Sechstes Kapitel

Don Alfonso hielt die Festung Calatrava unerwartet lange. Er war an der Schulter verwundet, nicht eben gefährlich, doch schmerzhaft, er fieberte häufig. Trotzdem lief und ritt er herum, kletterte in Rüstung die steilen Treppen der Wälle hinauf und hinunter, überwachte jede Einzelheit der Verteidigung. Die Offiziere beschworen ihn, er solle sich endlich nach seiner Hauptstadt durchschlagen; denn schon schwärmten die Moslems weit nach dem Norden vor, und die Straßen nach Toledo waren unterbrochen. Aber erst als es am Äußersten war, gab Alfonso die Festung auf, um sich mit dem größten Teil der Besatzung nach Toledo durchzukämpfen.

Das war ein Unternehmen, das Umsicht und Tapferkeit erforderte. Von seinen nahen Freunden war nur Estéban Illán bei ihm; den Erzbischof Don Martín und Bertran de Born, die beide verwundet waren, hatte man nach Toledo geschafft. Alfonso ließ sich nicht anmerken, wie verzweifelt er unter der Niederlage litt; er zeigte raschen Blick, Findigkeit, Entschlußkraft. Des Nachts aber, allein mit Estéban, stürmte und wütete er: »Hast du gesehen, wie sie alles verwüstet haben? Jetzt spür ich es: was da verheert und verbrannt ist, das bin ich selber; es ist ein Teil von mir wie mein Arm oder mein Fuß.«

Er stellte sich vor, wie es sein wird, wenn er jetzt nach Toledo kommt. Er dachte an das ruhige, hochmütige Gesicht Doña Leonors, und wieviel Widerwille und Verachtung wird hinter dieser klaren Stirn sein, wenn er nun nach seiner stolzen Ausfahrt so jämmerlich und mit Schande bedeckt vor sie hintritt. Er dachte hilflos rasend an die stille, spöttisch ehrerbietige Miene Jehudas. Er dachte an das beredte Gesicht Raquels. Hatte er nicht versprochen, ihr Sevilla zu schenken? Wo war Sevilla? Sie wird nicht danach fragen; zärtlich, demütig wird sie vor ihm stehen, ohne ein Wort des Vorwurfs, aber um sie werden matt und höhnisch ihre Inschriften vom Frieden glänzen.

Unversehens faßte ihn eine sinnlose Wut. Don Martín hatte recht, Raquel war eine Hexe, sie war es, die bewirkte, daß er dem Sohn die Taufe vorenthielt, sie hat seine innere Stimme in Lüge verwandelt. Aber sie soll ihn nicht länger behexen. Mag sie sich stumm winden und drehen und schmerzhafte Gesichter schneiden: er wird den Jehuda zwingen, den Sohn herbeizuschaffen, er wird den Knaben taufen, und wenn dann Raquel nicht länger in der Galiana bleiben will, die Tür steht weit offen, Alafia, Heil, Segen.

Während sich Alfonso auf solche Art mit Raquel auseinandersetzte, war Don Rodrigue auf dem Weg, ihm die finstere Botschaft zu bringen.

Es war nach dem Untergang des Jehuda und der Raquel eine sonderbare Lähmung über Rodrigue gekommen. Nun war ihm alles eingestürzt, woran er in dieser Welt hing, das Reich brach zusammen, die lieben Freunde waren grausig ermordet worden, und er selber, Rodrigue, trug mit die Schuld, weil er den König so lang auf dem übeln Weg hatte gehen lassen. Das Gefühl seines Versagens, seiner Nichtigkeit erdrückte ihn.

In seinem Innern überhäufte er Don Alfonso, dessen Leichtfertigkeit dem ganzen Lande Unheil brachte und Unheil einem jeden, der ihm nahekam, mit bitterer Schelte. Er wollte ihn nicht mehr sehen, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber er liebte den Unseligen noch immer, und Pflicht und Mitleid trieben ihn, die grausige Nachricht selber zu überbringen. Vielleicht wird das Übermaß des Unglücks den Mann lehren, was Reue ist, und Rodrigue wollte ihn nicht allein lassen in der Stunde der Verzweiflung.

Ein abgezehrter, fieberischer Alfonso trat ihm entgegen. Wies ihn, da er sich nach seiner Verwundung erkundigte, ungeduldig ab. Stand vor ihm, gereizt, finster, höhnisch, und forderte ihn heraus: »Du hast recht gehabt, mein weiser Vater und Freund. Mein Heer ist vernichtet, mein Reich eingestürzt. Ich habe die vier Reiter der Apokalypse übers Land gebracht, genau wie du mir’s vorausgesagt hast. Das zu hören, bist du doch da. Nun also, ich geb dir’s zu. Bist du zufrieden?«

Rodrigue, gegen seinen Willen, spürte ein heißes Erbarmen mit dem Mann, der ihm da krank, zerfetzt und zerlumpt an Seele und Ansehen gegenüberstand. Aber er durfte nicht schwach werden, er mußte rütteln an der Seele dieses Alfonso, der, Gottes hadernder, rebellischer Vasall, noch immer nicht wußte, was Schuld und was Reue war. Rodrigue sagte: »Es hat sich Schlimmes ereignet in Toledo. Dein Volk hat Unschuldige haftbar gemacht für deine Niederlage, und niemand war da, die Unschuldigen zu schützen.« Und da ihn der König ohne Verständnis anstarrte, sagte er ihm ins Gesicht: »Sie haben Doña Raquel und Don Jehuda umgebracht.«

Was das Unglück nicht und nicht der Verrat, was die große Niederlage nicht hatte bewirken können, bewirkte diese Nachricht: Don Alfonso schrie. Er schrie auf, kurz und schrecklich. Dann fiel er um.

Eine große Welle Freundschaft schwemmte alle andern Überlegungen Rodrigues fort, er liebte ihn wie eh und je. Erschreckt bemühte er sich um ihn und rief nach dem Arzt.

Alfonso, nach einer langen Weile, erwachte aus der Ohnmacht, schaute sich um, fand sich zurecht, sagte: »Es ist nichts, es ist diese dumme Wunde.« Er hatte auch noch nichts gegessen an diesem Tag. In hastigen Schlucken trank er die Brühe, die man ihm brachte, und trieb den Arzt, der den Verband erneuerte, zur Eile. Dann schickte er alle fort und hielt nur Rodrigue zurück.

»Verzeih, mein Vater und Freund«, sagte er. »Ich sollte mich schämen, daß ich mich so gehenließ.« Und böse fuhr er fort: »Nachdem ich das Reich zerstört habe, sollte es mir auf einen Mann und eine Frau mehr nicht ankommen.« Und: »Ich hätte die beiden ohnedies weggeschickt«, sagte er grimmig. Aber sogleich widerrief er: »Niemals, niemals hätte ich Raquel weggeschickt! Und ich schäme mich auch nicht!« Er stöhnte, wütete, knirschte. »Es tut unchristlich weh. Ich sag es dir, Rodrigue, mein Freund: ich habe sie geliebt. Du kannst das nicht verstehen, du weißt nicht, was das ist, niemand weiß es. Ich selber hab es nicht gewußt, bevor sie mir in den Weg kam. Ich habe sie mehr geliebt als Leonor, mehr als meine Kinder, mehr als mein Reich, mehr als Christus, mehr als alles. Vergiß es, Priester, vergiß es gleich, aber einmal muß es heraus, einmal muß ich es sagen, dir muß ich es sagen: ich hab sie mehr geliebt als meine unsterbliche Seele.«

Er preßte die Zähne zusammen, die rasenden Worte zurückzuhalten, die ihm die Brust füllten. Hockte nieder, erschöpft. Rodrigue sah bestürzt, wie sich sein Antlitz verändert hatte. Hager grinste es ihn an, scheu, verzerrt, die Backenknochen sprangen stark hervor, die Lippen waren zwei schmale Striche, die Augen schienen kleiner und glitzerten fahrig.

Alfonso, nach einer langen Weile, trachtete sein Gesicht zu glätten. Bat Rodrigue, ihm zu sagen, was er wisse. Es war nicht viel. Eine Menge Volkes, das den Don Jehuda vergeblich im Castillo Ibn Esra gesucht hatte, war in die Galiana gezogen. Wer Doña Raquel getötet hatte, wußte man nicht. Den Don Jehuda hatte der Castro mit eigener Hand erschlagen.

»Der Castro?« stammelte der König. »Der Castro«, antwortete Don Rodrigue. »Er hatte den Auftrag, Bedrohte zu schützen; denn das Volk war wild geworden, und viele waren bedroht. Er hatte Auftrag, lieber den einzelnen preiszugeben, als die Gesamtheit zu gefährden.« Der König dachte lange und mühsam nach. »Von wem hatte der Castro den Auftrag?« fragte er heiser. Don Rodrigue, langsam und klar, antwortete: »Von Doña Leonor.«

Alfonso knurrte wie ein verwundetes Tier. »Die Hunde und Geier fallen über mich her, als wäre ich schon ein Aas«, sagte er. Don Rodrigue erläuterte, sachlich, gerecht, mit fast unmerklicher Ironie: »Maßnahmen waren geboten. Arabische Christen waren umgekommen, auch Juden in der Siedlung vor den Mauern, eine ganze Reihe, an die hundert, heißt es.«

»Verteidige sie nicht!« brach Alfonso aus, wild, sinnlos. »Verteidige Leonor nicht! Verteidige keinen, auch dich selber nicht! Auch du bist schuldig, alle seid ihr schuldig. Vielleicht nicht so wie ich, aber schuldig seid ihr. Und ich werde strafen. Ich werde euch züchtigen. Glaubt ihr, ich sei machtlos, weil ich die Schlacht verloren habe? Noch bin ich der König. Ich werde untersuchen, ich werde richten, ich werde fürchterlich strafen!« Er brach plötzlich ab, stöhnte, fiel zusammen, winkte dem Rodrigue heftig, ihn allein zu lassen.

Noch ehe die Stunde um war, befahl er, aufzubrechen. Auch auf dieser letzten Strecke Weges traf er seine Anordnungen aufmerksam und mit Umsicht. Erst als alle seine Abteilungen innerhalb der Mauern waren, ritt er in Toledo ein.

Ritt hinauf in seine Burg. Diener, Kämmerer liefen herbei, erschraken über sein Aussehen, fragten, ob er sich nicht umkleiden, nicht baden wolle, ob sie nicht den Arzt rufen dürften. Er wies sie zurück, unwirsch, gab strengen Befehl, niemand vorzulassen, auch die Königin nicht.

Hockte auf dem Spannbett, noch in Rüstung, verschwitzt und verschmutzt, leidend, in unbequemer Haltung, allein. Brütete. Er verstand den Zusammenhang nicht. Wie war Jehuda in die Galiana gekommen, der Schlaue, der Fuchs, der jede Gefahr auf Meilen witterte? Und warum waren sie nicht hinter die festen Mauern der Judería geflüchtet, die beiden, die sich doch so wildgläubig zu ihrem Judentum bekannten?

Tot waren sie, umgebracht waren sie, soviel war gewiß. Und die sie umgebracht haben, das waren Leonor und der Castro, Leonor mit ihrer Zunge und der Castro mit seiner Faust. Und er hat Raquel nicht einmal Lebwohl gesagt; fremd, blind, böse ist er von ihr fortgerannt. Und nun hat Leonor sie ihm erschlagen und ihm dazu seinen Sohn gestohlen, seinen Sancho, denn nun wird er niemals erfahren, was aus dem Kind geworden ist.

Ein betäubender Zorn faßte ihn. Leonor hat ihn gehaßt von dem Augenblick an, da Gott ihm Raquel geschickt hat. Sie hat ihn in den Krieg gehetzt, damit sie freie Hand habe, Raquel umzubringen. Alle haben ihn gewarnt vor der Schlacht, aber sie, sonst so freigebig mit Warnungen, hat ihre Worte verschluckt, sie hat ihn in seine Niederlage hineinrennen lassen, wissend, nur damit sie die andere umbringen könne. Leonor ist die Hexe, nicht Raquel. Sie ist die rechte Tochter ihrer Mutter, die Enkelin jener Ahnin, welche der Satan aus der Kirche in die Hölle geholt hatte.

Er freute sich seines Zornes, er freute sich, daß seine Wunde ihn schmerzte. Wie er war, in der dickverstaubten Rüstung, ungewaschen, ohne den Verband zu wechseln, lief er durch die Korridore, in die Zimmer Leonors. Drängte die erschreckten Hofdamen zurück. Trat ungestüm in Leonors Zimmer.

Sie saß auf der Estrade, sauber, gepflegt, damenhaft wie stets. Sie stand auf, ging ihm ein paar Schritte entgegen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, lächelnd. Er hob die Hand, sie aufzuhalten, und noch bevor sie ihn begrüßen konnte, sagte er leise und wild: »Da bin ich. Nicht sehr lieblich anzusehen. Nicht angenehm zu riechen. Ich stinke nach Krieg, Arbeit, Niederlage. Nichts an mir ist nach den Vorschriften der Courtoisie. Aber du hast dich auch nicht eben nach den Regeln der Courtoisie geführt, scheint mir, Doña Leonor, meine Königin, meine Liebe.« Und plötzlich schrie er los, rasend, ohne Sinn: »Du hast mein Leben kaputt geschlagen, du Verfluchte! Du hast mir keinen Sohn geboren, und der, den du geboren hast, war krank und gezeichnet schon in deinem Leibe. Und als mir die Frau, die ich liebte, einen Sohn gebar, hast du sie umgebracht. Ihr Vater, mein weisester, treuester Ratgeber, hat mit Engelszungen auf mich eingeredet, die rechte Zeit abzuwarten für den Krieg. Aber du hast mich gehetzt. Du hast mir dein Hui und Pfui ins Gesicht geschrien, um mich in den Krieg zu jagen mit deinem Gehöhne. Und dann hast du geschwiegen, du Beredte, zu meinem dummen Plan und hast mich in meine verlorene Schlacht rennen lassen, damit du mir die Liebste erschlagen könnest, die mir Gott gesandt hat. Du hast mich zugrund gerichtet, mich und mein Kastilien. Da stehst du, weiß und lieblich und königlich, aber innen ist alles wüst und krumm. Du bist wie deine Mutter, zerfressen von höllischer Bosheit, du Verderberin!«

Doña Leonor hatte eine Sturzwelle von Zorn erwartet; aber daß Alfonso so ohne Maß rasen werde, so sinnlos aus seinen Tiefen heraus, darauf war sie nicht bereitet. Er war imstande, sie mit diesen seinen schmutzigen, unbehandschuhten Händen anzupacken, zu würgen, ihr den Atem abzudrehen. Aber es ging ihr ins Blut, daß er auf so wüste Art drohte und schimpfte, abgründig gemein, ein rechter »Vilain«. Er war gefährlich, und so wollte sie ihn.

Sie trat zurück, leichten Schrittes, trat hinter sich auf ihre Estrade, setzte sich, musterte ihn mit ihren großen, grünen, prüfenden Augen. »Darf ich dich erinnern«, sagte sie gelassen, »daß wir dir einen Vertrag vorlegten, meine Mutter und ich, in Burgos, einen Vertrag mit deinem Schwiegersohn Don Pedro? In diesem Vertrag hast du dich verpflichtet, nicht in den Krieg einzutreten, bevor die aragonischen Truppen da seien. Wir haben alles getan, dich von deinem übereilten Heldentum zurückzuhalten. Meine Mutter hat dir zugeredet wie einem störrischen Kinde. Niemand hat dich gehetzt, nur du selber. Soll ich dir sagen, was schuld war an dem Zusammenbruch? Du hast glänzen wollen, vor mir, vor deinen Freunden, und besonders vor deiner Jüdin. Darum hast du den Kalifen herausgefordert, gegen unsern Vertrag und gegen allen Sinn und Verstand. Darum hast du diese tollkühne Schlacht geschlagen. Darum hast du unser Land und das ganze christliche Hispanien in den Abgrund geritten.«

Don Alfonso stand vor ihr, unterhalb der Estrade. Er schaute ihr in das weiße Gesicht mit der hohen, klaren Stirn und dem dichten, blonden Haar, und er haßte sie wild um der bösen, folgerichtigen Gedanken willen, die hinter dieser Stirn gingen. »Jetzt begreif ich es«, knirschte er leise, bitter, »warum Heinrich deine Mutter gefangenhielt und sie nicht freigab trotz aller Befehle des Papstes. Glaube du nicht, daß ich schwächer bin als er. Ich kann dich nicht umbringen, weil du eine Frau bist. Aber ungestraft laß ich es nicht, daß du mir meine liebe Liebste getötet hast. Ich werde richten, ich werde fragen und weiterfragen, ich werde deine dünnen, schlauen Weisungen an den Tag bringen und die mörderischen Gedanken dahinter, und mag dann alle Christenheit auf dich deuten als die Mörderin. Und deine blutigen Diener, den Castro und die andern, die laß ich nicht heil davonkommen. Du wirst es erleben, meine Liebe, wie ich sie packe. Auf dem Schinderkarren sollen sie mir zum Zocodovér fahren. Und du wirst zusehen, meine Königin, an meiner Seite, auf der Tribüne, wie sie hängen, deine galanten Ritter, deine Lanzelots.«

Leonor schaute ihn unentwegt an. Er schwitzte und war entstellt. Der blonde, kurze Bart war verklebt, da war nichts Junges, Strahlendes mehr, keiner konnte ihn dem Sankt Georg von Domfront vergleichen. Aber es war gut, daß nun endlich das gewalttätige Leben herauskam, das in ihm war; verschlafen wird diesen Mann niemand mehr schelten, auch ihre Mutter nicht.

Sie sagte: »Du redest Worte ohne Sinn, Don Alfonso, weil deine Beischläferin tot ist. Ich bin der Frau in der Galiana nicht zu nahe getreten. Kein Richter wird mich schuldig sprechen, und wenn er alles Kleinste prüft, was ich getan und was ich nicht getan habe.«

Mit einem Male aber war sie der Würde und der Hoheit überdrüssig. Sie verließ ihre Estrade, trat vor ihn hin, ganz nahe, sie roch seinen wilden Geruch, sie sagte ihm ins Gesicht: »Dir aber, und dieses einzige Mal, sag ich es: ich hab es doch getan. Ich hab mir diese ›Noche Toledana‹ gegönnt. Ich sah die tödlichen Gedanken im Kopfe des Castro, ich hab ihn nicht gehalten, ich hab das Castillo vor ihm baumeln lassen. Und Gott hat mir geholfen. Gott hat es gewollt, daß sie untergehen. Warum haben sie sich nicht hinter den Mauern der Judería versteckt bei den andern, dein Kebsweib und ihr Vater? Gott hat sie mit Blindheit geschlagen. Und in deine wütigen, mordgierigen Augen hinein sag ich es: mein Herz war voll Jubel, als sie tot war.«

Alfonso stöhnte, er kehrte den Blick von ihr ab, er tat einen Schritt zurück, in seinem Gesicht war jetzt mehr Qual als Wut.

Leonor hatte ihren Triumph zu Ende geschmeckt. Sie spürte Mitleid mit Alfonso. Sie ging ihm nach, war wieder ganz nahe an ihm. »Laß uns nicht länger rechten, Don Alfonso«, bat sie, und ihre Stimme war ungewöhnlich sanft. »Du bist verwundet, du bist erschöpft. Laß mich dich pflegen; ich schicke dir meinen Meister Reinero, er ist besser als deine Ärzte. Und laß mich dir noch dieses sagen: ich hab es meinethalb getan, aber bestimmt auch deinethalb. Ich liebe dich, Alfonso, du weißt es. Ich war dir treuer als die Mauern deiner Burg alle die Jahre her, und auch, als ich dir diese aus dem Weg räumte. Ich konnte es nicht länger mit anschauen, wie der König von Kastilien, der Vater meiner Kinder, im Schlamm versank. Du kannst mich bloßstellen vor der ganzen Welt. Du kannst mich töten. Aber so war es.«

Alfonso wußte: so war es, aber er befahl sich, es nicht zu glauben. Er konnte Leonor begreifen, doch nur mit dem Verstand. Alles in ihm sträubte sich gegen sie. Er wollte ihre Liebe nicht; die Liebe der Mörderin widerte ihn an.

Er kehrte sich ab, rannte aus dem Zimmer.

Er war nach dieser Unterredung matt auf den Tod, und seine Wunde schmerzte mehr als sonst. Er ließ es zu, daß die Seinen ihn badeten, ihn verbanden, ihn zu Bett brachten. Er schlief lange, tief, traumlos.

Dann ritt er in die Galiana.

Er ritt die engen, steilen Straßen zum Tajo hinunter, ohne Begleitung. Die Leute erkannten ihn, machten ihm Raum, sahen erschreckt das hagere, versteinte Gesicht, entblößten die Häupter und neigten sich tief, viele knieten nieder. Er sah nicht, hörte nicht, er ritt weiter, langsam, vor sich hin starrend; mechanisch, blicklos erwiderte er die Grüße.

Er näherte sich der weißen Mauer. Es war sehr heiß, über der Galiana wob schweres, dunstiges Sonnengeflirr, alles war verzaubert still.

Der Gärtner Belardo schob sich heran. Küßte zaghaft Alfonsos Hand. »Ich bin sehr unglücklich, Herr König«, sagte er. »Ich habe Unsere Herrin nicht schützen können. Aber es waren viele, wohl mehr als zweitausend, und der sie führte, war ein großer Ritter, und ich hatte nur die heilige Hellebarde meines Großvaters, damit konnte ich wenig ausrichten gegen die vielen. Sie schrien: Gott will es!, und dann ist es geschehen. Aber sonst haben sie keinen Schaden angerichtet. Es ist alles in bester Ordnung, Herr König, im Haus und in den Gärten.«

Alfonso sagte: »Ihr habt sie hier in der Galiana begraben, nicht wahr? Führ mich hin!«

Die Stätte war nicht weiter gekennzeichnet. Sie war nahe den Zisternen des Rabbi Chanan, kahl, aufgerissener Rasen. »Wir haben nicht gewußt, was wir tun sollen«, entschuldigte sich Belardo. »Da Unsere Herrin Raquel keine Christin war, habe ich nicht gewagt, ein Kreuz hinzustellen.« Der König winkte ihm, ihn allein zu lassen.

Er hockte auf der Erde, ungelenk, benommen von dem grauen Gespinst aus Hitze, Dunst, Glast. Der Rasen war nachlässig zusammengescharrt, die Stätte sah verwahrlost aus, er hätte keinen Hund so begraben.

Er trachtete sich zu erinnern, wie er hier mit Raquel herumgegangen war, wie sie nackt mit ihm am Rande des Teiches gesessen hatte, trachtete, sich ihr herzförmiges Gesicht zurückzurufen, ihren Gang, ihre Stimme, ihren Leib. Allein er fand nur einzelne Züge; sie selber, Raquel, blieb flirrend, entfernt, ein ungewisses Schimmern. Wenn irgendwo, dann sollte hier ihr Geist umgehen, aber er konnte ihn nicht heraufbeschwören; Geister erschienen wohl nur ungerufen. Vielleicht auch hatte Bertran recht, und Frauen kamen nur dem Blut des Mannes nahe, nicht seiner Seele.

Hier unter ihm lag, was ihm uferloses Glück und wildeste Aufwühlung gebracht hatte, und war Verwesung und Wurmfraß. Aber die Vorstellung ließ ihn merkwürdig stumpf. Was suchte er hier, an diesem kläglichen, häßlichen Grab? Er schuldete ihnen nichts, den beiden, die hier unten lagen. Sie schuldeten ihm. Schuldeten ihm seinen Sohn. Niemals jetzt wird er erfahren, was aus seinem Sancho geworden ist. Es war, als läge das Kind da unten mit den andern, als läge da unten seine, Alfonsos, Zukunft verscharrt und verwesend. Er hätte nicht hierherkommen sollen. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund, die Lippen verzogen sich ihm.

Er schleppte sich fort in den Schatten des nächsten Baumes. Streckte sich hin. Da lag er mit geschlossenen Augen, die Sonne fleckte sein Gesicht. Wieder suchte er sich Raquel zurückzurufen. Doch wieder sah er nur Hüllen, sie selber blieb vag. Er sah sie in einem hemdartigen Gewand, wie sie ihn in ihrem Schlafzimmer erwartete. Sah sie in jenem grünen Kleid, in welchem sie ihm das erstemal begegnet war in Burgos, da sie sich lustig gemacht hatte über das alte Schloß seiner Väter. Und es war Hexerei und schwarze Magie, daß sie ihn damals, wiewohl sie doch gar nicht da war, gezwungen hatte, ihr diese Galiana zu bauen. Noch jetzt zieht sie ihn hierher, während die Geschäfte des Krieges und des Reiches auf ihn warten.

Ein Geschäft freilich hatte er übernommen, dessen er sich nun hier entledigen konnte: er mußte Jehuda die Botschaft des Knaben bestellen. Er verfältete das Gesicht in scharfem Nachdenken, was denn nun der sterbende Alazar gesagt hatte. Ganz deutlich hörte er: »Sag meinem Vater –«, aber was er ihm sagen sollte, fiel ihm und fiel ihm nicht ein.

Er erschlaffte. Dunst war um ihn, alles verschwamm, nichts war greifbar. Auf einmal aber war Raquel da. Aus dem Dunst heraus trat sie, ungeheuer leibhaft mit dem blaßbräunlichen Gesicht und den taubenfarbenen Augen, und war da. So hatte sie ihn angeschaut, in aller Stummheit überaus beredt, als sie sich ihm versagte und er sich auf sie stürzte, und so, als er sie anschrie, sie habe ihm sein Kind gestohlen, und ihr Schweigen war lauter gewesen als jede Anklage.

Mit geschlossenen Augen lag er. Er wußte, es war ein Espejismo, ein Luftbild, ein Fieberbild, er wußte, Raquel war tot. Aber die tote Raquel war heißer lebendig als jemals die lebende. Und während sie ihn unverwandt ansah, begriff er: in seinem Innern hatte er ihre stumme Beredsamkeit immer verstanden, er hatte sich nur verhärtet, er hatte sich zugesperrt und ihre Mahnung und Wahrheit nicht verstehen wollen.

Jetzt öffnete er sich ihrer Wahrheit. Jetzt begriff er, was ihm Raquel eh und je und vergeblich hatte klarmachen wollen: was Verantwortung hieß, was Schuld hieß. Er hatte ungeheure Macht in Händen gehabt und sie mißbraucht; er hatte ruchlos, gedankenlos damit gespielt wie ein Knabe. Er hatte seinen Wein zu Essig gemacht.

Raquels Bild wurde undeutlich. »Geh nicht, geh noch nicht!« bat er, aber hier war nichts, was er hätte halten können. Das Bild verwehte.

Er war erschöpft und plötzlich sehr hungrig. Mühsam erhob er sich, ging ins Haus. Befahl, daß man ihm zu essen bringe. An dem Tisch, an dem er oft mit Raquel gefrühstückt hatte, saß er und aß. Mechanisch, gierig, wölfisch. Dachte an nichts als an Sättigung.

Kraft kehrte ihm zurück. Er stand auf. Er fragte nach der Amme Sa’ad; er wollte sich gewisse Bleibsel Raquels zeigen lassen. Man drückte herum, sagte ihm schließlich, daß Sa’ad tot war. Er schluckte. Wollte mehr wissen. »Sie hat furchtbar geschrien«, erzählte Belardo. »Aber Unsere Herrin Doña Raquel hat keine Furcht gehabt. Sie ist dagestanden wie eine richtige große Dame.«

Alfonso ging durchs Haus. Stand vor jener Inschrift, deren altarabische Lettern er nicht lesen konnte und die sie ihm übersetzt hatte: »Eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg.« Ging weiter. Öffnete Schränke, Truhen. Betastete Kleider Raquels. Dieses helle Kleid hatte sie angehabt damals, als sie mit ihm Schach spielte, und dieses ganz zarte Zeugs, das ihm beinahe in den Fingern zerriß, hatte sie getragen, als die Hunde an ihr hinaufsprangen. Aus der Truhe kam der Duft der Kleider, Raquels Duft. Er warf den Deckel zu. Er war nicht Lanzelot.

Er fand jene Briefe, an ihn gerichtet und nie abgesandt. »Du setzest dein Leben ein für törichte Dinge, weil ein Ritter so tun soll, und das ist sinnlos und hinreißend, und darum liebe ich dich.« Er fand Zeichnungen, die Benjamín gemacht hatte. Er betrachtete sie aufmerksam, er fand Züge, die er an der lebendigen Raquel nie entdeckt hatte. Aber trotzdem: dieser Benjamín hat nur einen Teil von Raquel gesehen, die wahre Raquel hat nur er gesehen, Alfonso, und erst jetzt, da sie nicht mehr auf der Erde war.

Aber in der Welt war sie. In ihm lebte weiter das erfüllte Wissen, das ihm vorhin jenes stumme Antlitz mitgeteilt hatte. Die Mahnungen Rodrigues hatten ihm nur gesagt, was Schuld und Reue sei, sie hatten es ihn nicht spüren machen. Auch seine innere Stimme hatte es ihn nicht spüren machen. Erst jenes stumme Gesicht hatte ihm ins Herz geprägt, was das ist: Verantwortung, Schuld, Reue.

Er raffte sich zusammen. Betete. Ein lästerliches Gebet. Betete zu der Toten, sie möge ihm erscheinen in Stunden der Entscheidung, auf daß ihre Stummheit ihm sage, was er tun und was er lassen müsse.

Gutierre de Castro stand vor dem König mit gespreizten Beinen, die Hand auf dem Knauf des Schwertes, in Haltung.

»Was willst du, Herr König?« fragte er mit seiner etwas quäkenden Stimme. Alfonso schaute dem Mann in das breite, derbe Gesicht. Der Castro schaute ruhig zurück; Furcht hatte er nicht, soviel war gewiß. Dem König war alle Wut verflogen, er wußte nicht mehr, warum er sich mit so grimmiger Wollust danach gesehnt hatte, den Mann hängen zu sehen. Er sagte: »Du hattest Auftrag, das Volk meiner Stadt Toledo zu schützen. Warum hast du es nicht getan?« Der Castro, frech und kalt, erwiderte: »Die Leute waren gereizt durch deine Niederlage, Don Alfonso, sie waren streitlustig, mordlustig. Sie wollten die Schuldigen erschlagen, und sie hielten sehr viele für schuldig. Aber es sind nur wenige umgekommen, keine hundert. Ich konnte der Frau Königin den Handschuh guten Mutes zurückgeben, gewärtig ihrer Zufriedenheit und ihres Dankes.«

Don Alfonso sagte: »Du bist in die Galiana gezogen an der Spitze eines Haufens von Gesindel und hast meinen Escrivano erschlagen und die Mutter meines Sohnes.« Er sprach hart und bündig, doch sehr ruhig. Der Castro antwortete: »Dein Volk verlangte Bestrafung des Verräters. Die Kirche verlangte seine Bestrafung. Mein Amt war, Unschuldige zu schützen. Dieser da war ein Schuldiger.« Der König wartete darauf, daß sich der Castro nun auf jenen dünnen und blutigen Hinweis der Königin berufen und die Verantwortung von sich abschieben werde. Der Castro tat es nicht. Vielmehr fuhr er fort: »Ich sag dir’s offen: ich hätte ihn hingemacht, auch wenn er kein Verräter gewesen wäre. Ich bin Gutierre de Castro und habe seit Jahren mir selber und der Ritterschaft Hispaniens versprochen, den beschnittenen Hund zu züchtigen, der mein Castillo besudelt hat.« Der König sagte: »Der Streit zwischen dir und der Krone Kastiliens war bereinigt, die Buße für deinen Bruder bezahlt. Der Vertrag war unterzeichnet und besiegelt, dein Anspruch beglichen.« Der Castro sagte: »Ich will nicht rechten mit dir, Herr König von Kastilien. Wenn du glaubst, eine gute Klage wider mich zu haben, dann klage bei meinem Lehnsherrn, dem König von Aragon, daß er, der nicht mehr ist als ich, das Gericht der mir Gleichen einberufe. Eines aber laß mich dir sagen, als Ritter dem Ritter. Durch dich ist mein Bruder umgekommen, der ein großer Held war im Krieg und im Tournier, du weißt es, und du hast mir eine Buße Geldes bezahlt, und ich war es zufrieden, weil Heiliger Krieg ist. Jetzt hat es sich gefügt, daß ich einen Menschen erschlug, der mir Schimpf angetan hatte und nichts war als dein Bänker und ein alter Jude. Ich glaube, du fährst nicht schlecht, wenn du die Rechnung abschließt.«

Der König ging darauf nicht ein. Er forderte ihn auf: »Sag mir, wie es hergegangen ist.« Der Castro antwortete: »Ich habe mein Schwert nicht mit dem schlechten Blut besudeln wollen. Ich habe den Menschen mit der Scheide totgeschlagen.« Alfonso, mit Mühe, er mußte Pausen machen zwischen den einzelnen Worten, fragte: »Und wie ist sie umgekommen?« – »Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete der Castro. »Mein Aug war auf den Juden gerichtet, als sie sie hinmachten.« Er sprach gleichgültig, seine Rede trug die Farbe der Wahrheit. Und derb, aufrichtig, fast gutartig fuhr er fort: »Es ist Heiliger Krieg, und ich habe den Groll meines Herzens unterdrückt und bin hierhergekommen, um für dich zu kämpfen. Laß es gut sein, Herr König von Kastilien. Es ist harte Arbeit zu tun ringsum. Ein Ritter sollte kein Wort mehr verlieren über den Unrat, der ausgekehrt ist. Sorge für deine Stadt und ihre Wälle.«

Alfonso merkte mit Verwunderung, daß ihn die Frechheit des Mannes nicht erzürnte. Der Mann hatte wirklich nichts erwähnt von dem zweideutigen Auftrag Doña Leonors, er schob der Dame keine Schuld zu, er stand selber ein für alles, was geschehen war. Sieh an, er ist ein Ritter, dieser Castro, dachte Alfonso.

Der früher so rege, immer tätige Domherr Don Rodrigue besorgte seine Amtsgeschäfte lustlos, raffte sich selten auf, zu lesen oder zu schreiben, hockte herum, trüb und einsam.

Musa konnte ihm nur wenig Gesellschaft leisten. Es gab viele Kranke und Verwundete in Toledo, Musas ruhiges, sicheres Wesen flößte Vertrauen ein, und trotz des Argwohns gegen den Moslem verlangten viele nach seiner berühmten Heilkunst.

Rodrigue beneidete den Freund um die stete Tätigkeit, die ihn von quälenden Gedanken ablenkte, er selber versank immer tiefer in triste Meditationen über die Vergeblichkeit alles Tuns, er war gelähmt im Innersten.

Aus Italien hatte man ihm eine Schrift gesandt, die seiner eigenen Verzweiflung Wort gab; ein junger Prälat hatte sie verfaßt, Lotario de Conti, sie hieß: »De conditione humana – Von der Beschaffenheit des Menschen.« Eine Stelle vor allem drückte sich ihm ein: »Wie nichtig bist du, o Mensch. Wie übel steht es um deinen Leib. Schau auf die Pflanzen und Bäume. Sie bringen Blüten hervor, Blätter, Früchte; du aber, weh dir, du bringst hervor Läuse, Ungeziefer, Gewürm. Jene scheiden aus Öl, Wein, Balsam; du scheidest aus Harn, Speichel, Kot. Jene hauchen aus liebliche Düfte; du gibst Gestank von dir.« Die Sätze ließen Rodrigue nicht los, sie verfolgten ihn bis in seinen Schlaf.

Er sehnte sich kaum mehr nach der stillen Verzückung, die ihm früher letzte Zuflucht gewesen war. Jener inbrünstige, vollkommene Glaube schien ihm jetzt nicht mehr Gnade, sondern billige Betäubung, armselige Flucht aus der Wirklichkeit.

Erleichterung war ihm, daß sich zuweilen Don Benjamín einstellte. Der junge Mensch führte inmitten des eigenen und des allgemeinen Elends das Werk der Akademie mit zäher Gelassenheit weiter. Der Domherr staunte über Benjamíns Willenskraft, seine Besuche verscheuchten ihm die ätzende Melancholie.

Einmal bat er den Schüler: »Wenn es dich nicht zu tief aufwühlt, dann laß mich doch wissen, was geschah und was gesprochen wurde, als du das letztemal in der Galiana warst.«

Benjamín schwieg. Schwieg so lange, daß Don Rodrigue bereits glaubte, er werde nicht antworten. Dann aber fand er heiße Worte, Raquel zu preisen, wie schön sie gewesen sei an diesem ihrem letzten Tag. Und er trug keinen Anstand zu erzählen, daß sie den Schutz der Judería nur deshalb verschmäht hatte, weil ihr vom König aufgetragen war, in der Galiana auf ihn zu warten. Aus seinen Worten sprach der Grimm über die ergebene Glut, mit der sie an ihren Ritter und Liebsten geglaubt hatte.

Den Domherrn erschütterte der Bericht. »Du weißt nicht, was das ist: Liebe«, hatte der König zu ihm gesagt, aber er selber wußte es nicht. Alfonso hatte Raquel »geliebt«, es war Sturm, Gewalt, Gewitter gewesen, aber er war eingesperrt geblieben in sich selber, er hatte nicht mit ihr gefühlt. Da hatte dieser unheilvolle Mensch, dieser Ritter ganz und gar, ein Wort hingeworfen, wahrscheinlich hatte er’s vergessen, kaum daß es gesprochen war, und das flüchtige Wort hatte Raquel in den Tod getrieben. Was immer seine leichtfertige Kühnheit unternahm, schlug zum Unheil aus.

Ein paar Tage später, ein wenig befangen, brachte Benjamín dem Domherrn eine Zeichnung. Er hatte den König aus der Nähe gesehen, er hatte wahrgenommen, wie sehr sich Alfonso verändert hatte; das im einzelnen zu ergründen, hatte er den König gezeichnet, und nun, verlegen und gespannt, brachte er das Bild dem Domherrn.

Der beschaute es, lange. Sah den Kopf eines Mannes, der vieles erfahren und vieles gelitten hatte, aber doch eines Ritters Kopf, eines unbedenklichen, ja, harten und grausamen Mannes Kopf. Er dachte an das Bild des Königs, wie er selber es, in Worten, in seiner Chronik gezeichnet hatte, er dachte an den Kopf des Königs, wie er geprägt war auf den Goldmünzen des Jehuda. Er legte die Zeichnung beiseite. Ging auf und ab. Nahm sie von neuem auf und beschaute sie. Sagte, wunderlich angerührt: »Das also ist König Alfonso von Kastilien.«

Benjamín, betroffen über die Wirkung seiner Zeichnung, sagte: »Ich weiß nicht, ob Alfonso so ist. In meinem Kopfe ist er so.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube nun einmal, daß es besser um die Welt stünde, wenn sie von Weisen geführt würde statt von Kriegern.«

Der Domherr bat ihn, die Zeichnung dazulassen, und lange noch, nachdem Benjamín gegangen war, grübelte er über dem Blatt.

Seine Freundschaft mit Benjamín wurde immer enger. So vertraut mit ihm wurde er, daß er ihn in den eigenen Kleinmut hineinschauen ließ. »Jung an Jahren, wie du bist«, sagte er, »hast du gleichwohl zur Genüge erfahren, wie Dummheit und wüste Wut immer von neuem wegspült, was die Erkenntnis und die Arbeit von Jahrhunderten aufgerichtet haben. Trotzdem läßt du nicht ab, zu grübeln, zu forschen, dich zu plagen. Scheint es dir noch der Mühe wert? Und wem nützt deine Mühe?«

Auf dem Gesicht Benjamíns leuchtete jene fröhliche Verschmitztheit auf, die es früher so jung und liebenswert gemacht hatte. »Du willst mich prüfen, mein hochwürdiger Vater«, antwortete er, »aber du weißt meine Antwort voraus. Gewiß, die Finsternis ist das Übliche und das Licht die Ausnahme. Doch gerade in der ungeheuern Masse Unlicht ist das bißchen Licht doppelte Freude. Ich bin nicht viel, aber ich wäre gar nichts, wenn ich diese Freude nicht spüren könnte. Ich habe die Zuversicht, daß das Licht bleiben und daß es sich mehren wird. Und meine Schuldigkeit ist, daß ich mein Winziges dazu beitrage.«

Den Domherrn beschämte die Zuversicht Benjamíns. Er holte seine Chronik heraus, zwang sich zur Sammlung, versuchte, zu arbeiten. Allein sogleich wieder wurde er inne, wie nichtig seine Bemühung war. Er hatte schaubar machen wollen das Walten der Vorsehung, er hatte tapfer und naiv das Sinnlose dargestellt, als ob Sinn darin wäre. Aber er hatte die Geschehnisse nur zerdacht und zerredet: erklärt hatte er sie nicht.

Wie beneidete er den Musa. Der hatte leicht arbeiten an seiner Chronik. Er hatte einen Leitsatz gefunden, die Ereignisse daran zu messen, den Satz vom Werden und Vergehen der Völker, von ihrer Jugend und ihrem Altern, und sein Allah und sein Prophet bestätigten ihn. In seinem Koran konnte er lesen: »Und ein jedes Volk hat seine Zeit, und wenn diese Zeit kommt, kann keiner sie keine Stunde verschieben noch beschleunigen.«

Ihm, Rodrigue, war es nicht geglückt, Sinn und Ordnung in den Ereignissen zu finden. Ihm wollte scheinen, als ob der rechte Glaube es verbiete, auch nur danach zu suchen. Hatte nicht Paulus den Korinthern geschrieben: »Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind – Quod stultum est Dei, sapentius est hominibus«? Und hatte nicht Tertullian gelehrt, das größte Ereignis in der Geschichte, das Sterben des Gottessohnes, sei glaubwürdig, weil es ungereimt sei? Wenn nun aber die Wege Gottes nicht die der Menschen waren, wenn sie, mit Menschenaugen gesehen und mit Menschenverstand gemessen, närrisch erschienen, war dann nicht schon das bloße Bestreben sündhaft, mit Menschenworten das Walten der Vorsehung darzustellen?

Seit hundert Jahren kämpfte die Christenheit um das Heilige Land, tausend mal tausend Ritter waren umgekommen in diesen Kreuzzügen: gewonnen war so gut wie nichts. Was durch so viel blutiges Sterben erreicht war, das hätten drei vernünftige Gesandte durch die sachlichen Verhandlungen einer einzigen Woche erreichen können. Vor solchem Geschehen versagte freilich alle menschliche Weisheit und nahm jener Satz des Paulus, die Narrheit Gottes, to moron tu theu, τὅ μωϱὅν τοῦ ϑεοῦ, sei weiser als die Menschen, seine ganze höhnische Bedeutung an.

Gebeugt über seine Chronik, leise, böse, sagte Rodrigue vor sich hin: »Es ist alles eitel. Es ist kein Sinn in dem, was geschieht. Es gibt keine Vorsehung.«

Er erschrak vor seinen eigenen Worten. »Absit, absit! Fort damit! Das sei ferne von mir!« befahl er sich.

Aber wenn sein Zweifel an der Vorsehung Ketzerei war, so nicht die Erkenntnis von der Vergeblichkeit der eigenen Bemühung. Da war er am Pult gestanden und hatte gekritzelt und geschmiert den Tag hindurch, auch viele Nächte hindurch, und hatte den Finger Gottes aufzeigen wollen in Ereignissen, deren Sinn nun einmal unergründlich blieb. Da hatte er sich vermessen, die großen Toten der Halbinsel neu zu beleben: den heiligen Ildefonso und den heiligen Julian, die Könige der Goten und die Kalifen der Moslems und die asturischen und kastilischen Grafen und den Kaiser Alfonso und den Cid Compeador. Er hatte sich eingebildet, er sei ein zweiter Prophet Ezechiel, auserwählt, diese Toten zu beschwören, daß sie aufstünden: »Ich will euch Adern geben und Fleisch über euch wachsen lassen und euch mit Haut überziehen und euch Odem einhauchen, daß ihr wieder lebendig werdet.« Aber die Gebeine, die er beschwor, hatten sich nicht wieder zusammengefügt. Sie lebten nicht, die Menschen seiner Chronik; was sie vollführten, war ein klappernder Tanz angestrichener Gerippe.

»Du sollst den Blinden nicht irreführen«, mahnte die Schrift. Genau das hatte er getan. Seine Chronik führte die Blinden noch tiefer ins Dunkle.

Ächzend stand er auf. Holte Scheiter zusammen, häufte sie an der Feuerstätte, zündete sie an. Suchte zusammen die zahllosen Blätter seiner Chronik und seiner Aufzeichnungen. Warf sie ins Feuer, schweigend, mit sehr schmalen Lippen. Sah zu, wie sie verbrannten, Blatt um Blatt. Stocherte in den verkohlenden Pergamenten und Papieren, bis sie Asche waren, die niemand mehr lesen konnte.

Bertran de Born, da ihm seine Verwundung die weitere Teilnahme am Krieg verbot, begehrte fort aus Toledo in seine Heimat. Er wollte seine letzten Jahre als Mönch verbringen, im Kloster Dalon.

Aber seine übel zerhaute Hand schwoll, der Arm schwoll. Er konnte nicht daran denken, sich in solchem Zustand durch die Moslems durchzuschlagen, die die Wege weit hinauf nach dem Norden beherrschten.

Die Wunde brannte, tobte. Der König bat, er möge Musa zu Rate ziehen. Der erklärte, es gebe kein anderes Mittel, als den Arm abzunehmen. Bertran wehrte sich. Spaßte: »Im Kampf habt ihr mir die Hand nicht abnehmen können, ihr Moslems. Jetzt wollt ihr’s mit List machen und mit Gelehrsamkeit.« – »Behalte du den Arm, Herr Bertran«, antwortete gelassen Musa. »Aber dann wird in einer Woche von dir nichts mehr dasein als deine Verse.« Lachend, fluchend fügte sich Bertran.

Er lag auf dem Spannbett, festgebunden. In Augenweite, auf einem kleinen Tisch, lag der Handschuh des Auftrags, den ihm Alfonso gegeben hatte, und neben dem Tisch stand der alte Schildknappe und Sänger Papiol. Musa und der Meister Reinero, nachdem sie Bertran einen starken, schmerzbetäubenden Trank gegeben hatten, machten sich mit Eisen und Feuer an ihr Werk. Bertran aber, während sie an ihm herumhantierten, diktierte seinem Papiol ein Gedicht an Alfonso, den »Sirventés vom Handschuh«.

Der alte Musa hatte viel erlebt, aber kaum je ein so greulich großartiges Schauspiel. Da lag der alte Ritter, aufs Spannbett festgebunden, in dem von verbranntem Fleisch stinkenden Raum, und in Ohnmacht fallend, wieder aufwachend, stöhnend vor Schmerz, Schreie unterdrückend, wieder bewußtlos, wieder aufwachend, diktierte er seine Verse, lustige, grimmige. Manche mißlangen, andere glückten. »Sag’s nach, Papiol, du Dummkopf!« befahl Bertran, und: »Hast du’s begriffen? Wirst du dir’s merken? Hast du die Weise?« fragte er. Der alte Papiol sah, wie begierig sein Herr auf die Wirkung seiner Verse wartete, er bemühte sich, fröhliche, stürmische Anerkennung zu zeigen. Er wiederholte voll Anerkennung die Verse, lachte krampfhaft, konnte nicht aufhören, bis unvermittelt sein Lachen in Geheul und Geschluchze überging.

Alfonso, den Tag darauf, besuchte Bertran. Fragte nach seinem Befinden. Bertran wollte leicht abwinken, aber die Hand war nicht da. »Nun ja«, sagte er, und er berichtete: »Der Arzt glaubt, in zwei Wochen werde ich so weit sein, daß ich verreiten kann. Dann laß ich dich also allein, Herr König, und geh in mein Kloster Dalon. Mein wackerer Papiol ist den Strapazen des Krieges nicht mehr gewachsen. Er besteht darauf, daß wir uns zu Gott zurückziehen.«

Alfonso hatte viel Ruhm und Preis übrig für den »Sirventés vom Handschuh« und versprach eine hohe Schenkung für das Kloster Dalon. »Eine Liebe mußt du mir tun«, bat er. »Sing du mir selber den Sirventés.«

Und Bertran sang:

»Den Handschuh geb ich dir zurück

Nach stolz erfüllter Pflicht.

Wohl stritt ich diesmal ohne Glück.

Doch grämt’s mich nicht

Und macht mich nicht geschämig.

Daß mir die Hand verlorenging

Im Streit für dich, acht ich gering.

Du bist ein großer König.

Drum acht auch du es wenig,

Daß, Herr Alfonso, dieses Mal

Die Überzahl

Den Tag dir stahl.

Ein andrer Tag, ein andres Glück.

Mir fiel die Hand,

Dir fiel ein Stück

Von deinem Land.

Du holst’s zurück.

Mir ist es um die Hand nicht leid,

Sie kam mir ab in gutem Streit,

Ich mag um sie nicht klagen.

Sie hat, da sie den Handschuh trug,

Mit Mut und Fug

Viel Dutzend Feind’ erschlagen.

Jetzt kehr ich in mein Kloster ein

Und will den Rest der Tage mein

In Gottes Zucht verbringen.

Und hab ich auch die Hand nicht mehr,

So will ich doch fürs Christenheer

Noch manche Lieder singen.

Und übers Land und übers Meer

Soll’s allen Rittern klingen:

Auf, Ritter gut und Christenmut!

Haut ein! Stürmt vor!

A lor! A lor!«

Alfonso hörte aufmerksam zu; er spürte den Schwung der Verse, sie gingen ihm ins Blut. Aber sie übertönten nicht die Stimme der Vernunft, die ihm redete von dem Vergeblichen, ein wenig Lächerlichen des alten Ritters.

Überall rings um Toledo schwärmten moslemische Truppen, sie riegelten alle Verbindungsstraßen ab. Aber der umsichtige Kalif ließ sich Zeit, ehe er die Stadt ernstlich und mit ganzer Macht einschloß. Dafür rückte er weit nach Norden vor und unterwarf sich einen großen Teil Kastiliens. Eroberte Talavera, eroberte Maqueda, Escalona, Santa Cruz, Trujillo, eroberte Madrid. Die Kastilier hielten sich mutig. Kräftig wehrten sich vor allem die geistlichen Fürsten; es fielen die Bischöfe von Avila, Segovia, Sigüenza. Aber die ungeheure Überzahl der Moslems warf jeden Widerstand nieder, die Heftigkeit der Abwehr reizte nur ihre Wut. Sie verwüsteten das Land, zerstampften die Äcker, schnitten die Weinreben ab, trieben das Vieh fort.

Unterwarfen auch den größern Teil des Königreichs León. Drangen vor bis zum Flusse Duëro. Zerstörten die alte glorreiche Hauptstadt Salamanca. Besetzten auch in Portugal weite Gebiete. Nahmen das heilige, hochberühmte Kloster Alcobaza. Plünderten es, machten die meisten Mönche nieder. Überall im christlichen Hispanien war Hungersnot, Seuche, Elend. Seit Beginn der Rückeroberung war das Land nicht in solcher Bedrängnis gewesen wie jetzt, nach der sinnlosen Schlacht von Alarcos.

Die christlichen Könige maßen Alfonso die ganze Schuld bei. León und Navarra verhandelten mit den Moslems. Der König von Navarra ging so weit, dem Kalifen ein Bündnis gegen die andern christlichen Fürsten anzubieten. Sein Erbprinz sollte eine Tochter Jakúb Almansúrs heiraten, er wollte den Kalifen als Lehnsherrn anerkennen und alles Gebiet, das die Moslems den andern christlichen Ländern abgenommen hatten, als Vasall des Kalifen verwalten.

Und nun, da er den Norden gesichert hatte, machte sich der Kalif an die Einschließung Toledos. Von den Zinnen der Königsburg sah Alfonso die Mauerbrecher und Belagerungstürme näher rücken, langsam, immer gewaltiger.

Der Castro verlangte Urlaub, um sein eigenes Land, die Markgrafschaft Albarracín, zu verteidigen. Alfonso hatte kein Wort der Widerrede. »Und wie ist es mit meinem Dank, Herr König?« fragte der Castro. »Dank wofür?« antwortete Alfonso.

Doña Leonor war all die Zeit her in Toledo geblieben. Sie glaubte, Alfonsos Wut habe sich in jenem furchtbaren Ausbruch erschöpft, und nun sein Sinn ausgefüllt sei von den Geschäften des Krieges, werde die Erinnerung an die Jüdin schnell verblassen. Wohl vermied er jede persönliche Aussprache und beschränkte sich auf kühle Höflichkeit, aber Leonor war sicher, sie werde ihn zurückgewinnen, wenn sie nur lang genug warte. Sie wartete. Jetzt aber, da der Feind Toledo einschloß, konnte sie’s nicht länger. Hier störte ihre Anwesenheit, in Burgos brauchte man sie.

Im stillen hoffte sie, Alfonso werde sie bitten, zu bleiben.

Sie suchte ihn auf. Nahm ihren ganzen, starken Willen zusammen, jung zu sein, schön zu sein. Sie wußte, ihr ferneres Leben hing ab von dieser Zusammenkunft.

Alfonso, wie die Courtoisie es verlangte, führte sie zu einem Sitz, ließ sich ihr gegenüber nieder, sah ihr höflich aufmerksam in das weiße, schöne Gesicht. Sie, mit ihren ruhigen, grünen Augen, prüfte ihn. Es war nichts mehr in ihm von dem Knabenhaft-Ungestümen, das sie hingerissen hatte; was ihr jetzt entgegenschaute, war ein hartes, scharfzügiges Männergesicht, tief verfurcht, das Gesicht eines Mannes, der viel Pein erfahren hatte und kaum lange Bedenken trug, Pein zuzufügen. Aber auch diesen Alfonso begehrte sie mit ihrem ganzen Wesen.

Hier in Toledo, begann sie, könne sie ihm nicht mehr von Nutzen sein. Sie kehre wohl am besten, solang das noch möglich sei, nach Burgos zurück, um dort für die Töchter zu sorgen und den weitern Verlauf des Krieges abzuwarten. Dort auch könne sie verhandeln mit den wankelmütigen Königen von León und Navarra.

Alfonso hatte viel zugelernt. Er sah in sie hinein, er überblickte ihre innere Landschaft, als wäre sie ein Gelände, auf welchem er eine Schlacht zu schlagen hatte. Mit ihren eigenen Worten hätte er ihr sagen können, was sie dachte und wie sie rechnete. Sie habe – so glaubte sie bestimmt – die andere mit gutem Recht aus dem Weg geschafft, ihm und dem Reich zum Nutzen, und er müsse das einsehen und müsse ihr’s danken. Sie sei jung, sie sei schön, er werde sie in sein Bett zurücknehmen, und Gott werde gnädig sein, und sie werde ihm noch einen Erben gebären. Sicher dachte sie so und wartete darauf, daß er sie auffordern werde, zu bleiben. Aber sie rechnete falsch. Und wenn es gewiß wäre wie das Amen in der Kirche, daß sie ihm einen Sohn gebären wird, er wird die Mörderin Raquels nicht mehr anrühren.

Sie saß aufrecht und doch locker und gelassen. Wartete.

»Ich freue mich deines Entschlusses, Doña Leonor«, antwortete er und lächelte höflich mit seinen schmalen Lippen. »Du erweisest mir und aller Christenheit einen großen Dienst, wenn du nach Burgos gehst und deine erprobte Klugheit nützest, mit den feigen und abtrünnigen Königen zu verhandeln. Auch ich bin froh, unsere Töchter in deiner Hut zu wissen. Ich stelle dir gern ein starkes Geleite zur Verfügung.«

Leonor hörte zu, wog. Seine Leidenschaft für die Jüdin schien fort. Wenn er trotzdem so kalt und nicht ohne Spott zu ihr redete, dann wohl nur, weil er’s für seine Ritterpflicht hielt, sich vor die Tote hinzustellen. Leonor fühlte sich stark genug, mit der Toten um ihn zu kämpfen.

Sie sagte: »Ich höre, du hast keinen Versuch gemacht, den Castro zu halten.« Alfonsos Augen wurden gefährlich hell. Sie war recht dreist, diese da, jenes üble Gespräch wiederaufzunehmen. Aber er bezähmte sich. »Du hast recht gehört«, antwortete er. »Ich dachte nicht daran, einem Menschen lange zuzureden, der mir davonläuft, wenn ich in Bedrängnis bin.« Leonor erwiderte, auch sie mit gleichmütiger Stimme: »Ich glaube, Don Alfonso, du beurteilst den Ritter zu hart. Seine Markgrafschaft ist in der Tat bedroht von dem Emir von Valencia. Ich hatte ihm Lohn in Aussicht gestellt, und du hast ihn lange warten lassen. Er war nicht im Unrecht, wenn er sich in seinem Dank gekürzt fühlte.«

Alfonso wurde sehr blaß, die Backenknochen sprangen ihm noch härter aus dem abgezehrten Gesicht. Aber es gelang ihm, die höfliche Maske zu wahren. »Mit Gottes Hilfe«, sagte er, »werde ich Toledo auch ohne den Castro halten.« – »Es geht nicht darum«, erwiderte Leonor, »du weißt es. Wir müssen verhüten, daß er’s macht wie unsere Vettern von León und Navarra und mit den Moslems zettelt. Oder sich geradezu auf ihre Seite schlägt, wie es der Cid Compeador getan hat, als dein Ahn Alfonso ihn zu kärglich lohnte. Es ist nicht das erstemal, daß wir ihn kränken, und er ist empfindlich. Ihn zu den Moslems zu jagen scheint mir nicht zu unserm Nutzen. Willst du ihm nicht das Castillo überschreiben, Don Alfonso?«

Wieder, und jetzt mit bösem Triumph, spürte Alfonso, was in ihr vorging. Raquel war tot, sie, Leonor, lebte und stand vor ihm, kühl, fürstlich und doch verführerisch, und wollte, daß er der Toten abschwöre, und dann sollte alles sein wie früher. Aber sie täuschte sich, die Tochter der Dame Ellinor. Raquel lebte. »Du wirst mir nicht im Ernst zumuten, Doña Leonor«, sagte er, »daß ich den Verräter auch noch belohne, der mich in der Gefahr verläßt. Ich kaufe mir Routiers, aber keine Ritter. Auch scheint es mir nicht ratsam, meine Juden von Toledo in dieser Zeit der Not zu verstimmen; das aber täte ich, wenn ich den Mörder ihres besten Mannes also ehrte. Meine staatskluge Leonor wird das sicher verstehen.«

In seiner hellen Stimme war nur ein ganz kleiner Hohn. Doch diese kleine Schwingung Hohnes vertrieb Leonor alle Besonnenheit. »Ich habe dem Manne das Castillo versprochen«, sagte sie schrill. »Willst du mich Lügen strafen? Willst du deine Königin bloßstellen, um deinen Juden zu schmeicheln?«

Alfonso, in seinem Innern, jubelte: Hörst du’s, Raquel, wie sie wütet? Aber ich setze mein Siegel nicht unter das, was sie tat. Ich heiße ihren Mord nicht gut. Ich gebe deinem Mörder das Haus nicht. Er sagte: »Ich würde an deiner Stelle von jenem Versprechen lieber nicht reden, Leonor.«

Erst jetzt gab sich Leonor zu, daß sie nichts erreicht hatte durch die Beseitigung Raquels. So wie die Mutter durch die Tötung jener Frau, der Geliebten Heinrichs, nur das eigene Leben zerstört hatte, so war auch sie von der toten Jüdin für immer besiegt. Eisig wehte sie die Angst an, sie werde nun ihr ganzes Leben unfruchtbar und einsam verbringen müssen. Vor ihr dehnte sich die graue Ödnis, von welcher die Mutter gesprochen hatte, die herzzerreibende Acedia, die lange, leere Zeit.

Sie weigerte sich, die grausame Gewißheit anzunehmen. Sie sah den Mann, sie liebte ihn, sie hatte nichts, nur den Mann. Sie mußte sich ihn erhalten. Sie sagte bittend, mit verzweifelter Demut: »Ich erniedrige mich, wie sich noch nie eine Frau meines Geschlechtes erniedrigt hat. Laß mich in Toledo bleiben, Alfonso! Wir wollen nicht mehr von dem Castro reden, aber laß mich bei dir bleiben! Laß uns zusammenbleiben in dieser Not!«

Alfonso erwiderte, und ein jedes Wort fiel klar und kalt von seinen Lippen: »Es hätte keinen Zweck, Leonor. Ich sag es dir, wie es ist: du hast mein Herz verdorren machen, als du sie erschlugst.«

Ein alter, trüber, lateinischer Vers klang in Leonor auf, eine Dichterin aus Graecia hatte ihn gedichtet. »Der Mond ist aufgegangen, auch das Siebengestirn, die Mitternacht ist da, die Stunde verrinnt, ich aber schlafe allein.«

Sie riß sich zusammen. Sie stand sehr aufrecht und sprach: »Du sagst mir das, und es macht mich zu Stein. Und trotzdem: ich habe recht getan, und ich hab es deinethalb getan, und ich täte es nochmals.«

Andern Tages fuhr sie nach Burgos.