da stellt sich denn, leider, heraus, daß eure Kreuzzüge keineswegs Mißerfolge waren. Gewiß, was ihr in diesem letzten Jahrhundert an Gebiet erobert habt, war die Opfer nicht wert. Aber dafür habt ihr wirtschaftliche Einsichten die Fülle gewonnen, das weißt du doch so genau wie ich, und unschätzbare politische und wissenschaftliche Erfahrungen. Wir haben euch gutmütig und eitel in unseren Fabriken herumgeführt, wir haben euch gezeigt, wie wir unsere Jugend erziehen, wie wir unsere Städte verwalten, wie wir Recht sprechen. Ihr seid eifrige Schüler gewesen und macht uns gut nach, was wir Gutes haben. Ihr habt begriffen, daß es in diesem Jahrhundert weniger auf die Ritter ankommt als auf die Wissenden und auf die Sachverständigen, auf Baumeister und Waffenschmiede und Ingenieure und Kunstfertige aller Art und gelernte Landwirte. Und ihr seid jung, ihr seid im Aufstieg, bald werdet ihr uns eingeholt und überflügelt haben. Ihr habt fünfhundert mal tausend Ritter verloren, aber die Besiegten seid nicht ihr.«

Er hatte die marklose Stimme gehoben. Aus seinen stillen, wissenden, etwas spöttischen Augen schaute er auf den Freund. Der schwieg. Er gab sich geschlagen, nicht ohne Genugtuung.

Solcher Gespräche führten die beiden noch manche, Streitgespräche, in denen, zu seiner Verwunderung, Rodrigue den Triumph der Ungläubigen behauptete, während Musa am Endsieg der Moslems verzweifelte.

Je länger aber Rodrigue über die Argumente des Freundes nachdachte, so stärker leuchteten sie ihm ein, so mehr Zuversicht gaben sie ihm. Er fühlte sich jung und neu. Nicht mehr quälte ihn jener Satz des Paulus an die Korinther, der die Torheit Gottes ausspielte gegen die Weisheit der Weisen. Statt dessen jubelte in ihm das andere Wort des Apostels: »Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.« Statt des blinden Glaubens, der in seliger Verzückung aufging, war jetzt in ihm ein ahnendes Wissen, ein immer dichteres Gefühl: es ist trotz allem ein erkennbarer Sinn im Weltgeschehen. Noch konnte er dieses Gefühl nicht in folgerichtige Sätze umdenken. Er trachtete auch nicht nach Klarheit. Es genügte ihm, um den Sinn des Weltgeschehens so viel zu wissen, wie Augustin um das Wesen der Zeit gewußt hatte: »Wenn du mich nicht fragst, weiß ich es; wenn du mich fragst, weiß ich es nicht.«

Immer tiefer indes wirkten die Worte Musas in Rodrigue nach, und immer heißer verlangte es ihn, ein Kundschafter Gottes zu sein und die sinnvollen Wege des Geschehens aufzuspüren.

Trotzdem zögerte er, sich wieder an seine Chronik zu machen. Ein neues Bedenken hielt ihn ab. »Ich fürchte«, erklärte er dem Freund, »was mich zu diesem Werke lockt, ist weniger das Bestreben, Gott zu dienen, als schriftstellerischer Ehrgeiz.«

Musa machte sein listigstes Gesicht. Er schleppte ein Buch heran, »Das Leben des heiligen Augustin«, und las dem Rodrigue vor, was Possidius, ein Schüler des Heiligen, über dessen letzte Tage aufgezeichnet hatte. Augustin war damals Erzbischof der Stadt Hippo, die von den Vandalen belagert wurde; er sah von seinem Palast aus das karthagische Land weithin brennen. Er war sechsundsiebzig Jahre alt, sehr schwach und wußte, daß er sterben werde. Er trug Sorge für die belagerte Stadt und für die ganze, vom Feind überschwemmte Provinz. Gleichzeitig aber überlas er nochmals seine zahlreichen Bücher, korrigierte und änderte, auf daß von jedem seiner Werke ein als fehlerfrei befundenes Exemplar in der Bibliothek von Hippo hinterlegt werde. Auch suchte er noch ein Buch zu vollenden, bestimmt, die Schriften des Julian zu widerlegen. »Augustin, der heiligste aller Bischöfe«, berichtete Possidius, »starb am fünften Tage des Monats September, noch auf seinem Sterbelager bemüht, die Angriffe der Vandalen abzuwehren, und arbeitend an seiner großen Streitschrift gegen den Ketzer Julian.«

Musa sah von dem Buche hoch und fragte verschmitzt: »Willst du heiliger sein, mein hochwürdiger Freund, als der heilige Augustin? Lausche in die eigene Brust und prüfe, ob deine Zweifel anderes sind als fromme Hoffart.«

Am Abend dieses Tages legte sich Rodrigue eine dicke Schicht weißen, kostbaren Papiers zurecht, und langsam, genießerisch, fing er an zu schreiben: »Es beginnt die Geschichte Hispaniens – Incipit chronicon rerum Hispanarum.«

Musa aber meinte lächelnd: »Kein Laster sitzt tiefer als das der Schriftstellerei.«

Der Friede, den Don Ephraim nach Hause brachte, war besser, als man erwartet hatte. Doch nicht hatte er erreichen können, und vielleicht hatte er’s nicht wollen, daß die Dauer des Waffenstillstands auf weniger als zwölf Jahre festgesetzt wurde.

Don Alfonso, nachdem ihm Ephraim ausführlich Bericht erstattet hatte, sagte: »Ich weiß, ich sollte dir dankbar sein. Ich bin es auch. Ich will meine Granden berufen, daß sie Zeugen seien, wenn du mir den Handschuh deines Auftrags zurückgibst.« Don Ephraim wehrte fast ängstlich ab: »Ich glaube nicht, daß mir solcher Glanz anstünde. Auch würde es der Aljama von Toledo viele Neider schaffen und wenig Freunde.«

Alfonso fragte augenblinzelnd, ob nach Ephraims Meinung denn nun wirklich die ganzen zwölf Jahre zum Wiederaufbau der Wirtschaft nötig sein würden.

Ephraim verspürte Unmut. Er hatte diesen Mann beizeiten und dringlich gemahnt, daß er innerlich bereit sein müsse auf den langen Frieden. Er hatte, Ephraim, die Übernahme des bösen Auftrags abhängig gemacht von dieser Bereitschaft, und nun, kaum daß Don Alfonso den Vertrag geschlossen hatte, sann er darauf, ihn zu brechen. Er antwortete trocken: »Der Zustand deines Reiches, Herr König, ist derart, daß du vermutlich länger wirst stillhalten müssen als die zwölf Jahre. Ich werde deinen neuen Feldzug nicht mehr erleben, und auch du wirst nicht mehr jung sein, wenn du ihn beginnst.«

Da Don Alfonso verdrossen schwieg, mahnte er: »Finde dich darein, Herr König. Don Jehuda hat für dich gute Arbeit getan. Er hat Verbindungen angeknüpft, die selbst nach diesem Zusammenbruch noch halten, er hat der ganzen Welt die vielen Möglichkeiten deines Kastiliens sichtbar gemacht, er hat dir Kredit geschaffen. Aber wenn du daraus Nutzen ziehen willst, dann mußt du an seinem Grundplan festhalten, und er hat für den Frieden gebaut. Denke in den nächsten Jahren nicht an deine Ritter und Barone, die das Land nur arm machen, denk an deine Bürger und Bauern, denk an deine Städte. Ihnen gib Privilegien, gib ihnen Fueros, stärke sie gegen deine Granden.«

Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln. Er muß dem Bürger und Bauern, dem Vilain einen Platz geben in seinem Rat und den Ritter in Strafe nehmen, wenn er seinen Bauern verprügelt oder dem Bürger mit guter Waffe den Pfeffersack wegnimmt. Es wird eine öde, langweilige Welt sein, es wird ein trauriges Kastilien sein, das er regiert.

Don Ephraim jetzt erklärte den ganzen Jammer der Wirtschaft. Der Bergbau war übel heruntergekommen, die Tuchmanufakturen, die Don Jehuda zu solcher Blüte gebracht hatte, waren zerstört oder zerrüttet, die Viehherden weggetrieben, die Schafzucht, vor dem Krieg eine der Haupteinnahmequellen des Landes, gänzlich verwahrlost. Der kastilische Maravedí war entwertet; man mußte sechs kastilische für einen aragonischen Maravedí zahlen. Sollten Landwirtschaft und Gewerbefleiß nicht gänzlich verfallen, dann mußte man mit Steuernachlässen und der Gewährung vieler neuer Rechte nachhelfen. Er ging ins einzelne. Schlug vor, welche Zölle und Abgaben erleichtert, welche gänzlich aufgehoben werden sollten. Nannte Ziffern, immer neue Ziffern.

Wenn Don Jehuda von Ähnlichem sprach, hatte sich Alfonso manchmal auf kurze Zeit fesseln lassen; dann aber hatte ihn Widerwille gegen das trockene, eines Königs unwürdige Geschäft gepackt, und es war vorgekommen, daß er eine solche Unterredung gröblich abbrach. Nun aber, und obgleich Ephraim ohne den Schwung und Glanz des Jehuda redete, nahm Alfonso wachsenden Anteil an den Ziffern, sie woben sich ihm ineinander, er fand Gefallen an der Folgerichtigkeit, mit welcher der Jude rechnete. Alfonso wollte es nicht wahrhaben und war es doch zufrieden. Es nützte nichts, die Augen zu schließen vor der neuen, widerwärtigen Zeit, man mußte sich wohl darein schicken. Andere vor ihm hatten es auch tun müssen, sehr Große und Mächtige, König Heinrich zum Beispiel, und er, Alfonso, hatte teuer bezahlt für seine Blindheit. »Ein Glück ist es, Herr König«, führte jetzt Ephraim aus, »daß du damals Jehuda erlaubt hast, die sechstausend fränkischen Flüchtlinge in deinem Reich anzusiedeln. Aus der Zahl dieser fähigen Männer kannst du viele Sachverständige ersetzen, die gefallen sind oder sonstwie verschwunden. Du mußt es Don Jehuda – das Andenken des Gerechten zum Segen – zugestehen, daß er –«

Der König unterbrach ihn unvermittelt. »Ich habe dich einmal aufgefordert«, sagte er, »meinen Kronschatz zu verwalten. Du hast es abgelehnt. Wahrscheinlich hast du recht daran getan; es gab damals wenig zu verwalten, und ich hab es meinen Ratgebern schwer gemacht. Jetzt ist wohl noch weniger da, aber ich bin mittlerweile klüger geworden, das hast du vielleicht gemerkt. Ich bitte dich ein zweites Mal, mein Alfakim zu werden, oder besser mein Alfakim Mayor.«

Ephraim hatte dieses Angebot erwartet, er hatte es gefürchtet. Er wehrte sich dagegen mit ganzer Seele. Er hatte öffentliche Ämter stets gescheut, er war alt, er wollte in den Tagen, die ihm noch blieben, in seinem Hause am Feuer sitzen, von wenigen gesehen und betreut, und in Ruhe veratmen. All sein Unwille und Haß gegen Don Alfonso stand auf. Der Mann hatte den größten Teil der Dreitausend, welche die Aljama ihm gestellt hatte, in den Tod gejagt, aus hirnloser, ritterlicher Abenteuerlust. Er hatte dem treuen Diener Ibn Esra die Tochter weggenommen und den Sohn und ihn nicht gerettet in seiner Not. Und jetzt wollte er ihn, Ephraim, vor seinen Wagen spannen für den steilen, qualvollen Weg, der vor ihm lag.

Er sagte: »Du ehrst mich hoch. Aber die Verhandlungen in Sevilla waren aufreibend. Die Geschäfte der Aljama warten auf mich, ich bin sehr alt. Erlaß es mir, Herr König.«

Alfonso, knabenhaft schmollend, sagte: »Ich möchte gern einen Juden zum Alfakim haben.« Die Worte kamen ungeschickt, geradezu täppisch, aber es klang in ihnen die Liebenswürdigkeit des früheren Alfonso. Ephraim, mit einem Male, sichtete das Innere des Mannes. Begriff, daß dieser willens war, seinem toten Escrivano Genugtuung zu geben und, sich überwindend, dessen Weg weiterzugehen. Dieser Alfonso rief, und nicht ohne Angst, nach einem neuen Führer. Es wird eine lebenkürzende Aufgabe sein, das Amt zu übernehmen, da fortzufahren, wo Jehuda aufgehört hatte. Aber Ephraim gedachte der glänzenden, dringlichen, spöttischen Augen des Jehuda, er hörte seine schmiegsame, wohltönende Stimme, er gedachte ihrer letzten Zusammenkunft. Einer mußte dasein, die ausgestreckte unsanfte, unreine Hand dieses Christenkönigs zu nehmen und ihn mühevoll weiterzuzerren auf der schmalen, strengen Straße des Friedens.

Ephraim, fröstelnd in seinen vielen Kleidern, sah wirklich sehr alt und gebrechlich aus. Er sagte, und er mußte sich jedes Wort aus der Kehle zwingen: »Da du es befiehlst, Herr König, werde ich versuchen, die Geschäfte deines Landes in Ordnung zu bringen.«

»Ich danke dir«, sagte Don Alfonso.

Zögernd fuhr er fort: »Da ist noch ein anderes, das ich mit dir besprechen möchte, Don Ephraim Bar Abba. Ich habe meinem toten Escrivano nicht immer so großen Dank bezeigt, wie ich es hätte tun sollen und wie ihn mein Großvater seinem Ibn Esra bezeigte. Es drückt mich, daß man die Toten nicht einmal würdig begraben hat, sondern armselig, notdürftig. Mehrmals hab ich daran gedacht, sie auf meine Art zu bestatten und gemäß ihrem Stande. Aber ich habe es besser überlegt, und es scheint mir richtiger, daß ihr meinen toten Escrivano begrabt auf eure Weise und mit euern Ehren, ihn und auch Doña Raquel, seine Tochter, die mir sehr nahestand. Sie gehören zu euch, beide, sie gehörten bis zuletzt zu euch, und ich werde dir dankbar sein, wenn du es mit ihrer Bestattung so hältst, wie sie selber es wünschten.«

Don Ephraim sagte: »Du bist meiner Bitte zuvorgekommen, Herr König. Ich werde für alles Sorge tragen. Wolle mir aber in Gnaden vergönnen, mit der Bestattung noch eine Zeit zu warten, damit die vielen, die Don Jehuda Ibn Esra zu ehren wünschen, davon erfahren.« Bald nach Friedensschluß genas Doña Berengaria eines Knaben. Dieser künftige König von Aragon und Kastilien wurde auf den Namen Fernán getauft. Die Taufe wurde mit höchstem Prunk gefeiert; die fünf christlichen Herrscher der Halbinsel hatten sich in Saragossa versammelt, daran teilzunehmen.

Beim Festbankett saßen Alfonso und Leonor nebeneinander auf erhöhten Stühlen. Doña Leonor war schön, damenhaft liebenswürdig und hochmütig wie stets, und sie tauschte, wie die Courtoisie es verlangte, mit ihrem Manne viele höfliche Worte.

Alfonso durfte sich an diesem Tage als König der Könige fühlen und war sich seines Wertes und seiner Ehre bewußt. Vor einem Jahr war sein Land unter den Waffen der Feinde gewesen, er selber eingeschlossen in seiner Hauptstadt. Wie grimmig hatte er sich damals geschämt, wenn er an Richard von Engelland dachte. Der hatte sich in Wahrheit bewährt als der Miles Christianus, der Schrecken der Moslems, der Melek Rik. Hatte die uneinnehmbare Feste Akko erstürmt, hatte in offener Feldschlacht glorreich gesiegt über das Heer des Sultans Saladin. Wie anders heute. Die ungeheuern Verluste des Kreuzheeres waren so gut wie umsonst gewesen, ein ärmlicher Waffenstillstand war abgeschlossen, die Heilige Stadt war nach wie vor in den Händen der Ungläubigen, Richard selber, entzweit mit seinen Alliierten, saß hilflos in einem österreichischen Gefängnis. Er aber, Alfonso, thronte hier, nach wie vor der mächtigste König der Halbinsel. Und sein Enkel, den sie heute aus der Taufe gehoben haben, dieser kräftige, kleine Fernán, der wird, das war so gut wie gewiß, Aragon und Kastilien vereinigen, und vielleicht wird er sich Kaiser nennen dürfen wie sein Ahn, der Siebente Alfonso.

Allein inmitten dieses Glanzes und dieser Blüte wuchs nur die Wüste in Alfonsos Innerem. Er sah Doña Leonor und sah ihre Ödnis. Er sah seine Tochter Berengaria und sah in ihren Augen, den großen, grünen Augen der Mutter, die wilde Hoffart, den Hunger nach immer mehr Macht und Ansehen. Er war sicher, daß sie ihren Mann für schwach hielt, weil er nach seiner, Alfonsos, Niederlage nicht die Vorherrschaft der Halbinsel an sich gerissen hatte. Er war sicher, daß all ihr Sein und Denken jetzt ihrem kleinen Sohne galt, diesem künftigen Emperador Fernán, und daß sie für ihn selber, ihren Vater, nichts fühlte als Widerstreben, verächtliche Gleichgültigkeit. Er stand ihrem Sohn und ihrem Ehrgeiz im Wege, er hat aus Wollust seine Königspflicht vernachlässigt, er hat das Land, das ihr und ihrem Sohne gehörte, schon einmal fast verloren und wird es vielleicht endgültig verspielen, ehe sich ihr kleiner Fernán die Kaiserkrone aufsetzt.

Die Edelknaben, die dem König Speise, Wein, Mundtuch anboten, standen und warteten hilflos. Er sah sie nicht. Er war sich plötzlich sehr bewußt, wie einsam er war inmitten seiner fünftausend mal tausend Kastilier und ihrer Verehrung. Er starrte vor sich hin, sehr allein, in eine leere Welt.

Don Rodrigue merkte bekümmert, wie Alfonso hinter der gleichmütig freudlichen königlichen Maske starr und stolz vor sich hin sinnierte. Er war voll heißen Mitleids, doch erfüllt auch von der Neugier und Besessenheit des Chronisten, und er studierte den König mit sachlicher Beflissenheit. Don Alfonso war in der Tat memoria tenax, intellectu capax, vultu vivax. Er bewahrte, Alfonso, in seinem Gedächtnis gut die Geschehnisse, er begriff sie mit seinem scharfen Verstand, er hielt sie fest und gab sie wieder durch seine Miene. Ja, eingezeichnet in Don Alfonsos Gesicht waren seine Erfahrungen, seine wilden Süchte, seine schweren, stürmischen Siege, seine bittern Niederlagen, seine Überwindungen und Erkenntnisse. Tief zerschnitten Furchen die Stirn, zerkerbten Falten die Wangen. Sein Gesicht war zur Chronik seines Lebens geworden. Heute schon schaute durch das Antlitz des Vierzigjährigen das Gesicht des Greises, der er einmal sein wird.

Im Norden des Reiches, nahe der Grenze von Navarra, auf dem Gebiet der Barone de Haro, lebte ein Eremit, der sich härtesten geistlichen Übungen unterwarf. Er lebte in einer Höhle hoch oben in den schroffen Abhängen der Sierra de Neïla. Wie er dort sein Leben fristete, war ein Wunder. Denn er war blind. Offenbar stand er in der besondern Obhut der Vorsehung. Sie bewahrte seine Füße vor dem Abgrund und schützte ihn vor den wilden Tieren; es hieß, die Wölfe kauerten vor ihm nieder und leckten ihm die Hand.

Büßende stiegen zu ihm hinauf und brachten ihm Gaben für seine kärglichen Bedürfnisse. Sie baten ihn, er möge ihnen die Hände auflegen; es ging Gnade aus von seinen Händen. Auch konnte er durch Berührung des Gesichtes ertasten, ob ein Sünder und wie weit Gottes Verzeihung erlangt habe.

Und der Ruhm des Einsiedlers und seiner frommen Fähigkeiten verbreitete sich übers Land.

Es war aber der Eremit jener Diego, den damals vor seiner ersten, siegreichen Schlacht bei Alarcos Alfonso hatte blenden lassen, weil er auf Wachtposten geschlafen hatte.

Nun waren die Barone de Haro, deren Dienstmann Diego war, schwierige Vasallen, dem König nicht gewogen. Sie erklärten, die Stadt Toledo sei durch die wüsten Ereignisse der letzten Jahre voll von Sünden, und forderten Diego auf, hinzugehen; der Besuch des Heiligen werde die Gewissen wecken. Die de Haros hofften aber, durch die Anwesenheit des Diego in der Hauptstadt dem König Ungelegenheiten zu bereiten.

Die Leute von Toledo strömten denn auch herbei, den gnadenreichen Mann zu sehen und zu verehren, und immer lauter wurde ihr Wunsch, es möge auch der König aus der Gegenwart des Wundertätigen Nutzen ziehen. Sie hatten, wenn Don Alfonso strahlend an der Seite der Fermosa durch die Straßen ritt, teilgehabt an seiner herzwärmenden, nicht erlaubten Lust, sie hatten sie selber mitgenossen, sie hatten ihm zugejubelt, und der Tag, an dem sie ihm begegneten, war ihnen ein Festtag gewesen. Wenn sie jetzt Alfonso sahen, spürten sie ehrfürchtiges Mitleid, Scheu, ein feines Grauen vor dem Gezüchtigten, Gezeichneten. Sie wünschten ihm volle Entsühnung und glaubten, der Heilige könne ihm dazu verhelfen.

Rodrigue sah in dem Gewese, das um Diego gemacht wurde, nichts als Aberglauben und Unfug, er witterte auch die böse Absicht der de Haros und riet dem König, sich nicht um Diego zu kümmern.

Diesem selber war der Mann lästig. Eine nachträgliche Scham brannte ihn, wenn er daran dachte, wie selbstgefällig er Raquel erzählt hatte von jener Blendung und von seinem Spruch für den Pflichtvergessenen. Er erinnerte sich, wie sich damals das lebendige Gesicht Raquels zugesperrt hatte, erst jetzt wußte er, warum.

Aber er hatte wahrgenommen, mit welcher Scheu die Leute auf ihn blickten, er begriff sie, er begriff ihren Wunsch, daß er mit dem Heiligen zusammenkomme. Auch wandelte ihn wachsende Neugier an, was denn nun aus diesem Diego geworden sei. Und hatte wirklich er, Alfonso, ohne es zu wissen und zu wollen, den Mann zu einem Heiligen gemacht?

Er erinnerte sich, da der Blinde vor ihm stand, genau des Diego von damals. Der war ein breiter Bursch gewesen, trotzig, selbstbewußt, ein wenig dem Castro ähnelnd, und war dieser hier wirklich der Diego, den er hatte blenden lassen? Alfonso wurde befangen, er bedauerte, daß er den Mann gerufen hatte, er wußte nichts zu sagen, und auch der andere schwieg.

Schließlich, halb gegen seinen Willen, scherzte er plump: »Wenigstens war der Spruch gut, den ich dir damals auf so strenge Art beigebracht habe.« Der andere antwortete: »Wer ich?« Alfonsos unmutige Verwunderung stieg. Hatten sie es dem Menschen nicht gesagt, zu wem er geführt wurde? Und hatte er’s nicht wissen wollen? »Ich, der König«, sagte er. Der Blinde, unerstaunt und unerregt, sagte: »Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Es geht von dir nichts aus, was ich erkenne.« Alfonso fragte: »Hab ich dir unrecht getan, Diego, damals?« Der Blinde antwortete ruhig: »Es war Gott, der dich tun hieß, was du tatest. Aber auch der Schlaf, der damals über mich kam, war von Gott gesandt. Alarcos war eine Stätte harter Prüfung, für dich nicht minder als für mich. Es war jener Sieg von Alarcos, der dich verleitet hat, die zweite, übermütige Schlacht zu schlagen. Mir hat das Leid Segen gebracht, am Ende. Ich habe den Frieden gefunden.« Und, scheinbar ohne Zusammenhang, fuhr er fort: »Ich höre, Alarcos steht nicht mehr.«

Erst glaubte Alfonso, der Mann wolle sich im Schutze seiner Heiligkeit über ihn lustig machen. Aber die Worte kamen seltsam gleichmäßig von den Lippen des Blinden, sie kamen wie von einem Dritten, der sie beide aus hoher Ferne betrachtete, sie waren nicht bestimmt, ihn zu kränken.

»Ich habe gebetet«, sagte Diego, »daß das Unglück auch dir zum Heil ausschlage, Herr König.« Und: »Laß mich dich sehen«, verlangte er, die Hände ausstreckend. Alfonso begriff, was er wollte, er trat nah an ihn heran, und der Blinde betastete sein Gesicht. Der König spürte mit Unbehagen die knochigen Hände an seiner Stirn und seinen Wangen drücken und fingern. Alles an dem Mann war ihm widerwärtig: wie er aussah, wie er sprach, wie er roch. Es war in Wahrheit eine Prüfung, der er sich unterzog. Und war der Mann nicht doch ein Joglar, ein Jahrmarktsgaukler?

Diego sagte: »Sei getrost. Der Herr hat dir die Kraft gegeben, in Demut zu warten. Quien no cae, se no levanta – Wer nicht fällt, steht nicht auf. Vielleicht wirst du lange warten müssen, aber du hast die Kraft.«

Alfonso begleitete ihn zur Tür und überließ ihn denen, die ihn führten.

Es kam der Tag, an dem man die Leichen des Jehuda Ibn Esra und seiner Tochter ausgrub, um sie in den Friedhof der Judería zu überführen. Es war ein Tag im frühen Herbst, warm, gewitterig; der Stadtfelsen von Toledo lag dunkel, in schwerem, schwärzlichgrünem Grau.

Sie hüllten Jehuda und Raquel in weißes Totenleinen. Sie legten sie in Särge, die einfach waren, wie der Brauch es verlangte; es war aber fette, schwarze, krümelnde Erde hineingestreut, Erde aus Zion. Auf Zions Erde also lag jetzt das Haupt des Jehuda, der gedichtet und getrachtet hatte zur größeren Ehre seines Volkes, und das Haupt der Raquel, die geträumt hatte vom Messias.

Alle jüdischen Gemeinden Hispaniens hatten Abordnungen gesandt, auch aus der Provence und aus Francien waren viele gekommen, und einige sogar aus Deutschland.

Die acht angesehensten Männer der Aljama von Toledo hoben die Särge auf ihre Schultern und trugen sie über die Kieswege der Galiana zwischen den Bäumen und Beeten hindurch zum Haupttor. Dort, wo die Inschrift Alafia grüßte, standen andere bereit, die Särge aufzunehmen. Sie trugen sie eine kurze Strecke, dann warteten neue Träger; denn Zahllose hatten sich um die Ehre beworben, die Toten zu Grabe zu tragen.

So, von Schulter zu Schulter, zogen die Särge die heiße Straße entlang zur Alcantara, zu der Brücke, die über den Tajo führte.

Eine kurze Strecke trug auch der junge Don Benjamín einen der beiden Särge, den zweiten, den Sarg Doña Raquels. Es war eine leichte Last, aber der junge Mensch hatte Mühe, die Beine zu heben; dicht und dumpf, leibhaft geradezu engte der Kummer ihn ein.

Er suchte die Enge zu durchstoßen mit Gedanken.

Dachte daran, wie nun die sechstausend fränkischen Flüchtlinge, die Jehuda gegen so viel wüsten Widerstand ins Land gerufen hatte, aus lästigen Eindringlingen zu hocherwünschten Mitbürgern geworden waren. Es war alles anders gekommen, besser, als er, Benjamín, erwartet hatte. Halb ungläubig hatte er’s mitangesehen, wie sein Onkel Ephraim nach Sevilla gesandt worden war, wie er den Frieden bewirkt hatte und wie er nun Maßnahmen traf, ihn zu wahren. Das Werk Jehudas bestand, es ging weiter. Und der König duldete es nicht nur, der König förderte es. Aber wieviel Tod und Elend war nötig gewesen, ehe dieser Ritter zur Vernunft kam. Und wird die Vernunft vorhalten?

Er durfte sich von seinem Widerwillen gegen den König nicht zu ungerechtem Urteil verleiten lassen. Der König hatte sich gewandelt. Raquel hatte es erreicht. Es war zugegangen wie in jenem Märchen, das sie so sehr liebte. Der Zauberer hatte dem Lehmkloß Leben eingehaucht, aber der Zauberer war darüber gestorben.

Langsam schritt Don Benjamín dahin, die leichte Last Raquel auf der Schulter, eingesponnen in seine Betrachtung, ungleichmäßigen Schrittes, die andern Träger behindernd.

Die Sechstausend werden nun sinnvoll leben können. Das war wenig, maß man es an dem sinnlosen Tod, den tausend mal tausend gestorben waren in den Kriegen dieser Jahrzehnte. Alles Erreichte war wenig, das bißchen Friede des Ephraim, das bißchen Vernunft des Königs. Es war nur ein winziges neues Licht in der großen Nacht. Aber da war es, das neue kleine Licht, es leuchtete, und wenn ihn Angst ankommen sollte, wird das kleine Licht sie ihm fortleuchten.

Es war an dem, daß er und die mit ihm trugen, den Sarg abzugeben hatten an neue Wartende. Doch nun er der Last ledig war und nicht mehr Schritt halten mußte mit den andern, schleppten sich seine Füße noch schwerer. Aber er raffte sich zusammen, hielt sich aufrecht, dachte. Dachte bitter, zäh und beharrlich: Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten; es zu vollenden ist uns nicht aufgetragen.

Der Leichenzug hatte die Stadtgrenze erreicht, die Brücke über den Tajo. Weit öffneten sich die mächtigen Tore, die Toten einzulassen.

Don Alfonso hatte angeordnet, daß seinem Escrivano, dem Toledo so schlecht gedankt hatte, höchste Ehre erwiesen werde. Die Leute von Toledo gehorchten gerne. Alle Häuser waren mit schwarzen Tüchern ausgelegt. Dicht säumte das Volk, eine einförmig dunkle Masse, die sonst so bunten Straßen; der Lärm war gedämpft zu einem schweren Summen. Überall am Wege standen Soldaten des Königs in Haltung, und wo immer die Särge vorbeikamen, senkten sich die Fahnen mit dem Wappen Kastiliens. Die Leute entblößten die Köpfe, viele knieten, Frauen und Mädchen weinten laut um das Schicksal der Fermosa.

Die Toten zogen die steilen Straßen hinauf zur innern Stadt. Man nahm nicht die kürzeste Strecke, man führte die Särge auf einem Umweg über den Marktplatz, den Zocodovér, damit möglichst viele den Toten Ehre erweisen könnten.

An einem Fenster hoch oben in der Burg, von wo er den Weg des Trauerzuges weit verfolgen konnte, stand Alfonso, allein.

Er dachte:

Ich bin nicht einmal traurig. Ich bin ruhig geworden. Ich bin frei von heftigen Süchten. Ich bin ein besserer König geworden. Ich sollte es zufrieden sein. Ich bin es nicht.

Ich werde wohl meinen großen Feldzug noch erleben, und ich werde ihn führen können an der Spitze eines geeinigten Hispaniens. Aber auch in der Minute, da ich den Sieg in der Hand habe, werde ich nichts Heißeres fühlen als: Jetzt ist es soweit, ich habe meine Pflicht getan, und wenn es hoch kommt, wird es Erleichterung sein, Glück wird es nicht sein. Was mir an Glück zugemessen war, liegt hinter mit. Es war da, ich hab es in meinen Armen gehalten, es hat sich mir angeschmiegt, weich und betäubend süß. Aber ich war leichtsinnig und bin davongegangen. Und jetzt tragen sie, was mir an Glück bestimmt war, dort unten vorbei.

Zwölf Jahre soll ich warten auf meinen Feldzug. Ich habe nie warten können; das Leben ist mir gerannt wie ein Pferd. Jetzt kriecht es mir wie eine Schnecke. Das Jahr dehnt sich, der Tag dehnt sich. Und ich halte es aus, ich werde nicht einmal zornig. Und daß ich so warten kann, das ist das Schlimmste.

Ich werde auch den Feldzug mit Bedacht führen. Nichts wird dasein von dem wilden, seligen Mut von früher. Sie werden schreien: A lor, a lor!, und ich werde nicht mitschreien.

Er mühte sich, an denjenigen zu denken, für den er den Feldzug führen wird, an den kleinen Fernán; aber er sah kein klares Bild, und keine Wärme ging aus von dem Bild des Enkels. Alles, was jetzt um Alfonso war, blieb sonderbar vag, nebelhaft, unwirklich.

Er dachte:

Ich bin vierzig, aber mein Leben liegt hinter mir. Nichts ist mir wirklich als meine Vergangenheit. Mein Heute liegt in Dunst und Staub wie ein Schlachtfeld in währendem Kampf. Und auch wenn ich einmal siege, wird darüber nichts sein als Dunst und Dumpfheit. Ja, wenn ich für meinen Sohn siegen könnte, für meinen Sancho, für meinen lieben Bastard! Aber wer weiß, wo dann mein Sancho sein wird. Wahrscheinlich unter denjenigen, denen der Friede mehr gilt als sogar der Sieg.

Der Leichenzug mittlerweile war an seinem Ziel angelangt.

Drei Friedhöfe hatten die Juden von Toledo, zwei außerhalb der Mauern, einen in der Judería selber. In diesem, der klein war und sehr alt, hatten nur die Mitglieder der vornehmsten Geschlechter Grabstätten, unter ihnen die Ibn Esras. Es lagen unter diesen toten Ibn Esras solche, die ihr Geschlecht zurückführten auf einen Nachfahr König Davids, der zusammen mit dem Adoniram, dem Steuereinnehmer König Salomos, nach der Halbinsel gekommen war, und so auch war es vermerkt auf ihren Grabsteinen. Es lagen ferner unter diesen toten Ibn Esras solche, die zur Zeit der Römer Kaufleute gewesen waren, Bänker, Steuereinnehmer, und solche, die unter den Gotenkönigen in Toledo gelebt hatten, gejagt und verfolgt, und solche, die unter den Moslems Wesire gewesen waren und große Ärzte und Poeten. Es lag hier auch jener Ibn Esra, der einstmals das Castillo gebaut hatte, das ihren Namen trug, sowie jener, der dem Kaiser Alfonso Calatrava gehalten hatte, der Oheim Jehudas.

Auf diesen Friedhof also brachte man die Leichen.

Eng aneinandergedrückt standen die Trauernden; so dicht standen sie, erzählt der Chronist, daß man über ihre Schultern hätte hinweglaufen können.

Im Bezirk der toten Ibn Esras hatte man zwei neue Gräber ausgeschachtet. Da hinein legten sie Jehuda Ibn Esra und seine Tochter Raquel und versammelten sie zu ihren Ahnen.

Dann wuschen sie sich die Hände und murmelten den Segensspruch.

Und Don Joseph Ibn Esra als der nächste Verwandte sprach das Gebet der Trauernden, welches beginnt: Gerühmt und geheiligt werde der erhabene Name, und welches endet: Der Frieden stiftet in seinen Höhen, Er gebe Frieden uns und allem Israel, und darauf sprechet amen.

Und dreißig Tage lang in allen jüdischen Gemeinden der Halbinsel und in denen der Provence und Franciens sprachen sie dieses Gebet, zum Andenken Don Jehuda Ibn Esras Unseres Herrn und Lehrers, und der Doña Raquel.

Wo aber auf Märkten und in Schenken Kastiliens viele Leute zusammenkamen, sangen die Joglares, die Bänkelsänger, Balladen von dem König Don Alfonso und seiner heißen, verhängnisvollen Liebe zu der Jüdin Fermosa. Tief ins Volk drangen die Lieder, und am Werktag und am Feiertag, bei der Arbeit und beim Essen und in den Schlaf hinein sang und summte es in Kastilien:

Und der König

Ward verblendet durch die Liebe

Und verschaute sich in eine

Jüdin, und sie hieß Fermosa.

Ja, Fermosa hieß, »Die Schöne«

Hieß sie, und sie hieß zu Recht so.

Und mit ihr vergaß der König

Seine Königin.

Don Alfonso selber betrat niemals mehr das Gebiet der Huerta del Rey.

Langsam verwilderten die Gärten und verfiel die Galiana. Auch die weiße Mauer zerbröckelte, die den ausgedehnten Besitz umgab. Am längsten hielt das große Haupttor, durch welches der Castro und die Seinen gezogen waren, um Raquel und ihren Vater zu erschlagen.

Ich selber bin noch vor diesem Tor gestanden und habe die verwitternde arabische Inschrift gesehen, mit welcher die Galiana den Gast begrüßte: Alafia, Heil, Segen.