Drittes Kapitel

Seitdem Don Jehuda Ibn Esra Nachricht vom Tode König Heinrichs erhalten hatte, wußte er: nun wird binnen Wochen, vielleicht binnen Tagen der große Krieg mit den Moslems ausbrechen, den zu verhindern er Sevilla und sein altes Leben aufgegeben hatte. Jetzt rollte das ungeheure Rad heran, unaufhaltsam. Der Kalif wird seine Heere ins Andalús führen, Niederlagen Alfonsos waren unausbleiblich, und die Bürger Toledos werden die Schuld daran nicht dem König, sie werden sie ihm, Jehuda, und den Juden zuschreiben. Was er als Knabe in Sevilla hat mitansehen müssen, wird sich hier wiederholen. Und die volle Wut Edoms wird die sechstausend fränkischen Flüchtlinge treffen, die er ins Land gezogen hat. Wie hatte er triumphiert, als er das Privileg für sie erlistete; wie ein Oker Harim, ein Mann, der Berge versetzen kann, war er sich vorgekommen. Und nun werden seine Siedler hier Schlimmeres erleiden, als sie es je in Deutschland hätten erdulden müssen. Auf sich gerichtet sah er die frommen, besessenen, verachtungsvollen Augen des Rabbi Tobia.

Meldungen aus Engelland mehrten seine Angst. Anläßlich der Krönung Richards hatte auch eine jüdische Delegation unter Führung des Aaron von Lincoln und des Baruch von York dem König im Dome von Westminster Geschenke überreichen und ihn um Bestätigung der alten Privilegien bitten wollen. Es war aber den Juden der Einlaß in die Kirche verwehrt worden, und das Gerücht hatte sich verbreitet, der König gebe ihr Leben und ihre Habe dem guten Volk von London preis. Geführt von Kreuzfahrern, hatte die Menge die Häuser der Juden geplündert, sie mißhandelt, viele in die Kirchen geschleppt, sie zu taufen, und solche, die widerstrebten, getötet. Ähnliches war in Norwich geschehen, in Lynn und Stamford, in Lincoln und York. Aaron von Lincoln war es geglückt, heil aus London zu fliehen, doch nur um bei den Unruhen in Lincoln umzukommen. Baruch von York hatte sich der Taufe gefügt. Den Tag darauf hatte König Richard ihn gefragt, ob er denn nun auch im Herzen Christ sei. Baruch hatte erwidert, er habe nur sein Leben retten wollen, im Herzen sei er Jude geblieben. »Was fangen wir mit dem Manne an?« hatte Richard den Erzbischof von Canterbury gefragt. »Wenn er Gott nicht dienen will«, hatte mürrisch der Prälat geantwortet, »mag er in Gottes Namen im Dienst des Teufels bleiben.« So war denn Baruch als Jude nach York zurückgekehrt; dort war er mitsamt seiner Familie erschlagen worden.

Wenn sich, erwog Jehuda, solche Dinge in dem vernünftigen Engelland hatten ereignen können, was wird, wenn das Volk nach einer Niederlage aufgehetzt ist, hier in Kastilien geschehen?

Don Ephraim stellte sich bei Jehuda ein. Berichtete, der Graf de Alcalá habe sich an ihn gewandt um ein Darlehen auf seine Güter, er habe ihn aber abgewiesen. »Er ist verschuldet«, führte Ephraim aus, »er verschwendet, vermutlich wird ihn der Krieg vollends aufzehren, und die Güter werden dem Gläubiger billig zufallen. Trotzdem habe ich’s abgelehnt, Alcalá zu beleihen; denn ein Jude, der aus den Nöten eines Kreuzfahrers Vorteil zieht, schafft sich und aller Judenheit Feinde. Ich nehme an, der Graf wird sich jetzt an dich wenden.« – »Ich danke dir für Mitteilung und Rat«, sagte unverbindlich Jehuda.

Eine zweite, wichtigere Mitteilung hatte Don Ephraim. Die Aljama hatte beschlossen, dem König ein Hilfskorps von dreitausend Mann zu stellen.

Jehuda fühlte sich grausam gedemütigt. So nackt und verloren war er schon, daß die Aljama in dieser dringlichsten Not Entschlüsse traf, ohne ihn zu befragen. »Glaubst du, so könnt ihr euch retten?« höhnte er. »Denk an das, was in Engelland geschehen ist.« – »Wir betrauern es, und wir haben es bedacht«, antwortete Don Ephraim. »Gerade darum wollen wir tun, was in unserer Macht steht, König Alfonso – Gott schütze ihn – zum Sieg zu verhelfen. Überdies hatten wir immer geplant, und du selber hast es dem König versprochen, ihm ein Hilfskorps zu stellen.« – »Ich an eurer Stelle«, erwiderte Don Jehuda, »hätte Geld gegeben, Routiers zu werben. Vielleicht auch, zum Zeichen eures guten Willens, hättet ihr zwei- oder dreihundert Mann aus den eigenen Reihen stellen können. Aber die Masse der kräftigen, waffengeübten Männer der Aljama hättet ihr besser zurückbehalten. Ich fürchte, ihr werdet sie nötig haben«, schloß er voll Bitterkeit.

»Ich begreife, daß du so denkst«, entgegnete ruhig Ephraim. »Aber deine Lage, Don Jehuda, ist anders als die unsere, und auch ein so kluger Mann wie du hat es schwer, unter deinen Umständen unsere Situation unbefangen zu beurteilen.« Da er sah, wie schmerzhaft seine Worte den andern trafen, fuhr er nicht ohne Wärme fort: »Ich bin nicht dein Feind, Don Jehuda. Ich vergesse nicht, was alles du für uns getan hast in der Großheit deines Herzens. Wenn jetzt Tage kommen, da du unsere Hilfe brauchst, glaub es mir, wir sind bereit.« Jehuda, trocken, grimmig, antwortete: »Ich danke euch.«

Er ging, nachdem ihn Ephraim verlassen hatte, prüfend durch sein Haus. Beschaute die Kunstwerke, die Bücher, die Schriftrollen, nahm die eine, die andere heraus, betastete die Urschrift der Lebensdarstellung des Avicenna. Ging in den Saal seiner Schreiber. Nahm Briefe heraus, überlas sie. Man bot ihm in ehrerbietigen Wendungen Verträge an, Geschäfte, fragte um Rat; sichtlich hielt man ihn nach wie vor für den mächtigsten Mann der Halbinsel. Er überschlug die Aufstellungen seiner Repositarii, um zu errechnen, wie groß sein Vermögen sei. Die Kriegsrüstungen, die vielen Verkäufe und Beleihungen, die Gewinne aus neu ausgegebenem Geld hatten seinen Reichtum vermehrt. Er rechnete, überprüfte, rechnete von neuem. Es waren an die dreihundertfünfzigtausend Goldmaravedí, die er besaß. Er sprach die ungeheure Summe vor sich hin, langsam, arabisch, beinahe ungläubig. Aus seiner großen Schmucktruhe suchte er hervor die Brustplatte des Familiars, betastete sie. Schüttelte lächelnd den Kopf. Da stand er, ertrinkend in Schätzen, Ehren, Macht – es war die Tünche eines Grabes.

Mit heftiger Bewegung tat er das dunkle Geträume ab. Don Ephraim sollte ihn nicht zaghaft machen.

Er belieh die Güter des Grafen de Alcalá.

Allein die Worte des Párnas hatten sich tief in ihn eingesenkt. Es war so, wie Don Ephraim nüchtern festgestellt hatte: er, Jehuda Ibn Esra, war mehr bedroht als jeder andere. Wenn er vernünftig war, machte er sich so schnell wie möglich fort und rettete sich, Raquel und den Enkel in den Bereich der östlichen Moslems, den Bereich des Sultans Saladin, der den Juden freund war.

Raquel wird widerstreben, wird bei Alfonso bleiben wollen. Und wenn es ihm gelingen sollte, sie zu überreden, dann wird ihn Alfonso verfolgen lassen. Und wie sollten sich so auffällige Flüchtlinge durch die ganze feindliche, christliche Welt in den Osten durchschlagen?

Und durfte er auch nur den Versuch machen, sich und die Seinen zu retten? Durfte er die fränkischen Siedler hilflos in der Gefahr zurücklassen? Helfen freilich konnte er ihnen nicht; im Gegenteil, sein Bleiben gefährdete sie nur, sie und alle Judenheit. Aber das werden sie nicht wahrhaben wollen. Sie werden, wenn er sich fortmachte, jeden Schimpf auf seinen Namen häufen. Der Mann der großen Sendung, werden sie höhnen, der Wohltäter Israels, Jehuda Ibn Esra, sei davongelaufen, als er einstehen sollte für sein Wort und sein Werk. Und er wird als Feigling und Verräter dastehen für alle Zukunft.

In den Sinn kam ihm ein Satz des Mose Ben Maimon: in jedem Juden sei etwas von einem Propheten, und dieses Prophetische in der Seele zu fördern, sei Pflicht. In ihm haftengeblieben, ihm schmeichelnd, waren die Worte des Ephraim, er habe viel für die Juden getan in Großheit des Herzens. Nein, er wird das Prophetische in seinem Herzen nicht ersticken, er wird nicht trachten, seiner Sendung davonzulaufen. Er wird in Toledo bleiben.

Er mühte sich, aufrichtig zu ergründen, was ihn denn nun, gegen die Vernunft, am Orte der Gefahr zurückhielt. War es Angst vor den Gefahren der Flucht? War es Liebe zu Raquel, welche die Trennung von Alfonso nicht überstehen würde? War es Ehrgeiz und Hoffart, weil er den Namen Ibn Esra nicht beflecken wollte? War es Treue zu seiner Sendung? Alles das war in ihm, er konnte seine Gründe nicht auseinanderflechten.

Inmitten der Zweifel und Sorgen wuchs ihm ein Entschluß. Sich selber helfen konnte er nicht, auch Raquel konnte er nicht helfen. Wohl aber dem Enkelsohn.

Er hat geschworen, den Enkel nicht zum Juden zu machen, und er wird den wahnwitzigen, abscheulichen Schwur halten. Doch kein Gelübde zwingt ihn, das Kind hier in Toledo zu lassen. Nun er ins Feld zieht, wird Alfonso darauf bestehen, den Knaben vorher zu taufen; die Rücksicht auf Raquel wird ihn nicht länger abhalten. Er, Jehuda, mußte das Kind fortschaffen, bevor der König in Toledo zurück war.

Raquel verbrachte die meiste Zeit in der Galiana.

Es war ihr bekannt, daß in den nächsten Wochen der große, furchtbare Krieg ausbrechen mußte, aber sie fürchtete sich nicht. Seitdem Gott ihr das glückhafte Geschenk ihres Immanuel gemacht hatte, war sie voll einer tiefen Sicherheit, warm und geschützt in der Hand Adonais oder, wie Onkel Musa es nannte, im Mantel des Schicksals.

Sie sehnte sich nach Alfonso, doch nicht mit der fieberigen, aus Jubel in Verzweiflung und wieder in Jubel umschlagenden Sehnsucht wie früher. Vielmehr war sie aus eben jenem tiefen Vertrauen heraus gewiß, daß er aus seiner Ritterwelt immer wieder zu ihr zurückkehren werde. Was ihn rief, war nicht nur die ungemessene Lust, die sie einander gaben, es war noch ein anderes: er liebte die Mutter seines Sohnes, sein Sancho wurde auch ihm zum Immanuel, sie wuchsen, Raquel und Alfonso, einander zu.

Oftmals schaute sie minutenlang reglos, selig hingegeben, in das zarte, längliche Gesicht ihres Söhnchens, ihres Immanuel, des Messias. Sie hatte nur ein vages Bild des Messias, eine undeutliche Vorstellung von etwas Hohem, Hellem, und sie hatte keine leise Ahnung, auf welche Art dieser ihr kleiner Sohn der Welt das Heil bringen sollte; aber sie wußte: er wird es bringen. Doch hielt sie dieses Wissen auch weiter in ihrer Brust; es erschien ihr lästerlich, davon zu reden.

Nicht einmal mit Don Benjamín sprach sie davon, wiewohl sich ihre Freundschaft vertieft hatte. Es war eine Freundschaft ohne viele Worte. Er las ihr aus einem Buch vor, oder sie gingen still die Wege des Gartens entlang.

Den Sabbat verbrachte Raquel nach wie vor bei ihrem Vater im Castillo.

Einmal nach dem Ausgang eines solchen Sabbats – der Geruch der Gewürze und der im Wein gelöschten Kerze war noch in der Luft – fragte Jehuda die Tochter: »Wie geht es deinem Sohn, meinem Enkel?« Er hatte den Enkel nie gesehen, die Galiana nie betreten. Raquel wußte, wie sehr er sich nach dem Anblick des Knaben sehnte, aber sie hatte Scheu, Immanuel aus der Galiana wegzubringen. Wiewohl er ihr gehörte, wäre sie Alfonso zu nahe getreten, wenn sie das Kind, und sei es nur auf eine Stunde, ohne seine Zustimmung weggebracht hätte.

Leise, behutsam, doch nicht ohne glücklichen Stolz, denn sie fürchtete und hoffte, der Vater werde sie nach ihrem heimlichsten Wissen fragen, antwortete sie: »Immanuel ist gesund und gedeiht herrlich in der Gnade Gottes.« Jehuda, mühsam, er mußte alle Kraft zusammennehmen für diese Unterredung, sagte: »Er wird der Gnade Gottes sehr bedürfen, dein Sohn, mein Enkel, in der nächsten Zeit.« Und da Raquel verwundert hochsah, setzte er ihr auseinander: »Wäre er nur Alfonsos Sohn, dann wäre er nicht gefährdet, und er wäre nicht gefährdet, wäre er nur dein Sohn. Ihn gefährdet, daß er dein und Alfonsos Sohn ist. Als Sohn Alfonsos ist er zu Großem bestimmt; das wissen alle, und sie billigen es. Doch viele sehen es nicht gern, daß ein Sohn von dir zu Großem bestimmt ist. Im Castillo von Burgos sind jetzt zahlreiche versammelt, die es nicht gerne sehen. Wir haben diesen Mächtigen nichts entgegenzustellen als das Vertrauen auf Gott.«

Raquel wurde aus den Worten des Vaters nicht klug. Er sprach wohl von Alfonsos Absicht, den Knaben taufen zu lassen, und nahm an, Alfonso werde auf ihre Wünsche keine Rücksicht mehr nehmen, schon um das Kind vor den Nachstellungen der Gegner zu schützen. Ja, einen Atemzug lang wünschte sie’s. Sogleich aber kam ihr die ganze Sündhaftigkeit des Wunsches zu Bewußtsein; es war nicht denkbar, daß Immanuel entweiht werden sollte durch das Wasser des Götzendienstes. Und der Vater kannte ihren Alfonso nicht. Alfonso liebte sie, Alfonso wuchs ihr zu, niemals wird er sie derart in die Seele hinein kränken. Sie sagte fast bittend: »Alfonso hat mir nur ein einziges Mal davon gesprochen, daß er unsern Immanuel taufen lassen wolle. Dann nie mehr. Ich bin gewiß, er hat verzichtet.« Jehuda wollte ihr den Glauben nicht nehmen, er ging darauf nicht ein. Er sagte: »Don Alfonso hat Papiere vorbereitet, die deinen Sohn zum Grafen von Olmedo machen. Ich kann mir nicht denken, daß eine gewisse Dame, die dem König nur Töchter geboren hat, das hinnehmen wird. Don Alfonso ist ein mutiger Mann und ohne Arg und Vorsicht. Er ist nicht geneigt, einer so großen und ihm nahestehenden Dame ein Verbrechen zuzutrauen. Ich fürchte, er irrt sich.«

Raquel war erblaßt. Sie dachte an die vielerlei Geschichten von bösen, eifersüchtigen Frauen, welche die Lieblingssklavin des Mannes quälten und umbrachten. Und hatte nicht sogar die Stammesmutter Sara, die eine große, fromme Frau war, aus Neid und Eifersucht das Kebsweib Hagar mit dem kleinen Ismael in die Wüste getrieben, auf daß sie verdursten sollten? Raquel schwieg lange, eine volle Minute lang. Dann fragte sie: »Was rätst du, mein Vater?« Der antwortete: »Wir könnten versuchen, zu fliehen, du, ich und das Kind. Aber es wäre gefährlich. Wir sind auffällige Leute, wir können uns schwer verbergen, und das Volk ist erregt, es denkt an den Krieg, es sieht Feinde in allen Fremden.«

Raquel, mit blassen Lippen, fragte: »Ich soll vor Alfonso fliehen?« – »Nicht doch«, beruhigte sie Jehuda. »Sagte ich nicht, es wäre gefährlich? Besser ist es, das Kind allein wegzubringen in sichere Hut.« Raquel sagte, und ihr ganzer Leib war Abwehr: »Ich soll das Kind vor Alfonso verstecken?« Jehuda, vorsichtig, beschwichtigend, antwortete: »Dein Alfonso weiß es nicht, aber er kann den Knaben nicht schützen. Der Knabe ist sicher nur in Alfonsos Gegenwart, und er zieht in den Krieg und kann das Kind nicht mitnehmen. Niemand kann das Kind schützen hier in Kastilien. Du rettest das Leben unseres Immanuel, wenn du dich für die Dauer des Krieges von ihm trennst.« Da sie schwieg, fuhr er fort: »Ich hätte das Kind wegbringen lassen können, ohne dich zu fragen, und dir hinterher erklären, warum es so sein mußte, und ich weiß, du hättest mich verstanden und mir verziehen. Aber du bist eine Ibn Esra. Ich will keine Heimlichkeiten haben vor dir, ich will dir keine Verantwortung abnehmen. Ich bitte dich, alles gut zu bedenken, und dann sag mir: So geschehe es, oder: So geschehe es nicht.«

Raquel, in ungeheurer Not, sagte: »Du willst das Kind aus Kastilien fortbringen?« Und nochmals: »Du willst Immanuel aus Kastilien fortbringen?« Jehuda sah ihre Not, Erbarmen schnürte ihm die Brust, er sagte zärtlich und konnte nicht verhindern, daß er ein wenig lispelte: »Hab keine Angst, Raquel, meine Tochter. Vertraue mir. Ich lasse das Kind wegbringen durch einen geschickten und sichern Mann, den sichersten, den ich kenne, und den treuesten. Niemand soll wissen, wo das Kind ist, nur dieser Getreue. Niemand soll hier in Toledo sein, der dem König sagen könnte, wo das Kind ist. Wenn er dir droht, wenn er eine Antwort erzwingen will, dann sollst du erwidern: ›Ich weiß es nicht‹, und es soll die Wahrheit sein.« Und da Raquel hilflos und verlöscht dasaß, sagte er: »Auf solche Art ist das Kind nicht gefährdet, und du bist es nicht, meine Raquel. Der einzige, der sich gefährdet, bin ich. Ich will diesen Knaben retten, deinen Sohn, meinen Enkel. Wenn der Krieg vorbei ist, wenn das Land wieder ruhig ist, wenn Alfonso ruhig geworden ist, dann holen wir Immanuel zurück.« Er wartete lange. Dann sagte er: »Ich will nicht, meine Tochter, daß du in dieser Sache irgend etwas tust. Du sollst nichts davon wissen, wie diese Tat geschieht. Ich bitte dich nur: sag nicht nein. Alles andere falle auf mein Haupt.«

Für eine ganz kurze Weile stellte sich Raquel vor, was es bedeutete, daß der Vater den Zorn Alfonsos auf sich zu ziehen bereit war. Sie wußte, wie furchtbar Alfonso in seinem Zorn war; es war sehr wohl möglich, daß er den Vater tötete in seiner Wut. Dies alles nahm der Vater auf sich, um Immanuel zu retten. Dabei hatte er sich’s aus geheimnisvollen Gründen versagt, den Knaben auch nur zu sehen. Er war tapfer. Er ließ immer die hohe Vernunft, die Gott ihm gegeben hatte, siegen über seine Gefühle. Sie konnte das nicht. Nicht einmal ihrem Gefühl konnte sie vertrauen. War sie nicht vor einer halben Stunde noch ihres Glückes sicher gewesen, geborgen im Mantel des Schicksals? Und jetzt hatte sie Angst um das Kind und um den Mann. Wenn sie sich jetzt weigerte, Immanuel fortzugeben, gefährdete sie dann nicht sein Leben? Und wenn sie ihn fortgab, verlor sie dann nicht die Liebe des Mannes? Laut plötzlich, als würden sie hier und jetzt gesprochen, hörte sie die Worte ihrer Freundin Layla: »Du Arme.«

Sie versuchte, die Trümmer der früheren seligen Gewißheit zusammenzustücken. Die Trennung von Immanuel wird nur kurze Zeit dauern. Und Alfonso mußte sie verstehen, Alfonso wuchs ihr zu.

Nach einer ewigen Minute sagte sie: »Es geschehe, wie du es für recht hältst, mein Vater.«

Dann aber fiel sie um, in Ohnmacht. Der Vater, um sie bemüht, dachte: So war sie umgefallen, damals, als ich sie beredete, zu diesem König zu gehen. Er spürte grenzenloses Mitleid mit der Ohnmächtigen, und er beneidete sie. Ihm war es versagt, in solche Ohnmacht zu flüchten, er mußte sein Elend in Bewußtsein zu Ende kosten.

Alfonso war auf dem Weg von Burgos nach Toledo. In seiner Begleitung waren der Erzbischof Don Martín, der Ritter Bertran de Born, der Schildknappe Alazar.

Das Land, durch welches sie ritten, rüstete zum Feldzug. Auf allen Straßen zogen junge Männer den Burgen ihrer Lehnsherren zu, überall waren kleine Gruppen Bewaffneter auf dem Weg nach dem Süden. Alfonso und seine Begleiter musterten sie sachkundig, muntere Zurufe, Scherze flogen hin und her zwischen den Herren und ihren künftigen Soldaten.

Der König war fröhlich wie ein Fohlen. Er freute sich auf den Krieg, er freute sich darauf, das Söhnchen wiederzusehen, den lieben Bastard Sancho, das Gräflein von Olmedo. Er spürte für das Söhnchen eine fröhliche, kräftige, väterliche Liebe, der kleine Sancho sollte sie zu spüren bekommen. Er selber war ohne Vater aufgewachsen; er war mit drei Jahren König geworden, und niemand hatte gewagt, den Knaben, der König war, ernstlich zurechtzuweisen. Das Kind sollte kein Muttersöhnchen werden, es sollte die Hand des Vaters spüren. Sowie er zurück ist, wird er die Hand auf den Sohn legen. Sogleich, schon am ersten Tag, wird er Sancho taufen lassen. Raquel wird ihn verstehen. Er wird auch sie der Gnade zuführen, wenn es sein muß, mit Strenge, und sie wird ihm dankbar sein.

Er ritt ein in Toledo, säuberte sich, zog sich um, ritt zu Raquel. Alafia, Heil, Segen, grüßte es vom Tor der Besitzung. Im Eingang des Hauses stand Raquel. Ungestüm, stolz und zärtlich riß er sie an sich. Sie spürte nichts als strömendes Glück, daß er wieder da war. Sie gingen ins Haus, er den Arm fest um ihre Schulter. Er ließ sie los, stellte sie vor sich hin, schaute sie an von Kopf zu Fuß, lachend, glücklich.

Dann sagte er: »Und jetzt zu dem kleinen Sancho.«

Raquel sagte: »Er ist nicht da.«

Alfonso trat einen kleinen Schritt zurück, er begriff nicht, er starrte sie an, beinah dumm vor Staunen. Fragte: »Wo ist er denn?« Ein böser Verdacht stieg ihm auf. War das Kind im Castillo?

Sie nahm allen Mut zusammen und sagte tapfer und der Wahrheit gemäß: »Ich weiß es nicht.« Seine Augen wurden hell von jenem Zorn, den sie kannte. »Du weißt nicht, wo mein Kind ist?« fragte er leise, wild. Raquel sagte: »In Sicherheit. Unser Sohn ist in Sicherheit, das ist alles, was ich weiß. Mein Vater hat ihn in Sicherheit gebracht.«

Alfonso packte sie am Arm, so fest, daß sie einen kleinen Schrei nicht unterdrücken konnte. Packte sie an den Schultern, schüttelte sie. Das Gesicht ganz nah an dem ihren, bewarf er sie mit wütigen Worten: »Du hast meinen Sohn, meinen Sohn Sancho hast du deinem Vater überlassen? Er hat seinen heiligen Eid gebrochen, der Hund, und du hast es geduldet? Hast ihm noch geholfen, was?«

Raquel, mit Mühe, sagte: »Ich habe nicht geholfen, ich habe meinem Vater das Kind nicht übergeben. Aber ich weiß, und ich sag es dir: mein Vater hat recht.«

Alfonsos Hirn war überschwemmt mit Schelt- und Schimpfreden aus den Sendschreiben des Papstes gegen die Juden, aus den Haßpredigten der Geistlichen: Das Gezücht der Hölle, der Sturmvogel des Satans. Es riß ihm die Hand zur Faust zusammen, auf sie einzuschlagen.

Da sah er sie.

Sie hatte Brust und Kopf zurückgebogen und die eine Hand leicht gehoben, in Abwehr, nicht in Furcht. Aus dem blaßbräunlichen Gesicht schauten ihm noch größer als sonst die blaugrauen Augen entgegen. In ihnen war Staunen, Schreck, Enttäuschung, Erschütterung, Zürnen, Trauer, Liebe; alles, was ihre Lippen nicht sagten, vielleicht nicht sagen konnten, das sagten Blick und Gebärde mit solcher Gewalt, daß er, der Welt und Menschen mit den Augen begriff, es wider Willen sogleich spürte, erkannte.

Er ließ die Hand sinken. Schnaubte, ein kleines, verächtliches, böswilliges Schnauben. »Ihr habt mir also das Kind gestohlen, ihr Juden«, sagte er. »Ich hätte mir’s denken sollen.« Er lachte. Ein helles, zerhacktes, häßliches Lachen, das Raquel in den Kopf drang wie ein Messer.

Er drehte sich unvermittelt um, verließ das Haus, ritt zurück nach Toledo.

Befahl Jehuda in die Burg. »Du hast also deinen Eid gebrochen«, stellte er sachlich fest. Jehuda antwortete: »Das hab ich nicht, Herr König. Es fiel mir nicht leicht, den übeln Eid zu halten, aber ich hab ihn gehalten. Ich habe meinen Enkel nicht zum Juden gemacht, Gott verzeih mir das Verbrechen.«

Alfonso brach aus: »Du hast meinen Sohn gestohlen, du Hund! Du hältst ihn als Geisel. Du willst mich zwingen, meinen Feldzug aufzugeben, deine Moslems zu schonen. Hund! Verräter! Ich lasse dich hängen!«

Jehuda erwiderte still: »Niemand hält deinen Sohn als Geisel, Herr König. Das Kind ist in Sicherheit vor dem Krieg, vor den Christen und vor den Moslems, das ist alles. Hier in Toledo ist das Kind gefährdet, wenn deine Majestät nicht da ist. Überdenk es in Ruhe, Herr König, und du wirst das gleiche finden. Jetzt ist der Knabe in zuverlässigen Händen. Raquel weiß nicht, wo er ist. Das ist hart für sie. Auch ich weiß es nicht genau, und es ist hart auch für mich.« Mit der alten Überlegenheit und unterwürfigen Dreistigkeit fügte er hinzu: »Ich begreife, daß es dich verlangt, mich hängen zu lassen. Aber dadurch würdest du den Mund stumm machen, der dir einmal wird sagen können, wie es um deinen Sohn steht.« Und mit ehrerbietiger Vertraulichkeit schloß er: »Wenn der Krieg vorbei und keine Gefahr mehr ist, hole ich das Kind zurück. Sei du des gewiß, Herr König. Ich habe meinen Enkel nie gesehen; ich möchte ihn sehen, bevor ich hinuntergehe. Auch Raquel könnte es schwerlich tragen, das Kind zu verlieren.«

Würgend überfiel den Alfonso die Erkenntnis seiner Hilflosigkeit. Unlöslich verknüpft mit dem Juden war er. Der Jude hielt ihn an der Leine.

Ohne ein Wort, mit einer zornigen, herrischen Gebärde wies er ihn aus dem Raum.

Ruhiger geworden sagte er sich, daß ihm Jehuda den Sohn nicht aus reiner Bosheit gestohlen hatte. Raquel hatte nicht gelogen; sie wußte offenbar wirklich nicht, wo das Kind versteckt war, und sicherlich nicht hatte sie es dem Jehuda leichten Herzens überlassen.

Das Bild der stumm beredten Raquel, ihrer zürnenden, trauernden, klagenden, liebenden Gebärde wollte ihm nicht aus dem Sinn. Voll kindlichen Zornes suchte er’s zu vertreiben. Rief sich zurück Gesten und Reden Raquels, die irgendwann sein Mißfallen erregt hatten, eine nach der andern, mit bösartiger Vollständigkeit. Wie unbehaglich ihr zumute gewesen war, als er sie vor sich aufs Pferd gehoben und mit ihr galoppiert hatte. Auch für seine Hunde, seine Falken hatte sie niemals Teilnahme gezeigt. »Wer die Tiere nicht liebt, und wen die Tiere nicht lieben, ist verflucht«, hieß es mit Recht. Sie hatte kein Aug und kein Herz für seine ritterlichen Tugenden, seine königlichen Gaben, eher waren sie ihr verdächtig. Sie haßte den Krieg. Sie gehörte zu den Schwachen, zu den Feigen, welche nur die Tapfern behindern auf ihrem von Gott vorgeschriebenen Weg. Eine Vilaine war sie von Wesen, Jüdin durch und durch. Sie vorenthielt seinem Sohne Taufe, Gnade, Seelenheil.

Er flüchtete in die Geschäfte. Besichtigte Soldaten, verhandelte mit Baronen, Feldhauptleuten. Aß und trank mit dem Erzbischof, mit Bertran.

Abend kam, Nacht. Er sehnte sich nach Raquel. Nicht nach ihrer Umarmung, das nicht: nach einer Auseinandersetzung. Er wollte ihr in das reine, unschuldige, verlogene Gesicht hinein sagen, was er von ihr dachte, was für eine sie war. Aber er verharrte in kindischem Trotz und blieb, wiewohl es ihn zog und riß, in seiner Burg.

So verlief auch der nächste Tag.

Als aber die zweite Nacht einfiel, ritt er in die Galiana. Übergab sein Pferd den Knechten, ließ sich nicht melden, ging durch den Garten. Lobte sich, daß er die Zisternen des Rabbi Chanan hatte zuschütten lassen. Sah befriedigt, daß das Glas der Mesusa fehlte.

Stand vor Raquel. Sie leuchtete auf. Er hatte sich all das Böse zurechtgelegt, das er ihr sagen wollte, lateinisch, einiges auch arabisch, damit sie es bestimmt verstehe. Er sagte es nicht, er gab sich nur mürrisch, einsilbig.

Später dann, im Bett, fiel er mit wütiger Lust über sie her. Haß, Liebe, Gier mischten sich ihm. Er wollte, daß sie das spüre. Sie spürte es wohl auch, und das machte ihm Freude.

Eine moslemische Gesandtschaft traf in Toledo ein, um dem König von Kastilien eine Botschaft des Kalifen zu überbringen. Es verlautete, die Gesandten sollten den König an seinen Vertrag mit Sevilla erinnern. Man hatte also in Burgos richtig vermutet: der Kalif wollte dem Kriege fernbleiben, wenn nur Don Alfonso den Waffenstillstand mit Sevilla nicht offen verletzte.

Don Manrique de Lara und fast alle andern Berater des Königs freuten sich von Herzen, daß sich Kastilien und Aragon nicht mit der ganzen Macht des Kalifen würden messen müssen. Dem Domherrn Rodrigue gar war das Eintreffen der Delegierten ein großes Licht in seiner Trübsal. Wenn nur Don Alfonso sich zähmte und die Gesandten mit einigem Takt behandelte, dann wird sich der Krieg auf Schlachten und Scharmützel mit den Emiren von Córdova und Sevilla beschränken, er wird nicht die ganze Halbinsel in Blut und Elend tauchen.

Dem König selber war die Ankunft der Gesandten keineswegs willkommen. Er war ungeduldig und gereizt. Er wollte Toledo, wollte den Frieden hinter sich haben. Wollte auch die Galiana hinter sich haben. Wollte endlich, endlich! seinen Krieg beginnen. Und da kamen nun diese Beschnittenen, um von neuem zu schwatzen und zu verhandeln. Aber er hatte in Burgos Konzessionen genug gemacht, er war nicht gewillt, nun auch noch diesem Jakúb Almansúr demütigende Versicherungen abzugeben. Er dachte daran, die Gesandten grob abzufertigen oder sie gar nicht erst zu empfangen.

Der Erzbischof und Bertran bestärkten ihn in seinem Trotz. Don Manrique indes hatte mit dem Domherrn alle die hellen Aussichten erwogen, welche das Eintreffen der Gesandtschaft öffnete, und er stellte dem König in dringlichen Worten vor, das Wohl des Reiches und der ganzen Christenheit verlange, daß er auf das Spiel des Kalifen eingehe und dessen Warnung mit ernsten Beteuerungen erwidere. Wenn er sich weigere, wenn er Jakúb Almansúr herausfordere und kränke, statt ihn zu sänftigen, dann ziehe er die Heere des ganzen westlichen Islams ins Andalús, dann werfe er den Kriegsplan von vornherein über den Haufen und breche den Vertrag, den er in Burgos feierlich beschworen habe. Alfonso erwiderte störrisch, er widerstrebte lange und setzte erst auf unablässiges Zureden Don Manriques mürrisch eine Stunde fest, die Gesandtschaft zu empfangen.

Die moslemischen Herren wurden geführt von dem Prinzen Abul-Asbag, einem Verwandten des Kalifen, sie traten glänzend auf. Alfonso empfing sie, umgeben von seinen Räten und Granden, in dem mit Wandteppichen und Standarten geschmückten Großen Audienzsaal.

Es wurden unter mancherlei Zeremoniell die üblichen, umständlichen Einführungsreden ausgetauscht. Alfonso, fürstlich lässig auf seinem erhöhten Sitz, hörte das feierlich förmliche Geschwatze. Er sah das finstere Gesicht des Erzbischofs, das spöttische Bertrans, das sorgenvolle Don Rodrigues. Und immer wieder suchte sein Aug den Juden, der sich bescheiden in einer hinteren Reihe hielt. Dieser Jehuda war schuld daran, wenn er, Alfonso, früher der Erste Ritter der Christenheit, heute kläglich zurückstand hinter Richard von Engelland. Mit diesem, dem Melek Rik, drohten die moslemischen Weiber ihren Kindern; ihm, Alfonso, vermutlich infolge gewisser Ränke des Jehuda, schickten die Moslems einen Gesandten, um ihn zu verwarnen. Seine Räte, mit ihrer kläglichen Vernünftelei, hatten ihn beschwatzt, daß er das Gerede dieses Beschnittenen über sich ergehen ließ. Aber sie sollten seiner nicht zu sicher sein, der Jude nicht, und seine alten vorsichtigen Herren nicht. Sie werden seine innere Stimme nicht zum Schweigen bringen. Nur ihr wird er folgen.

Prinz Abul-Asbag, der Führer der Gesandtschaft, trat vor, verneigte sich tief, begann seine Botschaft. Der Prinz war ein gepflegter älterer Herr, der blaue Mantel des Gesandten stand ihm gut, die arabischen Worte kamen ruhig und tönend aus seinem Munde.

Der Beherrscher der westlichen Gläubigen, führte er aus, habe mit Besorgnis gehört von umfänglichen Rüstungen des Herrn Königs von Kastilien. Der Kalif nehme an, diese Rüstungen richteten sich nicht gegen den Emir von Sevilla, seinen Vasallen, der ja durch den Waffenstillstand geschützt sei. Leider aber habe sich in letzter Zeit in den Ländern der Christen die verbrecherische, aberwitzige Lehre verbreitet, es sei ein Vertrag, wenn er gegen die Interessen der christlichen Priester verstoße, für Christen nicht bindend. Christliche Fürsten des Morgenlandes hätten frech nach diesen Lehren gehandelt, Sultan Saladin sei dadurch genötigt gewesen, den Heiligen Krieg auszurufen, Allah habe den Herrscher der östlichen Gläubigen glorreich bestätigt und ihm die Stadt Jerusalem wieder in die Hand gegeben, die christlichen Fürsten aber hätten den Eidbruch mit Verlust ihrer Länder und ihres Lebens büßen müssen.

Don Alfonso, in lockerer Haltung und doch sehr königlich, hörte der ernsten, strengen Rede zu. Sein mageres, wie aus Holz geschnittenes Gesicht blieb so ruhig, daß man zweifeln mochte, ob er die arabischen Worte verstehe. Ein wenig vielleicht, inmitten des rotblonden, kurzen Vollbarts, zuckte der ausrasierte, lange, schmale Mund, und die tiefen Furchen der Stirn furchten sich tiefer. Die hellen Augen aber schauten von dem sprechenden Gesandten auf die Versammlung, und immer wieder suchten sie Don Rodrigue, und immer wieder Don Jehuda.

Rede du nur zu, Beschnittener, dachte er, und schwatze dich aus. Belle, Hund, belle zu, ich weiß, ihr beißt nicht, du und dein Herr, ihr bleibt in euerm sichern Afrika, jenseits des Meeres. Ich habe Geduld, ich hab mir’s versprochen, ich laß mich nicht reizen, ich setze nicht auf dein Geprotze die Ohrfeige, die es verdient. Aber dann, wenn du erst zurück bist, dann fall ich her über Córdova und Sevilla, und dann werdet ihr gebellt haben, und ich habe den Knochen.

Der Gesandte sprach weiter. Der Beherrscher der westlichen Gläubigen, erklärte er, brauche den Herrn König von Kastilien, der ja als besonnener Mann bekannt sei, wohl nur darauf hinzuweisen, daß er, der Kalif, vieles vergeben könne, aber unter keinen Umständen einen Vertragsbruch. Der Herr König von Kastilien habe keine guten Erfahrungen gemacht, als er’s nur mit dem Heere von Sevilla zu tun hatte; es werde ihm, falls er ein zweites Mal über Sevilla herfalle, die gesamte Macht des Kalifen gegenüberstehen. Kastilien werde, wenn es das Feuer anfache, viele Tränen weinen müssen, die Flammen zu löschen.

Don Alfonso, während er nach wie vor sehr genau zuhörte, nahm deutlich alles wahr, was im Saale vorging, er sah sehr gut, wie jene beiden, Rodrigue sowohl wie Jehuda, mit immer größerer Sorge auf ihn schauten, fast beschwörend. Ja, sogar das Amtszeichen des Jehuda nahm er wahr, die Brustplatte mit den drei Türmen, und während er sich wunderte, daß er jedes einzelne Wort des gewählten Arabisch dieses Beschnittenen verstand, dachte er an die Goldmünzen, die der Jude hatte schlagen lassen, ihm, Alfonso, zur Freude, und die sein Antlitz tief hinein in das Reich des Kalifen getragen hatten. Von ihrer ersten Begegnung an war er mit dem Juden verknüpft gewesen, manchmal zur Freude, manchmal zum Schmerz. Aber jetzt hatte er die Bindung satt, sie scheuerte ihn, sie sollte ein Ende haben. Er sah Jehudas Augen, diese dringlichen, mahnenden Augen, sie erinnerten an Raquels Augen. Aber: Das hilft dir nichts, dachte er, du sollst mich nicht länger an der Leine halten. Ich lasse mich nicht von deinem Prinzen Abul-Asbag am Barte zupfen. Ich zerreiße die Leine.

Tiefes Schweigen war, als der Prinz geendet hatte. In das Schweigen hinein klang die helle Stimme Bertran de Borns. »Hat er frech dahergeredet, dieser da?« fragte er lateinisch.

Der kastilische Sekretär näherte sich ehrerbietig dem Throne, um mit dem Vortrag der Übersetzung zu beginnen. Alfonso aber winkte ihm ab, und: »Es ist nicht nötig, daß du übersetzest«, sagte er. »Ich habe jedes Wort verstanden, und ich werde dem Herrn so antworten, daß auch er jedes Wort versteht.« Und in langsamem Arabisch – grimmig fröhlich dachte er, Don Rodrigue werde sich wundern, wie gut sein Arabisch in der Galiana geworden sei – erwiderte er: »Sage deinem Herrn, dem Kalifen, folgendes: Nach dem Gutachten meiner Gelehrten ist mein Vertrag mit Sevilla nicht mehr gültig, schon seitdem der Sultan das Grab unseres Erlösers geschändet und den Heiligen Vater gezwungen hat, den Heiligen Krieg auszurufen. Trotzdem habe ich den Waffenstillstand gehalten. Jetzt aber haben die frechen Worte deines Herrn das Siegel des Vertrags weggeschmolzen.«

Er stand auf. Jung, kühn, sehr fürstlich stand er da, und: »Bestelle dem Kalifen«, sagte er mit seiner hellen, unbekümmerten Stimme, »er soll herüberkommen ins Andalús auf seinen Schiffen und mit seinen Soldaten. Er wird auf dieser Halbinsel nicht gegen wilde Horden zu kämpfen haben wie gegen die Rebellen an seiner Ostgrenze. Die Männer, die ihm hier gegenüberstehen, sind geschulte Krieger des allmächtigen Gottes. Deus vult!« rief er, und der Erzbischof und die andern fielen mächtig ein.

Jetzt ging von Alfonsos hellen, grauen Augen jener gewitterige Schein aus, den viele fürchteten und den Doña Leonor so liebte. »Und nun mach dich fort!« schmetterte er den Prinzen Abul-Asbag an. »Das Recht des Gesandten schützt dich noch zwei Tage. Wenn du dann nicht über der Grenze bist, sieh dich vor. Sei froh, daß ich die Zunge nicht ausreißen lasse, die so dreiste Worte gesprochen hat!«

Der Gesandte war erbleicht, doch faßte er sich schnell. In würdigen Worten bat er, der Herr König möge geruhen, ihm seinen Bescheid schriftlich zu übergeben. Sonst würde der Beherrscher der Gläubigen annehmen, Allah habe ihm, dem Boten, den Sinn verwirrt. Alfonso, jungenhaft lachend, sagte: »Den Gefallen will ich dir tun.«

Er behielt aber, als die Versammlung sich auflöste, Don Jehuda zurück und befahl ihm: »Du schreibst den Brief, und in deinem besten Arabisch. Und daß du mir nichts sänftigst. Ich würde dir draufkommen. Du hast vielleicht gemerkt, mein Arabisch ist jetzt recht gut. Und du setzt dein Siegel neben das meine.«

Don Rodrigue lag auf seinem harten Bett in einer Mattigkeit und Trübsal, die ihm alle Kraft aus den Knochen sog. Er war schuld daran, daß Alfonso gleich einem ungebärdigen Kind alles zertrümmert hatte, was in Burgos mühevoll aufgebaut worden war. Wenn jetzt der Kalif mit ungeheurer Heeresmacht in Hispanien einfallen wird, war es seine, Rodrigues, Schuld. Er hätte es nicht Manrique allein überlassen dürfen, den König zur Vernunft zu mahnen, er hätte rechtzeitig alle Kraft zusammennehmen und selber sprechen müssen.

Es war nichts als Schwäche und Zagheit, was ihn gehindert hatte. Seitdem der Liebeshandel mit Raquel seinen Anfang nahm, hatte der Erzbischof ihm wieder und wieder vorgehalten, es fehle ihm jener wilde Unmut, jene saeva indignatio, die so oft aus den Worten der Propheten und der Kirchenväter töne. Don Martín tadelte ihn zu Recht. Sein, Rodrigues, Herz ließ sich beschwatzen von der ritterlichen, jugendlichen, königlichen Anmut Alfonsos; er hatte Verständnis, wo er nicht verstehen und verzeihen durfte. In den letzten Wochen gar hatte er noch tiefere Schuld auf sich geladen. Er hatte es in seinem Heimlichsten begrüßt, daß der König das Sündenleben in der Galiana wieder aufgenommen hatte; es werde sich dadurch, hatte er gehofft, der Beginn des Krieges trotz allem verzögern.

Mit heißer Inbrunst hatte er getrachtet, sich in jene Verzückung zu retten, die früher seine Zuflucht gewesen war. Hatte gefastet und sich kasteit. Hatte es sich verboten, ins Castillo Ibn Esra zu gehen, hatte sich die Gespräche mit dem weisen Freunde Musa versagt. Allein es war ihm keine Verzeihung geworden. Die Gnade blieb ihm versperrt. Die Tür in sein letztes Refugium war zugefallen.

Und jetzt, aus Schwäche, hatte er’s zugelassen, daß das Reich hineintrieb in den sinnlosen Krieg. Denn nur aus Zagheit hatte er verabsäumt, den König zu besonnener Antwort an den Kalifen zu mahnen. In der Aussprache hätte er auch von der währenden Liebschaft mit Raquel reden müssen, und das auf sich zu nehmen, war er zu feig gewesen.

Niemals in seinem Leben hatte dem Domherrn Schuld so schmerzhaft die Seele zerfressen. In ihm klangen Worte des Abaelard: »Das waren die Tage, da ich erfahren habe, was es heißt: leiden, was es heißt: sich schämen, was es heißt: verzweifeln.«

Er erhob sich mit zerschlagenen Gliedern. Versuchte, sich abzulenken. Holte seine Chronik vor, um an ihr weiterzuarbeiten. Es war ein großer Haufen beschriebenen Pergaments. Er las dieses Blatt, jenes. Ach, was er da mit liebendem Eifer aufgezeichnet hatte, blieb kahl und leer; kein Sinn war zu finden in den Ereignissen, die er mit so viel Mühe zusammengetragen hatte. Wie grundverkehrt war seine Darstellung des Alfonso! Welche Vermessenheit, wenn einer, der nicht einmal dieses Nächste deutlich sehen konnte, den Finger Gottes sichtbar machen wollte in den großen Geschehnissen!

Er holte ein Buch her, das man ihm gerade aus Francien geschickt hatte und das dort viel Aufsehen erregte. Es hieß »L’Arbre des Batailles«, »Der Baum der Schlachten«, der Autor war Honoré Bonet, Prior des Klosters von Sellonet, und es befaßte sich mit dem Sinn des Krieges und mit seinen Rechten und Bräuchen.

Rodrigue las. Ach, dieser Prior von Sellonet war ein braver Mann, wohlmeinend, fest im Glauben. An Hand der Heiligen Schrift erörterte er und stellte mit Entschiedenheit fest, ob man an Feiertagen kämpfen durfte, in welchen Fällen man den Feind erschlagen, in welchen man sich damit begnügen sollte, ihn gefangenzunehmen, desgleichen, wie hoch das Lösegeld sein sollte, das ein Christ von einem andern guten Christen verlangen durfte.

Er drückte sich vor keinem Problem, der Prior Bonet. Wacker schlug er sich auch mit den schwierigsten Fragen herum und löste sie schlicht und platt und nüchtern.

Da war etwa seine Antwort auf die Fragen derer, die da zweifelten, ob nicht der Krieg nach dem Gesetze Gottes von vornherein verboten sei. »Viele schlichte Leute«, führte der Prior von Sellonet aus, »halten den Krieg für verwerflich, weil in ihm notwendigerweise viel Übel getan wird, und Übel zu tun, hat Gott verboten. Ich sage euch, das ist Unsinn. Krieg ist kein Übel, er ist gut und recht; denn Krieg sucht nur das Unrecht zu Recht zu machen und Unfrieden in Frieden zu kehren, genau wie die Schrift es vorschreibt. Und wenn im Krieg viel Übel geschieht, so rührt das nicht vom Wesen des Krieges her, sondern von falscher Führung durch den einzelnen, als wenn zum Beispiel ein Krieger ein Weib hernimmt und ihr Gewalt antut oder eine Kirche niederbrennt. Dergleichen liegt nicht notwendig im Wesen des Krieges, sondern nur in falscher Führung durch einzelne. Ähnlich steht es zum Beispiel um die Gerechtigkeit, deren Wesen zufolge der Richter vernünftig urteilen soll, gemäß seiner Erleuchtung. Aber wenn nun ein Richter ungerecht urteilt, dürfen wir deshalb sagen: die Gerechtigkeit an sich ist ein Übel? Doch sicher nicht. Das Übel rührt nicht her vom Wesen der Gerechtigkeit, sondern von falschem Gebrauch und von schlechter Interpretierung und vom schlechten Richter.«

Der Domherr seufzte. Er machte sich’s einfach, der Prior Bonet. Der Gelehrte Rodrigue wußte, daß sich nicht alle so schnell mit dem Problem abgefunden hatten. Die frühchristliche Sekte der Montanisten zum Beispiel hatte den Kriegsdienst für unvereinbar mit dem Christentum erklärt. Der Domherr schlug den Montanisten Tertullian auf: »Ein Christ wird nicht Soldat«, hieß es da, »und wenn ein Soldat Christ wird, tut er am besten, den Dienst zu verlassen.« Viele solcher Beispiele gab es. Der junge Maximilianus, da er sich in die Werbelisten eintragen lassen sollte, hatte dem Prokonsul erklärt: »Ich kann nicht dienen, ich kann das Böse nicht tun, ich bin Christ.« Der tapfere, in vielen Schlachten erprobte Soldat Typasius hatte sich nach seiner Bekehrung geweigert, weiterzudienen. Er sagte seinem Zenturio: »Ich bin Christ, ich kann unter deinem Befehl nicht weiterkämpfen.« Und hier, in diesem Hispanien, hatte der Zenturio Marcellus angesichts der Feldzeichen seiner Legion sein Schwert zu Boden geworfen und erklärt: »Ich diene nicht länger dem Kaiser. Von heut an dien ich Jesus Christus, dem König der Ewigkeit.« Und die Kirche hatte Maximilianus und hatte Marcellus heiliggesprochen.

Später freilich, unter dem Kaiser Konstantin, hatte das Konzil von Arles diejenigen, die den Militärdienst verweigerten, exkommuniziert.

Der subtile, lockende, gefährliche Abaelard stellte in »Ja und Nein« zusammen, was die Schrift für und was sie gegen den Krieg sagte, und überließ es dem Leser, die Schlüsse zu ziehen. Aber wer war weise genug, sich da zurechtzufinden? Wie sollte man es anfangen, die Lehren der Bergpredigt zu befolgen, wie sollte man dem Übel nicht widerstreben – und dennoch Krieg führen? Wie sollte man den Feind lieben – und ihn totschlagen? Wie reimte sich der Aufruf zum Kreuzzug mit der Lehre des Erlösers: »Wer das Schwert zieht, soll durch das Schwert umkommen.«

Die Gedanken verschwammen Rodrigue, die Seiten der Bücher, in denen er las, wurden ihm groß und größer, die Schriftzeichen verwirrten sich. Wurden zum Gesichte Don Alfonsos. »Vultu vivax«, damit hatte er recht. Er hatte gesehen, wie sich, kaum hatte der moslemische Prinz zu sprechen begonnen, ein wildes Feuer hinter der herrscherhaften Maske Alfonsos entzündete, wie die Funken durch die Maske schlugen, wie die ganze Flamme durchschlug, wie zuletzt das Gesicht vollends verwilderte in Gewalttätigkeit, in der Lust, zu kränken, zuzuschlagen, zu zerstören. Noch bei der Erinnerung an dieses Gesicht faßte den Domherrn Entsetzen.

Aus diesem Entsetzen aber kam ihm Entschuldigung. In allen entscheidenden Stunden brach die Gewalttätigkeit dieses Mannes an den Tag. Niemand konnte dagegen aufkommen. Gott hatte Rodrigue eine unlösbare Aufgabe aufgeladen, als er ihm gebot, diesen König zu betreuen.

Allein er durfte nicht die eigene Schuld und Schwäche mit solchen Sophismen verschminken. Er durfte sich auch jetzt nicht etwa sagen, es sei doch alles verloren. Er hatte nun einmal den Auftrag, Alfonso zu mahnen, und mußte es Gott überlassen, ob ihm Erfolg beschieden war oder nicht. Er mußte Alfonso aufsuchen, noch heute, sogleich; denn zweifellos wird der König, nun er den Kalifen auf solche Art herausgefordert hatte, ohne Verzug nach dem Süden aufbrechen.

Er ging in die Burg.

Er fand einen fröhlichen, aufgeschlossenen Alfonso. Der fühlte sich, seitdem er den moslemischen Prinzen auf so königliche Art heimgeschickt hatte, leicht und frei. Er hatte seiner innern Stimme gehorcht, das Gewarte war zu Ende, sein Krieg war da; er war voll fürstlich heiterer Zuversicht.

Ein wenig freilich störten ihn die besorgten Mienen seiner Räte; sie erinnerten ihn an die Gesichter seiner Erzieher, wenn sie den königlichen Knaben Alfonso mißbilligt und nicht gewagt hatten, ihn zurechtzuweisen. Und der da kam, sein Freund Rodrigue, war offenbar auch nicht einverstanden mit der Antwort, die er dem Kalifen erteilt hatte.

Vielleicht aber war es gut, daß Rodrigue gerade jetzt kam. Die Aussprache ließ sich nicht vermeiden; auch über das, was in der Galiana geschehen war, hätte Alfonso mit dem väterlichen Freunde längst schon reden müssen, und keine bessere Stunde, ihm alles zu erklären und sich zu rechtfertigen, gab es als diese, da er so glücklich gelösten Mutes war.

Schnell entschlossen also, ohne lange Einleitung und Beschönigung, erzählte er, was sich zwischen ihm, Raquel und ihrem Vater zugetragen hatte, daß nämlich der Jude das Kind geflüchtet hatte, bevor er’s hatte taufen können. »Ich habe Schuld auf mich geladen, mein Freund und Vater«, sagte er, »aber ich gestehe dir’s offen, sie drückt nicht schwer. Morgen geh ich in den Kreuzzug, und es wird nicht lange dauern, dann kehr ich zurück, rein und entsühnt. Und dann werde ich nicht nur das Söhnchen taufen, ich werde auch Raquel auf den Weg der Gnade führen. Ich werde stark sein nach dem Sieg, ich weiß es.«

Rodrigue hatte gefürchtet, das Kind sei noch in der Galiana, in täglicher Atemnähe des Vaters, der ihm nach wie vor die Gnade der Taufe vorenthalte, und er atmete auf, weil dem nicht so war. Überdies war sich der König des Umfangs seiner Schuld offenbar nicht bewußt, und Rodrigue dachte an das tiefe und gefährliche Wort des Abaelard: Non est peccatum nisi contra conscientiam – Sündig ist nur, wer sich seiner Sünde bewußt ist. Wiederum, gegen seinen Willen, fühlte er sich in den König ein und verstand ihn.

Aber wenn Alfonsos Bericht den Kummer des Domherrn über das Ärgernis in der Galiana linderte, so erzürnte ihn um so heißer die Leichtfertigkeit, mit welcher Alfonso von dem kommenden Kriege sprach. Dieser König, dem Gott hellen Verstand mitgegeben hatte, stellte sich blind, tat, als sei er eines schnellen, sichern Sieges gewiß, wollte nicht wahrhaben, welch ungeheure Gefahr er über das Land gebracht hatte. Ungewohnt hart und streng fuhr der Domherr ihn an: »Du betrügst dich, König Alfonso. Dieser Krieg wäscht dir keine Sünde fort. Es ist kein Heiliger Krieg. Du hast ihn von Anfang an befleckt durch verbrecherischen Jähzorn und Hochmut.«

Alfonso sah den schwächlichen Leib des Priesters, seine weißen, zarten Hände, die niemals ein Schwert gezogen, nie einen Bogen gespannt hatten. Gepanzert aber in sein herrscherhaftes Selbstvertrauen, war er mehr verwundert als zornig über den erregten Rodrigue. »Dinge des Krieges und des Rittertums sind deine Sache nicht, mein Vater«, antwortete er freundlich, und er belehrte ihn liebenswürdig überlegen: »Siehst du, ich durfte es dem Beschnittenen nicht hingehen lassen, daß er mich in meiner eigenen Burg am Bart zupfte. Es war meine innere Stimme, die mich hieß, ihn zurechtzuweisen.«

»Innere Stimme!« erwiderte nicht laut, doch heftig der Domherr; die freche Sicherheit des Königs hatte ihm endlich jenen wilden Unmut erweckt, dessen Mangel ihm Don Martín so oft vorgeworfen hatte. »Innere Stimme! Wann immer du deinem verbrecherischen Hochmut die Zügel läßt, berufst du dich auf deine innere Stimme! Mach die Augen auf, und sieh auf das, was du getan hast. Der Kalif hat dich merken lassen, daß er dem Krieg fernbleiben will. Er hat dir die Hand geboten, du hast ihm hineingespuckt. Du hast die Armeen Afrikas, die zahllos sind wie der Sand am Meer, ins Land gerufen, aus schierer Eitelkeit und Vermessenheit. Die vier Reiter der Apokalypse hast du ins Land gerufen. Du hast gehandelt, als wäre der Kreuzzug nichts als ritterliches Spiel und Tournier. Du hast deinen Vertrag mit Aragon gebrochen, kaum daß er geschlossen war. Du hast ganz Hispanien an den Rand des Abgrunds gerissen.« Der magere Mann stand aufgerichtet, drohend, die stillen Augen schauten wild und klägerisch auf Alfonso.

Den machte der heilige Zorn des Priesters betreten. Doch schon nach einem Atemzug fand er zurück ins Gehege seiner Sicherheit. Sein heller Blick wich nicht dem zürnenden des andern. Er lächelte, er lachte, ein lautes, häßliches Lachen. Er höhnte: »Wo bleibt dein Gottvertrauen, Priester? Seit Hunderten von Jahren haben die Ungläubigen die Übermacht, und trotzdem hat uns Gott mehr und mehr von unserm Land zurückgegeben. Du tust, als wären wir eine Herde Schafe. Ich habe meine guten Festungen im Süden, ich habe meine Calatrava-Ritter. An die vierzigtausend Ritter hab ich, ohne Aragon. Willst du mir’s verbieten, den gleichen Mut zu zeigen wie meine Väter? Soll ich mich verstecken hinter Lügen und Listen, statt zu vertrauen auf mein gutes Schwert?«

Er stand da, frech, wild, ritterlich, und hinter seinem Gesicht sah der Domherr das des Bertran, der seine wüsten Lieder sang. »Lästere nicht!« rief er ihn an. »Du bist kein Ritter, der auf Abenteuer zieht, du bist der König von Kastilien. Deine Festungen! Bist du sicher, daß sie den Kriegsmaschinen des Kalifen standhalten? Deine vierzigtausend Ritter! Ich sage dir, ihrer die Mehrzahl wird erschlagen werden von den Horden der Moslems. Es wird Verwüstung sein, Brand und Gemetzel über deinem ganzen Land. Zusammenbruch wird sein. Und du bist der Schuldige. Du wirst Gott danken müssen, wenn er dir dein Toledo läßt.«

Die seherische Wildheit des Priesters schauerte Alfonso an. Er schwieg. Rodrigue aber fuhr fort: »Dein gutes Schwert! Vergiß nicht, daß es Gott ist, der den Königen ihr Schwert verleiht. Du tust, als wärest du der Herr über Krieg und Frieden. Vergiß nicht, daß dieser Krieg ausgerufen und erlaubt ist nur als ein Krieg Gottes. Du bist in diesem Krieg nichts Besseres als dein letzter Troßbub: ein Knecht Gottes.«

Alfonso hatte das unheimliche Gefühl abgeschüttelt. Mit der alten, kühlen, leichtfertigen Hoffart antwortete er: »Und vergiß du nicht, Priester, daß Gott mich mit den Reichen Kastilien und Toledo belohnt hat. Gott ist mein Lehnsherr. Ich bin nicht sein Knecht, ich bin sein Vasall.«

Es hielt den König nicht länger in Toledo, die besorgten Gesichter seiner Herren und das zornig fromme Gerede des Don Rodrigue verdarben ihm die Freude an seiner ritterlichen Haltung vor dem Kalifen. Er beschloß, schon andern Tages nach dem Süden aufzubrechen. Seine Ordensritter in den Festungen Calatrava und Alarcos werden mehr Sinn und Verständnis für ihn haben.

Die letzte Nacht vor der Abreise verbrachte er in der Galiana. Er war heiterster Laune, sehr gnädig, er trug Raquel nichts nach. Er stolzierte vor ihr auf und ab und rühmte sich seiner Antwort an den Kalifen.

Er dehnte sich, reckte die Arme. »Ich habe lange gefeiert«, sagte er, »aber ich bin nicht eingerostet. Jetzt endlich wirst du sehen, wer dein Alfonso ist. Es wird ein kurzer, glorreicher Feldzug sein, das spüre ich. Geh nicht erst nach Toledo, meine Raquel. Bleib hier in der Galiana, versprich mir das. Du wirst hier nicht lange auf mich zu warten haben.«

Raquel saß halb liegend auf ihren Polstern, den Kopf in die Hand gestützt, und schaute und hörte ihm zu, wie er auf und nieder lief und die Taten verkündete, die er zu tun gedachte.

»Wahrscheinlich übrigens«, sagte er jetzt, »werde ich dich, noch bevor ich zurückkehre, bitten, zu mir nach Sevilla zu kommen. Du mußt mich dann in deiner Heimatstadt herumführen. Und du mußt dir aus meiner Beute aussuchen, was dir am besten gefällt.«

Sie ließ den Arm sinken, der den Kopf gestützt hatte, richtete sich ein wenig hoch, angefrostet von seinen Reden. Da machte er gedankenlos grausam vor ihr aufsteigen das Bild ihrer Heimatstadt, die er berennen und niedertreten wollte, um dann sie über die Trümmer zu führen.

»Mein Sieg wird dich auch überzeugen«, fuhr er fröhlich fort, »wessen Gott der rechte ist. Bitte, antworte nicht, streite nicht heute. Es ist ein festlicher Tag, wir gehören an diesem Tage zusammen, du mußt teilhaben an meiner Freude.«

Sie hatte ihm jetzt die großen, blaugrauen Augen voll zugewandt; ihr lebendiges Gesicht und all ihre Gebärde gestaltete Staunen, Abwehr, Befremdung.

Er hielt inne, er spürte das Trennende, das zwischen ihnen aufgestanden war. Aus der Stummheit Raquels klang ihm fernher die Anklage Rodrigues. Er wandelte sich aus dem wild einherfahrenden Feldherrn in den großartig verzeihenden. »Glaub aber nun ja nicht«, redete er heiter auf sie ein, »daß etwa dein Alfonso hart sein wird zu den Besiegten. Meine neuen Untertanen werden einen milden Herrn haben. Ich werde es ihnen nicht verbieten, ihren Allah und ihren Mohammed anzubeten.« Ein weiterer großmütiger Einfall kam ihm. »Und von den moslemischen Rittern, die ich gefangennehme, werde ich tausend ohne Lösegeld freigeben – Alazar soll sie mir aussuchen, das wird ihm Freude machen. Und ich werde sie in Ehren mitkämpfen lassen in dem großen Tournier, das ich zur Siegesfeier gebe.«

Raquel konnte sich seinem Stürmen und Schimmern nicht entziehen. So war er, sinnlos tapfer, nur des Sieges denkend und keiner Gefahr, sehr jung, ganz Ritter, Krieger, König. Sie liebte ihn. Sie war ihm dankbar, daß er die letzte Nacht vor seinem Feldzug mit ihr teilte.

Es war alles wie früher. Sie aßen in hoher Fröhlichkeit zu Abend. Er, gemeinhin mäßig, trank dieses Mal ein wenig mehr als sonst. Er sang, was er sonst nur tat, wenn er allein war. Sang kriegerische Lieder. Sang jenes Lied des Bertran: »Es ist mir Augenweide, wenn man ein festes Schloß berennt.« Und: »Schade, daß du meinen Freund Bertran nicht hast sehen wollen«, meinte er. »Er ist ein guter Ritter, der beste, den ich kenne.«

Nach dem Essen zog sie sich zurück, wie sie es von jeher gehalten hatte. Sie wollte sich noch immer nicht vor seinen Augen auskleiden. Dann kam er zu ihr, und es war wie in der ersten Zeit, Ineinanderströmen, Erfüllung, Seligkeit.

Später, müde, glücklich, schwatzten sie noch. Er, doch jetzt nicht befehlerisch, eher bittend, sagte abermals: »Bleib hier in der Galiana in der Zeit meiner Abwesenheit. Geh zu deinem Vater, so oft du willst, aber zieh nicht zu ihm ins Castillo. Wohne hier. Hier ist dein Haus, unser Haus. Hodie et cras et in saecula saeculorum«, fügte er lästerlich hinzu.

Sie, lächelnd, halb schlafend schon, wiederholte: »Hier ist mein Haus, unser Haus, in saecula saeculorum.« Sie dachte noch: Wenn ich einschlafe, wird er gehen. Schade, daß ich es so gewollt habe. Aber am Morgen werde ich mit ihm frühstücken. Und dann reitet er fort in seinen Krieg. Und von seinem Pferd wird er sich noch einmal herunterbücken zu mir, und wo der Weg sich wendet, wird er sich nach mir umschauen. Sie lag mit geschlossenen Augen, sie dachte nichts mehr, sie schlief ein.

Alfonso, da sie eingeschlafen war, blieb eine kleine Weile liegen. Dann stand er auf, räkelte sich, gähnte. Nahm einen Schlafrock um. Sah auf die Frau, die dalag mit geschlossenen Augen, um den Mund ein kleines Lächeln. Betrachtete sie wie etwas Fremdes, einen Baum oder ein Tier. Schüttelte verwundert den Kopf. War nicht soeben noch, vor wenigen Minuten, von dieser ein Glück ausgeströmt, wie keine Frau es ihm je hatte schaffen können? Und jetzt spürte er Unbehagen, etwas wie Verlegenheit, daß er mit ihr in einem Raum war und die Nackte, Schlafende belauschte. Im Geist war er schon in Calatrava, bei seinen Rittern.

Bevor er mit ihr schlief, hatte er daran gedacht, in aller Frühe nach Toledo zu reiten, seine Rüstung anzulegen, die wirkliche, die er im Felde trug, in die Galiana zurückzukehren und sich von Raquel zu verabschieden, angetan mit dieser seiner Rüstung und gegürtet mit seinem guten Schwert Fulmen Dei. Er gab es auf.

Am nächsten Morgen wartete sie, daß er sich von ihr verabschiede. Sie war glücklichen Mutes, auch sie voll Zuversicht, alles werde gut werden.

Sie stellte sich vor, wie der Morgen verlaufen werde. Frühstücken wird er mit ihr im Hauskleid. Dann wird er die Rüstung anlegen. Und dann wird er fortreiten, und sie wird die große, selige, herzzerreißende Minute erleben, von der in den Liedern die Rede ist: der fortziehende Liebste wird sich vom Pferde neigen, sie küssen, ihr zuwinken.

Sie wartete, erst glücklich, dann mit leiser Angst, dann immer ängstlicher.

Endlich fragte sie nach Don Alfonso. »Der König Unser Herr ist schon vor Stunden fortgeritten«, antwortete der Gärtner Belardo.