Erstes Kapitel

Alfonso schlug die Augen auf und war sogleich hell wach. Er brauchte nirgends und niemals einen Übergang aus Schlaf und Traum in die Wirklichkeit. Er fand sich auch jetzt in dem ungewohnten arabischen Zimmer, in welches durch den dunkeln Vorhang des kleinen Fensters nur gedämpftes Morgenlicht drang, sofort zurecht.

Nackt, schlank, weißhäutig, rotblond lag er auf dem üppigen Bett, faul, tief zufrieden.

Er hatte allein geschlafen. Raquel hatte ihn nach wenigen Stunden weggeschickt; so hatte sie’s auch in den drei Nächten vorher gehalten. Sie wollte allein aufwachen. Sie pflegte des Abends und des Morgens, ehe sie sich zeigte, lange Vorbereitungen zu treffen, sie badete in Rosenwasser und zog sich sorgfältig an.

Er stand auf, räkelte sich, ging nackt hin und her in dem nicht großen, mit Teppichen belegten Raum. Er summte vor sich hin, und da ringsum alles so leise und gedämpft war, summte er lauter, sang, sang lauter, ein kriegerisches Lied, schmetterte es aus voller, vergnügter Brust.

Er hatte, seitdem er in der Galiana war, außer dem Gärtner Belardo keine Christenseele gesehen; nicht einmal seinen Freund Garcerán, der jeden Morgen kam, nach seinen Wünschen und Befehlen zu fragen, hatte er vorgelassen. Früher war jede Stunde gefüllt mit Menschen und mit Tätigkeit oder doch mit Geschäftigkeit und Rede; jetzt zum erstenmal war er müßig und allein. Versunken waren Toledo, Burgos, der Heilige Krieg, das ganze Hispanien, nichts war da, nur er und Raquel. Erstaunt genoß er dieses völlig Neue. Wie er hier lebte, das war Leben; alles vorher war Halbschlaf gewesen.

Er hörte auf zu singen, dehnte sich, gähnte mächtig, lachte ohne Grund.

Dann war er mit Raquel zusammen. Sie frühstückten, er Hühnerbrühe mit Fleischpastete, sie ein Ei, Konfekt, Obst; er trank stark gewässerten Würzwein, sie Zitronensaft mit viel Zucker. Er beschaute sie stolz und froh. Sie war eingehüllt in ein Kleid von leichter Seide; auch einen kleinen Halbschleier trug sie, wie sich das für eine verheiratete Frau ziemte. Aber mochte sie sich nach Belieben verhüllen und verstecken, er kannte jeden Zoll an ihr.

Sie schwatzten angeregt. Sie mußte erklären und erzählen; so vieles, was sie anging, war ihm fremd, und alles wollte er wissen, und er verstand sie, ob sie arabisch sprach, lateinisch oder kastilisch. Auch ihm selber fiel immer Neues ein, was sie sicher interessierte und was er ihr sogleich mitteilen mußte. Jedes Wort, das einer von ihnen sagte, war wichtig, und wenn es noch so bedeutungslos und verspielt klang, und waren sie dann allein, so riefen sie sich einer des andern Worte zurück und bedachten sie und lächelten. Herrlich war es, daß man einander so gut verstand, wiewohl doch der eine vom andern so verschieden war. Im innersten Gefühl war man gleich, da spürte man genau, was der andere spürte: ein uferloses Glück.

O der Seligkeit, wenn man ineinander verschwamm. Man spürte dieses Verschwimmen herannahen, es war ganz nahe. Nun dauerte es nur mehr den kürzesten Teil eines Augenblicks und es war da, und man sehnte sich danach und man suchte es hinauszuzögern, denn die Sehnsucht war so herrlich wie die Erfüllung.

La Galiana hatte einen großen Park. Innerhalb der Mauern, die ihn weiß und streng umschlossen, gab es immer Neues zu entdecken, und an alles, an den kleinen Wald, an den Kiosk, an den Teich, an das Haus selber, knüpften sich merkwürdige Geschichten und Erinnerungen. Da waren etwa die zwei halbzerstörten Zisternen, man hatte sie belassen, wie sie waren – jene uralte Zeitmessungsmaschine des Rabbi Chanan. Raquel erzählte Alfonso vom Leben und Tode des Rabbis, Alfonso hörte zu, konnte nicht viel damit anfangen, sagte nichts.

Beide kannten sie und beredeten gerne die Geschichte jener Prinzessin Galiana, deren Namen die Besitzung trug. Ihr Vater, König Galafré von Toledo, hatte ihr das Schloß gebaut. Angelockt vom Rufe ihrer Schönheit kamen viele Freier, darunter Bradamante, König des benachbarten Guadalajara, ein Mann von riesenhafter Gestalt, und König Galafré versprach ihm die Tochter. Aber auch der fränkische König Karl der Große hatte von der Schönheit der Prinzessin Galiana gehört, er kam nach Toledo unter dem angenommenen Namen Mainét, nahm Dienst bei Galafré und besiegte des Königs mächtigsten Feind, den Kalifen von Córdova. Galiana verliebte sich in den heldischen Karl, und der dankbare König Galafré sagte nun ihm ihre Hand zu. Da aber überzog der getäuschte Freier, der riesenhafte Bradamante, Toledo mit Krieg und forderte Mainét-Karl zum Zweikampf. Der nahm an und besiegte und tötete den Riesen. Allein Karls rascher Aufstieg hatte ihm viele zu Feinden gemacht, sie redeten König Galafré ein, daß Mainét nach seiner Krone strebe, und Galafré beschloß, ihn ermorden zu lassen. Die Prinzessin Galiana indes warnte ihren Liebsten, entfloh mit ihm in seine Stadt Aachen und wurde Christin und seine Königin.

Raquel war bereit zu glauben, daß sich Galiana in den Frankenkönig verliebt hatte und mit ihm geflohen war. Aber daß Karl den Riesen besiegt habe, glaubte sie nicht, und schon gar nicht, daß Galiana Christin geworden sei. Alfonso meinte: »So hat es Don Rodrigue in den alten Büchern gefunden, und er ist ein sehr gelehrter Mann.« – »Ich werde einmal Onkel Musa fragen«, beschloß Raquel.

Alfonso, ein wenig gereizt, sagte: »Der Palacio der Galiana wurde zerstört, als mein Urgroßvater Toledo nahm. Man hatte ihn nicht wiederhergestellt, weil damals Toledo unmittelbar an der Grenze lag. Jetzt aber habe ich Calatrava und Alarcos fest in der Hand, und Toledo liegt gesichert. Ich konnte dir also La Galiana ohne Gefahr wieder aufbauen.« Ganz leise lächelte Raquel. Er hätte ihr nicht erst zu sagen brauchen, was für ein Held, Ritter und großer König er war; jedermann wußte es.

Alfonso ließ sich von Raquel die Spruchbänder an den Wänden erklären; mehrmals waren altertümliche, kufische Buchstaben verwandt, Raquel las sie ohne Mühe. Sie erzählte ihm, wie sie schreiben und lesen gelernt hatte. Einfache Koranverse zuerst und die neunundneunzig Namen Allahs, in der üblichen neuen, der Neschi-Schrift, dann später hatte sie die alte kufische Schrift gelernt, und zuletzt, von Onkel Musa, die hebräische. Alfonso verzieh ihr das viele überflüssige Wissen, weil sie Raquel war.

Unter den Sprüchen an der Wand war jener uralte arabische, den Onkel Musa so liebte: »Ein Federgewicht Frieden ist besser als ein Eisengewicht Sieg.« Sie las ihm den Spruch; voll, dunkel und groß kamen die seltsamen Worte von ihren kindlichen Lippen. Da er nicht verstand, übersetzte sie ins geläufigere Latein: »Eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg.« – »Das ist Unsinn«, erklärte Alfonso herrisch. »Das ist was für Bauern und Bürger, nicht für Ritter.« Da er aber Raquel nicht verletzen wollte, begütigte er: »Im Munde einer Dame mag es angehen.«

»Ich habe auch einmal einen Lehrspruch gedichtet«, erzählte er später. »Das war, als ich Alarcos nahm. Ich hatte den Gebirgskamm südlich des Nahr el Abiad besetzt und durch eine starke Wache gesichert, die ich einem gewissen Diego unterstellte, einem Lehensmann meiner Barone de Haro. Der Mann ließ seinen Posten überrumpeln, fast hätte mich das Alarcos gekostet. Er hatte geschlafen, dieser Diego. Ich ließ ihn binden, verwahrte ihn am Pflock eines Zeltes. Dann dichtete ich meinen Lehrspruch. Laß sehen, ob ich ihn noch zusammenbringe. ›Wachen muß, wer haben will des Feindes Haupt und des Feindes Schild. Der Wolf, der schläft, der tut keinen Fang. Der Mann, der schläft, der siegt keinen Sieg.‹ Das ließ ich in sehr großen Buchstaben aufschreiben, und der Diego mußte es lesen am ersten Morgen, und am zweiten, und am dritten. Erst dann ließ ich die Augen ausstechen, die nichts gesehen hatten. Dann nahm ich Alarcos.«

Raquel blieb einsilbig an diesem Tage.

Die heißen Stunden verbrachte Raquel gewöhnlich in der stillen Dunkelheit ihres Zimmers, dessen wassergetränkter Filzbelag Kühlung schuf. Don Alfonso legte sich dann wohl im Park in den Schatten eines Baumes, gern in der Nähe des Gärtners Belardo, der auch in der heißen Zeit fleißig war oder doch so tat. Das erstemal hatte sich Belardo fortmachen wollen, doch Alfonso rief ihn heran, er liebte es, mit den Unteren zu sprechen. Er sprach ihre Sprache, er sprach sie in ihrem Tonfall, so daß sie ihm vertrauten und ihm bei aller Ehrerbietung die Wahrheit sagten. Das runde, fette, schlaue Gesicht des Belardo und seine biedere, verschmitzte Art machten dem König Spaß. Er winkte ihn oft heran und unterhielt sich mit ihm.

Belardo hatte eine angenehme Stimme, Alfonso ließ sich von ihm vorsingen, am liebsten Romanzen. Da war etwa die Romanze von der Dame Florinda, auch genannt La Cava. Florinda, hieß es da, und ihre Fräulein, sich unbeobachtet glaubend, entblößten ihre zarten Beine und maßen deren Umfang mittels eines gelben Seidenbandes. Und die weißesten und schönsten Beine hatte Florinda. Verborgen aber hinterm Vorhang eines Fensters schaute König Rodrigo dem Spiele zu, und heimliches Feuer verbrannte ihm das Herz. Er rief Florinda zu sich und sagte: »Florinda, Blühende, ich bin blind und krank vor Liebe. Heile mein Übel, und ich dank es dir mit meinem Zepter und mit meiner Krone.« Es heißt, daß sie zuerst nicht antwortete, ja, daß sie gekränkt war. Aber am Ende geschah es, wie er es wollte, und Florinda, die Blühende, verlor ihre Blüte. Bald hatte der König seine böse Lust zu büßen, und mit ihm das ganze Hispanien. Und wenn man fragt: wer von den beiden war der Schuldigere? dann sagen die Männer: Florinda, und die Frauen sagen: Rodrigo.

So sang der Gärtner Belardo, und Alfonso hörte zu, und für einen Augenblick argwöhnte er, der Mann habe ihn mit frecher Absicht an das Schicksal dieses Rodrigo, des letzten Gotenkönigs, gemahnt. Denn der Vater der verführten Florinda, Graf Julian, hatte sich, wie andere Romanzen erzählen, mit den Arabern verbündet, um sich an König Rodrigo zu rächen, er hatte die Araber nach Spanien geführt, und so war an der sündhaften Leidenschaft des Königs Rodrigo das Reich der christlichen Goten zugrunde gegangen. Aber der Gärtner Belardo machte ein dumm-unschuldiges, gerührtes Gesicht; er hatte sich nichts Böses gedacht.

Des Nachmittags pflegte Raquel im Teiche zu baden. Sie forderte Alfonso auf, mit ihr zu schwimmen. Er zog sich nur mit Scheu vor ihr aus und fand es unziemlich, daß sie sich vor ihm auszog. Alte Vorurteile sprangen ihn an. Mohammed hatte seinen Gläubigen drei, ja fünf tägliche Waschungen vorgeschrieben, auch den Juden war strenge Reinlichkeit religiöses Gebot, und so sah die Kirche mit Abneigung auf denjenigen, der sich zu häufig wusch.

Mit einem kleinen, lustvollen Schrei setzte Raquel den Fuß ins Wasser, dann ließ sie sich rasch und entschlossen fallen und schwamm. Er folgte, er hatte Spaß am Schwimmen und Tauchen.

Sie saßen nackt am Rande des Wassers und ließen sich von der Sonne trocknen. Es war heiß, die Luft flirrte, schwerer Duft kam von den Blumenbeeten und von den Orangenbäumen, Grillen zirpten und sägten. Er fragte unvermittelt: »Kennst du die Geschichte von Rodrigo und Florinda?« Raquel kannte sie. »Aber«, erklärte sie altklug, »daß an ihrer Liebe das Gotenreich zugrunde ging, das ist ein Märchen. Onkel Musa hat es mir genau erklärt. Der christliche Staat war alt geworden, die gotischen Könige und Soldaten waren verweichlicht. So kam es, daß die Unsern sie in schnellem Kampf überwältigten und mit kleiner Heeresmacht.«

Es verdroß Alfonso, daß sie sagte: »Die Unsern.« Aber die Deutung dieses verdächtigen Musa gefiel ihm. »Da mag dein alter Uhu Musa einmal recht haben«, meinte er. »König Rodrigo war ein schlechter Soldat, darum ließ er sich besiegen. Wir haben aber Kriegskunst gelernt mittlerweile«, sagte er und richtete sich höher, »und wer jetzt verweichlicht ist, das sind deine Moslems mit all ihren Teppichen und ihren Versen und den neunundneunzig Gottesnamen, die sie dir beigebracht haben. Wir werden ihre Mauern und Türme niederbrechen und ihre Fürsten in den Staub treten und ihre Städte dem Boden gleichmachen und Salz darüber streuen. Wir werden deine Moslems ins Meer werfen, Dame. Du wirst es erleben.« Er war aufgestanden. Nackt, trotzig, fröhlich stand er in der Sonne.

Sie kauerte sich zusammen, überkommen vom Gefühl ihrer Fremdheit. Er war wunderbar, dieser ihr Alfonso, wie er dastand, stark, lustig, stolz, männlich, sehr wert, daß sie ihn liebte. Und er war gescheiter, als er sich gab. Er war herrlich, in Wahrheit herr-lich, der geborene Herrscher Kastiliens und vielleicht des ganzen, meerumspülten Andalús. Aber das Beste, was es unter dem Himmel und im Himmel gab, war ihm verschlossen. Das Wichtigste wußte er nicht, nichts wußte er vom Geiste. Sie aber wußte darum, weil sie ihren Vater hatte und Musa, und weil sie zu denen gehörte, deren Erbteil das Große Buch war.

Er spürte, was in ihr vorging. Er wußte, daß sie ihn mit ganzer Seele liebte, alles an ihm, seine Tugend und seine Kraft mit ihrem Überschwang, der vielleicht ein Fehler war. Aber das Beste an ihm, sein Rittertum, konnte sie höchstens lieben, verstehen konnte sie es nicht. Was ein Ritter war, und was gar ein König, das konnte ihr niemand begreiflich machen. Meine Hunde verstehen mehr davon, dachte er grob, und in diesem Augenblick bedauerte er, daß er seine großen Hunde nicht mit in die Galiana genommen hatte. Ganz dunkel aber spürte er gleichzeitig, daß es in der Seele dieser Raquel Räume gab, die wiederum ihm versperrt waren. Da war das Arabische, das Jüdische, das Urfremde, er konnte es niemals ganz begreifen, er konnte es höchstens vernichten. Und noch dunkler und noch weniger ausdrückbar spürte er für einen Augenaufschlag, daß es ihm mit dem ganzen Lande Hispanien so ging. Das Land gehörte ihm, er besaß es, Gott hatte es ihm gegeben, er war der König, er liebte es. Aber in diesem Hispanien gab es einen weiten, weiten Teil, das Arabische, das Jüdische, und dieser Teil war ihm untertänig und dennoch versperrt.

Da aber sah er Raquel, wie sie zusammengekauert dasaß, ganz ihm gehörig, ihm preisgegeben, eine Dame in Not, und er erinnerte sich seiner ritterlichen Pflicht. »Es wird nicht morgen sein und nicht übermorgen, daß ich deine Moslems ins Meer werfe«, tröstete er sie, »und ganz bestimmt nicht wollte ich dich kränken.«

Schon nach wenigen Tagen war ihnen, als wären sie zeit ihres Lebens hier gewesen. Trotzdem spürten sie nichts von Ermüdung und Einförmigkeit, die Tage waren zu kurz, und die Nächte waren zu kurz, und immer Neues war zu sagen, und immer neue Unterhaltungen boten sich an.

Raquel saß am Springbrunnen des Patio, die Märchenerzählerin, und das Wasser des Springbrunns hob sich und fiel, und sie erzählte, zwanzig Geschichten, hundert Geschichten, sie gingen ineinander über wie die Inschriften an den Wänden. Sie erzählte ihm die Geschichte von dem Schlangenbeschwörer und seiner Frau und die von dem Freigebigen Hund und die vom Tode des Liebenden aus dem Stamme Usra und die von dem Betrübten Schulmeister. Und sie erzählte die Geschichte von Einzahn und Zweizahn und die von dem Vornehmen Herrn, der schwanger wurde. Und sie erzählte das Märchen vom Ei des Vogels Rock und das Märchen von der Orange, die sich auftat, als der Dichter sie essen wollte, und er schritt in die Orange hinein, und sie war eine große Stadt, und es begegneten ihm die wunderbarsten Abenteuer.

Sie saß auf dem Rande des Springbrunns, den Kopf in die Hand gestützt, und erzählte, und oft schloß sie die Augen, um deutlicher zu sehen, was sie erzählte. Sie erzählte auf die gegenständliche arabische Art, etwa: »Am andern Morgen – guten Morgen, lieber Hörer und König – ging aber unsere Witwe zu dem Kaufmann …«, oder sie unterbrach sich und fragte: »Und nun, lieber Hörer und König, was hättest du an Stelle des Arztes getan?«

Er hörte zu, und hörend, von was für wunderlichen Dingen die Welt voll war, erfaßte er plötzlich, wie wunderlich seine eigene Geschichte war, die er bisher als etwas Selbstverständliches hingenommen hatte. Denn nicht weniger bunt als ihre Märchen war, was er selber erlebt hatte: wie er als Dreijähriger König wurde, und wie sich die Granden um seine Vormundschaft stritten und ihn herumschleppten von Feldlager zu Feldlager und von Stadt zu Stadt, bis er, ein Vierzehnjähriger, mit einer Stimme, die noch in die Höhe rutschte, in Toledo vom Turm der Kirche San Roman herunter die Bürger aufrief, für ihren König einzustehen und ihn aus der Hand seiner Barone zu retten. Und wie er, immer noch sehr jung, die englische Prinzessin freite, die selbst noch ein Kind war, und wie sie Umwege machen mußte, weil man mit León im Kriege lag, bis endlich die Hochzeit ausgerichtet werden konnte. Und wie er sein ganzes junges Leben hindurch weiter Krieg führte und sich herumschlug, mit den Ungläubigen, mit den rebellischen Granden, mit dem König von Aragon, dem von León, dem von Navarra, dem von Portugal und auch, in aller Frömmigkeit, mit dem Heiligen Vater. Und wie er Kirchen baute und Klöster und Festungen und zuletzt dieses Lustschloß La Galiana. Und wie er jetzt hier saß und den Sinn seines Lebens gefunden hatte: diese Frau und diese Märchen, von denen sein eigenes Leben eines war.

Sie erfand neue Spiele. Zeigte sich ihm in der Knabentracht, die sie auf Reisen zu tragen pflegte. Auch den Degen hatte sie umgegürtet; so stolzierte sie herum, zärtlich, hübsch und ungeschickt. Sie schenkte ihm einen reichbestickten Schlafrock aus schwerer Seide, dazu perlbestickte Pantoffeln. Er tat den Schlafrock aber nur widerstrebend um, und als sie wollte, daß er sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde hocke, weigerte er sich unwirsch.

Die Kränkung gutzumachen, daß er ihr Geschenk nicht achtete, zeigte er sich ihr in der Rüstung. Es war aber nur die leichte, silberne Rüstung, die er bei Festlichkeiten trug. Sie war ehrlich entzückt, wie schlank, kühn und elegant er aussah, und sie erzählte ihm, wie sie um ihn gezittert hatte damals, als er den Stier bekämpfte. Aber als sie ihn bat, er möge sich ihr in der richtigen Rüstung zeigen, in der, welche er in der Schlacht trage, wich er aus, und auch als sie ihn nach seinem berühmten Schwert Fulmen Dei, Gottes Blitz, fragte, gab er nur vage Antwort.

Sie rühmte ihn vor der Amme Sa’ad. Da diese mürrisch schwieg, sagte sie ihr auf den Kopf zu: »Du magst ihn nicht, du kannst ihn nicht leiden.« – »Wie sollte ich etwas nicht leiden können, was meinem Lämmchen gefällt!« widersprach Sa’ad. Aber dann gab sie zu: »Mich verdrießt, daß er dich nicht zu seiner Sultanin macht. Noch für seine Sultanin wärest du zu gut.« Die Amme blieb besorgt und unglücklich, und eines Tages holte sie aus ihrem mächtigen Busen das Beste, was sie hatte, ein silbernes Amulett mit fünf Strahlen gleich den Fingern einer Hand. Es war eine »Hand der Fátima«, ein Amulett, das verboten, doch sehr wirksam war, und sie beschwor Raquel, es zu tragen, und Raquel war bewegt und nahm es.

Wenn die Amme Sa’ad Dinge aus der Stadt benötigte, mußte sie sich an Belardo wenden. Sie verstanden einander nur mit Mühe, und der feiste Ungläubige war ihr so widerwärtig wie sie ihm. Beide aber hatten sie das Bedürfnis zu schwatzen. Da saßen sie zusammen auf einer Bank im Schatten eines Baumes, sie tief verschleiert, und schimpften. Sie, annehmend, er werde sie nicht verstehen, äußerte in kehligem, geschwindem Arabisch sehr abschätzige Urteile über den König Unsern Herrn; er rügte und beklagte in derbem Kastilisch das abscheuliche Verbrechen des christlichen Königs, der in der Zeit des Heiligen Krieges mit einer Jüdin schlief. Sie verstanden einander nicht und nickten sich Zustimmung.

Mittlerweile hatte Don Alfonso seine Hunde kommen lassen, große Hunde, Raquel mochte sie nicht. Er tummelte sich mit den Tieren herum, warf ihnen beim Essen Stücke Fleisches hin. Das stieß Raquel ab, die an stille, genaue Eßsitten gewohnt war. Er merkte ihre Verstimmung, gab es auf, die Hunde zu necken und zu füttern, begann von neuem. Sie spielten Schach. Sie spielte gut und beteiligt und dachte lange nach, bevor sie zog. Das machte ihn ungeduldig, er forderte sie auf, endlich weiterzuspielen. Sie sah verwundert hoch, eine solche Aufforderung war in islamischen Ländern nicht üblich. Er selber, überschnell, wollte einmal einen Zug zurücknehmen. Sie war befremdet; hatte man eine Figur angerührt, dann mußte man mit ihr ziehen. Freundlich machte sie ihn auf die Regel aufmerksam. Er sagte: »Bei uns ist es nicht so«, und nahm den Zug zurück. Für den Rest des Spieles blieb sie schweigsam und legte es darauf an, sich schlagen zu lassen.

Sie angelten. Sie machten Kahnfahrten auf dem Flusse Tajo. Sie bat ihn, sie auf Fehler in ihrem Latein und Kastilisch aufmerksam zu machen, und versuchte ihresteils, sein Arabisch zu verbessern. Er faßte rasch auf, aber er legte kein Gewicht auf derlei Dinge.

Es gab Sanduhren in der Galiana, Sonnenuhren und Wasseruhren; Raquel warf keinen Blick darauf. Ihre einzige Uhr waren die Blumen. Da waren die Rosen von Schiras, sie öffneten sich des Mittags, da waren die Tulpen von Konja, sie gingen erst spät am Nachmittag auf, da war der Jasmin, er sandte seinen rechten Duft nur um Mitternacht.

Allein es kam ein Morgen, da drang Garcerán zu Alfonso vor und meldete: »Mein Vater ist da.« Don Alfonsos breite, klare Stirn furchte sich gefährlich. »Ich will niemand sehen«, rief er, »ich will nicht!« Garcerán schwieg eine kleine Weile, dann antwortete er: »Mein Vater, dein Erster Minister, läßt dir sagen, er habe so viele Botschaften wie graue Haare auf dem Kopf.« Alfonso, in seinen Hausschuhen, ging auf und ab. Garcerán folgte ihm mit dem Blick, fast hatte er Mitleid mit dem Freund. Schließlich, böse, sagte Alfonso: »Bitte deinen Vater, er möge sich eine kleine Weile gedulden. Ich werde ihn sehen.«

Don Manrique hatte kein Wort des Vorwurfs, er sprach von den Geschäften, als hätte er den König gestern verlassen. Der Ordensmeister von Calatrava verlangte in dringlicher Angelegenheit Audienz. Der Bischof von Cuenca war in Toledo und bat, dem König die Sache seiner Stadt selber vortragen zu dürfen. Die gleiche Bitte hatte eine Delegation der Stadt Logroño, auch eine Deputation von Villanueva. Man war beunruhigt, daß sich der König nicht sprechen ließ. Alfonso erwiderte heftig: »Muß ich immer dasitzen und warten, ob irgendwer eine unverschämte Bitte hat? Es sind noch keine zwei Monate, daß ich dem Bischof von Cuenca tausend Maravedí anwies. Ich will seine fromme, gierige Fresse nicht sehen.« Don Manrique, als hätte Alfonso nichts gesagt, fuhr fort: »Villanueva hat Versprechungen und wartet. Die Privilegien für Logroño brauchen deine Unterschrift. Die Sache mit Lope de Haro muß entschieden werden, Bescheid ist seit langer Zeit versprochen. Der Ordensmeister kann ohne deine Entschließung den Ausbau von Calatrava nicht weiterführen. Bürger deiner Stadt Cuenca warten in den Verliesen des Castro.« Alfonso, finster, doch ohne Schwung, sagte: »Ich selber habe viel warten müssen, du weißt es, Don Manrique«, und: »Ich werde morgen in Toledo sein«, schloß er jäh.

Er ging zu Raquel. Brüsk – Schmerz und Ärger machten ihn ungeschickt – teilte er Raquel mit: »Ich muß morgen nach Toledo.« Sie wurde tödlich blaß. »Morgen?« fragte sie sinnlos. »Aber ich bleibe nur kurz«, versicherte er eilig, »am dritten Tage bin ich zurück.« – »Am dritten Tage«, sagte sie ihm nach, und wieder klang es kläglich sinnlos, als begreife sie nicht. Und: »Geh noch nicht«, bat sie, und nochmals und nochmals: »Geh noch nicht.«

Er verritt früh am Morgen, und Raquel war allein.

Der Morgen war endlos, und es wird ein anderer Morgen sein und ein dritter, ehe er wieder da ist.

Sie ging in den Garten, sie ging an den Tajo, ging zurück ins Haus, ging wieder in den Garten, schaute auf die finstere Stadt Toledo, und die Rose von Schiras war immer noch geschlossen, und es war noch immer nicht Mittag. Und nachdem die Rose aufgegangen war, schlichen die Stunden noch langsamer. Raquel, am frühen Nachmittag, lag im Schatten ihres Zimmers, es war sehr heiß, und wurde es denn niemals Abend? Und sie ging von neuem in den Garten, aber die Tulpen waren noch geschlossen, und die Schatten waren kaum länger geworden. Endlich war es dunkel, aber da wurde es nur quälender.

Nach einer ewigen Nacht dämmerte ein schwärzlichgrauer Morgen, wurde heller grau, filterte weißlich durch die Vorhänge. Sie stand auf, ließ sich baden, salben und ankleiden und säumte und zögerte. Man brachte ihr das Frühstück, doch die Früchte waren ihr nicht saftig, die erlesenen Süßigkeiten nicht süß. Mit ihrem innern Aug sah sie den Alfonso, der nicht da war, wie er achtlos und gierig aß und trank. Sie sprach zu ihm, sagte seinem Luftbild verliebte Worte, rühmte sein mageres, männliches Gesicht, die rotblonden Haare, die nicht großen, scharfen Zähne. Ihre Hände glitten seine Weichen und seine Hüften hinab, sie sagte ihm schamlose Worte, die sie dem Alfonso aus Fleisch und Blut nicht hätte sagen können, und sie errötete und sie lachte.

Sie erzählte sich selber Märchen. Da waren Riesen, Untiere, die alles ringsum totschlugen und das Mark fressen wollten aus den Knochen ihrer Feinde. Sie äußerten Sätze, die Alfonso geäußert hatte, doch verstärkt ins Ungeheuerliche. Alfonso war einer dieser wüsten Gesellen, aber sie konnte nicht entdecken, welcher. Auch war es eigentlich nicht er, es war ein verwandelter, verzauberter Alfonso, der auf die Geliebte wartete, die ihn erlösen sollte aus der Gestalt, die er hatte annehmen müssen. Und sie wird ihn erlösen.

Sie dachte daran, wie sie das erstemal zu ihm gesprochen hatte in Burgos und ihm gesagt, daß ihr sein finsteres Kastell nicht gefalle. Und sie dachte an seine Sultanin Doña Leonor, wie sie sie mit gnädig kaltem Blick geprüft und abgeschätzt hatte. Ein leises Unbehagen war in ihr, sie schüttelte es ab.

Sie schrieb Alfonso einen Brief, nicht daß er ihn je lese, aber sie mußte bekennen, wie sehr und warum sie ihn liebte. Und sie schrieb mit aller Kraft ihres Herzens: »Du bist herrlich, Du bist der größte Ritter und Held in Hispanien, Du setzest Dein Leben ein für törichte Dinge, weil ein Ritter so tun soll, und das ist sinnlos und hinreißend, und darum liebe ich Dich. Mein Lieber, Ungeduldiger, Kriegerischer, Du bist laut, stürmisch, ungebärdig wie ein wilder Vogel, und ich möchte Dich in meinem Schoße haben.« Sie las, was sie geschrieben hatte, und sie nickte ernsten, wilden Gesichtes.

Sie hatte, um die Sprache zu studieren, ein kleines Buch fränkischer Verse gelesen; ein Gedicht hatte ihr besonders gefallen. Sie suchte das Buch her und lernte das Gedicht auswendig. »Sagte die Dame: ›Jedes Gelübde will ich tun für dich, mein Freund und wahrer Herzenswunsch – mon ami et mon vrai désir.‹ Sagte der Ritter: ›Wie hab ich es verdient, Dame, daß du mich so liebst?‹ Sagte die Dame: ›Weil du ganz so bist, wie ich es mir träumte, mon ami et mon vrai désir.‹«

Sie ging in den Park. Der Gärtner Belardo pflückte Pfirsiche, und sie bat ihn, er möge – wie man das in Sevilla tat – ein paar Früchte stehenlassen, damit der Baum nicht traurig sei. Belardo hörte sogleich mit dem Pflücken auf, aber sie spürte Feindschaft hinter seiner Bereitwilligkeit.

Sie saß am Ufer des Tajo und schaute nach Toledo und träumte. Sie dachte an Alfonso in seiner silbernen Rüstung. Sie wird ihm eine Rüstung schenken, wie der Waffenschmied Abdullah in Córdova sie fertigte, schwärzlichblau, mit vielen beweglichen Teilen, sehr elegant und dennoch ein besserer Schutz als die Panzerhemden der Christen. Der Vater mußte ihr die Rüstung besorgen.

Mit einemmal fiel ihr aufs Herz, daß sie dem Vater versprochen hatte, jeweils am Vorabend des Sabbats zu ihm zu kommen, um den ganzen heiligen Tag mit ihm zu verbringen. Er hatte es nicht von ihr verlangt, sie hatte es ihm angeboten, und nun hatte sie es all die Zeit her vergessen! Bestürzt erkannte sie, wie weit der Vater aus ihrem Leben zurückgewichen war.

Diesen Freitag wird sie zu ihm gehen. Nein, da kam Alfonso zurück. Aber den Freitag darauf wird sie zu ihm gehen, und nichts soll sie halten.

In Toledo hatte keiner der Räte ein Wort des Vorwurfs oder auch nur der Verwunderung für Alfonso, doch spürte er ihre Mißbilligung. Er kümmerte sich nicht darum. Eines einzigen Mannes Anblick wäre ihm peinlich gewesen, Jehudas. Aber der kam nicht.

Geschäfte füllten Alfonsos Tag, Empfänge, Beratungen, das Studium von Urkunden. Er sprach, debattierte, wog Gründe und Gegengründe, entschied, unterschrieb. Er mühte sich, Menschen und Dinge in der notwendigen harten Helle zu sehen, aber immer von neuem nebelte Verzauberung ein, die Verzauberung der Galiana, und während er redete und arbeitete und unterzeichnete, dachte er: Was tut sie jetzt? Und ist sie auf dem Mirador oder im Patio? Und trägt sie wohl das grüne Kleid?

Des Nachts brannte er vor Begier. Er wollte an den Aufriß der Festung Calatrava denken und an seinen Hader mit dem Bischof von Cuenca. Statt dessen kamen ihm arabische Verse in den Sinn, die Raquel ihm vorgesprochen hatte, und er versuchte, das ganze Gedicht zu konstruieren, aber trotz seines guten Gedächtnisses konnte er nicht alle Reime zusammenfinden, und das ärgerte ihn. Er sah deutlich Raquels Lippen, aus denen die Verse kamen, und er verstand sie nicht, und sie suchte ihm zu helfen, und sie tat die Arme auf und erwartete ihn. Und neue Hitze überrieselte ihn, und seine Pulse klopften, und er konnte nicht länger liegen.

Endlich war die Ewigkeit dieser drei Tage vorbei, und er war wieder in der Galiana, und der gleiche, grenzenlose, brustsprengende, zum Himmel reißende Jubel füllte sie beide.

Sie gab ihm, was immer er begehrte, doch genügte es nicht. Keine Berührung genügte, kein Kuß, keine Umarmung, keine Vermischung. Er begehrte sie tiefer und war rasend, daß es keine Sättigung gab für seine Begierde.

Er war eins mit ihr, mehr eins als mit sich selber. Ihr konnte er Dinge sagen, die er noch keinem gesagt hatte, auch sich selber nicht, stolze, kindische, königliche, alberne Dinge; und wenn er glaubte, er habe ihr sein Geheimstes enthüllt, dann ließ ihn ihre Nähe ein noch Geheimeres entdecken, das dahinter war. Es war ihm lieb, wenn Raquel antwortete; denn fast immer antwortete sie ein Unerwartetes, das er trotzdem sogleich verstand. Aber auch wenn sie schwieg, war es ihm lieb; denn wer sonst konnte so beredt schweigen, zustimmen, ablehnen, jubeln, klagen, tadeln?

Und wieder gab es um sie beide keine Zeit, kein Gestern und kein Morgen, nur ein erfülltes Heute.

Da aber, jäh, zerschnitt Raquel die zeitlose Seligkeit. »Heute nachmittag«, erklärte sie, »gehe ich nach Toledo zu meinem Vater.«

Er schaute sie an, verstört. War sie wahnsinnig? War er’s? Das konnte sie nicht gesagt haben. Er hatte sie mißverstanden. Er fragte, stammelte. Sie bestand: »Heute nachmittag geh ich zu meinem Vater. Sonntag morgen komme ich zurück.«

Raserei stieg in ihm hoch. »Du liebst mich nicht!« empörte er sich. »Noch kennen wir uns kaum, und schon treibt es dich fort. Das ist tödliche Kränkung. Du liebst mich nicht!«

Sie, während er ihr herbe Worte sagte, und immer herbere, dachte: Er ist furchtbar allein, der stolze König. Er hat niemand außer mir. Und ich habe ihn und den Vater.

Doch all ihr Triumph half ihr nicht weg über den geradezu leibhaften Schmerz, den sie jetzt schon spürte bei dem Gedanken, daß sie fort von ihm sein wird heute abend und heute nacht und nochmals einen ganzen, langen Tag und eine ganze, lange Nacht.

Zweites Kapitel

Don Jehuda entbehrte Raquel noch bitterer, als er erwartet hatte. Zuweilen spürte er würgende Eifersucht auf Alfonso. Dann wieder stellte er sich vor, wie ihm der Verhaßte in unberechenbarer Laune Raquel zurückschicken werde, vernichtet und vertan.

Auch Alazar schuf ihm Kummer. Die zweideutige Lage Raquels, die ruhmvolle Schmach der Schwester und des Vaters machte dem Knaben das Leben in der Burg immer schwerer. Aber er suchte nicht Rates bei dem Vater, wie der fürchtete und hoffte; vielmehr versperrte er sich, er zeigte sich immer seltener, und bei seinen seltenen Besuchen saß er einsilbig und bedrückt herum.

Der erste Sabbat nach Raquels Fortgang kam heran.

Der Sabbat war von jeher, schon in Sevilla, ein großer Tag für Jehuda gewesen. Diesen siebenten, den Ruhe-Tag, hatte Gott seinem Volke geschenkt, auf daß sich Israel an ihm auch in Zeiten der Bedrängnis frei und erhaben über die Völker fühle. Den Sabbat pflegte der tätige Jehuda in Wahrheit zu feiern, er schloß die Welt der Geschäfte aus und freute sich der Auserwähltheit seines Volkes und seiner eigenen.

Gegen alle Vernunft hatte er gehofft, Raquel werde schon am ersten Sabbat kommen. Als sie nicht kam, siegte seine Vernunft über seine Enttäuschung. Am zweiten Sabbat konnten keine Vernunft und kein angestrengter Wille mehr seinem fressenden Kummer Einhalt tun. Er suchte sich die hundert Gründe zusammen, die Raquel verhindert haben mochten; aber das fruchtlose Grübeln: Was ist es mit meinem Kind? Warum verläßt mich mein Kind? bohrte weiter.

Dann kam Alfonso nach Toledo. Es lockte Jehuda, ihn aufzusuchen, er hatte den guten Vorwand dringlicher Geschäfte. Aber ihm bangte vor sich selber und vor seinem Herzen, er ging nicht zu Alfonso. Er wartete darauf, daß Alfonso ihn rufe, er wartete den ersten Tag und den zweiten und den dritten und war froh, daß der König ihn nicht rief, und raste, als der König Toledo verließ und hatte ihn nicht gerufen.

Und es kam der dritte Sabbat ohne Raquel. Sie hatten sich vereinigt, der Christ, der Soldat, der Mann ohne Geist und Gewissen, und seine ehemals so liebenswerte, so liebevolle Tochter, sie hatten sich zusammengetan, ihn durch Schweigen zu peinigen, ihm das Herz aus der Brust zu reißen. Er hatte Raquel verloren.

Aber dann kam ihre Botschaft. Und dann, vor dem Sabbateingang, kam sie.

Jehuda hatte Scheu vor leiblicher Berührung, aber er faßte Raquel beinahe gewalttätig, umarmte sie, beugte ihren Kopf zurück, saugte ihren Anblick ein. Sie ruhte aus in seiner Umarmung, sie hatte die Augen geschlossen, er konnte nicht erkennen, was sie erlebt hatte. Soviel war gewiß: verstört war sie nicht, sie war seine Raquel, und sie war noch schöner geworden.

Er bat sie, die Lichter anzuzünden, wie es nach altem Brauch das Vorrecht der Frauen war, sie leuchteten hinein in die sich senkende Sabbatnacht, es war ein guter Abend. Er sang das Sabbatlied des Jehuda Halevi: »Komm, Geliebter, komm, Sabbat, entgegen der Braut«, und er sprach, seinen Jubel mitjubelnd, den Psalm Davids: »Freuet euch, ihr Himmel! Frohlocke, Erde! Rausche auf, Meer! Bäume und Wälder, jauchzet dem Herrn!«

Sie setzten sich zum Mahle, mit ihnen Musa. Raquel schien in sich gekehrt, doch fröhlich. Musa, gegen seine Gewohnheit, streichelte ihre Hand, und er sagte: »Wie schön du bist, meine Tochter.« Man sprach während des Mahles von mancherlei, aber nicht von dem, woran alle dachten.

Raquel schlief gut und tief in dieser Nacht. Jehuda war noch voll von Zweifeln, und vielleicht auch war er eifersüchtig, doch die Qual war fort, die er alle die Zeit her gespürt hatte.

Am andern Tage dann, als Raquel allein mit dem Vater im Patio an der großen Fontäne saß, sahen sie einander lächelnd an, mit halben Blicken, mit ganzen Blicken, und schließlich beantwortete Raquel die ungefragte Frage. »Es ist alles gut, mein Vater«, sagte sie. »Ich bin nicht unglücklich.« Und: »Ich bin glücklich«, gestand sie, und aufrichtig: »Ich bin sehr glücklich.« Jehuda, sonst um Worte nicht verlegen, wußte nichts zu sagen. Eine große Last war von ihm abgefallen, das war gewiß, aber ob er sich freute, wußte er nicht.

In der Galiana war Raquel mehr und mehr ins Moslemische zurückgeglitten. Jetzt erinnerte sie sich ihres Judentums. An den Türen des Castillo Ibn Esra waren wie an jedem jüdischen Haus Bekenntniszeichen angebracht, kleine Röhren, welche Pergamentrollen einschlossen mit dem Bekenntnis zu dem Ein und Einzigen Gotte Israels und mit dem Gelöbnis unbegrenzter Hingabe. Raquel beschloß, eine solche Mesusa auch in der Galiana anzubringen.

Die Nacht kam und mit ihr die Hawdala, die Scheidung, die holde und bittere Zeremonie, die den Sabbat von den Tagen der Woche schied, das Heilige vom Gemeinen. Die brennende Kerze war da, der gefüllte Becher Weines, das Gewürz, verwahrt in kostbarer Büchse, und Jehuda segnete den Wein und trank von ihm, segnete das Gewürz und atmete ein letztes Mal seinen sabbatlichen Duft, segnete das Licht und löschte die Kerze im Wein.

Sie sagten einander gute Nacht, geteilten Gefühles, da nun eine ganze Woche vergehen sollte, ehe sie sich wiedersahen. Aber noch war Raquel nicht eingeschlafen, als nichts mehr in ihr war außer der Erwartung des Morgens, da sie in die Galiana zurückkehren wird.

Der Domherr Don Rodrigue hatte ein menschenfreundliches Herz, der Domherr Don Rodrigue bestrebte sich, die christliche Pflicht des Gehorsams zu üben, und manches Mal geriet seine Menschenfreundlichkeit in Zwiespalt mit dem Gebot des Gehorsams. Der Heilige Vater hatte den Kreuzzug verkündet, und es war Pflicht Hispaniens, daran teilzunehmen; aber wenn der Domherr daran dachte, daß nun wieder ein großer Krieg in der Welt war und die Menschen einander quälten und zerfleischten, dann freute er sich, daß bis jetzt wenigstens seine Halbinsel verschont war. Das war indes eine sündige Freude, und des Nachts, wenn er daran dachte, daß, während so viele gute Christen um des Heiligen Landes willen tausend Strapazen und Tode duldeten, er und seine Spanier in Wohlbehagen lebten, dann überfiel ihn zuweilen so heiße Scham, daß er sein Bett verließ und auf der nackten Erde schlief.

Seine Trübsal um das allgemeine Unglück wurde vermehrt durch den Kummer um Don Alfonso, sein Beichtkind. Der Domherr liebte Alfonso wie einen jüngeren Bruder. Der strahlende Ritter und König hatte es ihm angetan. Seitdem Rodrigue seine Chronik begonnen hatte, freute er sich darauf, sie zu beschließen mit der Darstellung der Regierung dieses seines lieben Schülers und Beichtkindes; ja, er hatte bereits die Worte gefunden, das Wesen des Achten Alfonso zu kennzeichnen: vultu vivax, memoria tenax, intellectu capax – lebhaft von Angesicht, zäh von Gedächtnis, stark von Verstand. Und nun hatte dieser sein Alfonso sich ungeheuer und gefährlich verloren, er hatte sich in schwerste Sünde verstrickt, in eine Wurzel-und Hauptsünde, in die dritte der Todsünden!

Ihm, Rodrigue, oblag es, Alfonso zu tätiger Reue zu bewegen, die allein ihn vor dem geistigen Tode retten konnte. Doch Rodrigue war ein guter Menschenkenner, er sah, der Sünder war betäubt vom wilden Geruch seiner Sünde, jede Mahnung wäre eitel gewesen. Rodrigue mußte sich darauf beschränken, für Alfonso zu beten. Manchmal auch, wenn er sich kasteite, war ihm, als büße er einen Teil der Schuld Alfonsos ab. Freilich durfte der Mensch sich nicht anmaßen, dem Heiland gleich die Sünden anderer auf sich zu nehmen, des war sich der Domherr bewußt; trotzdem schlich sich ein wenig solcher Ketzerei wohltuend in seine Kasteiungen ein.

Vermochten Don Rodrigues Pönitenzen ihm gemeinhin nichts weiter zu verschaffen als das Gefühl erfüllter Pflicht, so verhalfen sie ihm in Stunden der Gnade zu einer süßen, heiligen Leichtigkeit. Es versank dann sein Leib, das Irdische zerlöste sich, und er ging ein in eine strenge Seligkeit, in welcher nichts war als Geist und Gott.

Er hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dem König aus seiner innern Not helfen zu können, als in einer solchen Stunde der Verzückung alle seine Zweifel sich zerstreuten. Er fühlte es, er war erhört. Aus den Urgründen seines Wesens wuchs ihm die Gewißheit, Gott werde ihm zur rechten Zeit die rechten Worte auf die Zunge legen.

Es focht ihn nicht an, als in diesen Tagen seiner Zuversicht der Erzbischof ihn zur Rede stellte. »Wie lange willst du noch untätig zuschauen«, herrschte Don Martín ihn an, »wie dein Beichtkind Alfonso im Schlamme versinkt?« Und noch bevor der andere erwidern konnte, fuhr er fort: »Denke an Pinehas, den Sohnessohn des Aaron, wie er eiferte gegen den Mann, der mit der Midianitin hurte.« Der Domherr richtete nachdenkliche Augen auf ihn und antwortete still, fast lächelnd: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Gott wohlgefällig sein sollte, wenn ich dem König Unserm Herrn und Doña Raquel den Spieß in den Leib rennte.« – »Du weißt, daß ich nur bildlich gesprochen habe«, grollte der Erzbischof. »Aber soviel muß ich dir sagen: mehr Eifer wäre wohlgetan.« – »Ich traue auf Gott«, sagte Don Rodrigue. »Er wird mich zur rechten Zeit die rechten Worte finden lassen.«

Der Erzbischof erkannte, daß es sinnlos gewesen wäre, länger in Rodrigue zu dringen. Allein er hatte seit Wochen erwogen, ob er nicht selber die Pflicht habe, dem König sein ungeheuerliches Verbrechen vorzuhalten. Er hatte sich nur mit Überwindung entschlossen, dem frommen, milden, fast heiligen Rodrigue die Aufgabe zu überlassen, und daß er jetzt auf seine sanfte Mahnung nichts zu hören bekam als fromm unverbindliches Gerede, verdroß ihn. Er suchte nach einem Vorwand, seinem Sekretär sein Mißvergnügen zu zeigen.

Nun gab es da eine alte Streitfrage zwischen ihnen. Während das ganze christliche Abendland nach dem Vorbild des römischen Abtes Dionysius Exiguus seine Ära vom Jahre der Geburt Christi an zählte, begannen die hispanischen Fürsten die ihre achtunddreißig Jahre früher, mit dem Jahr, in welchem der Kaiser Augustus die Halbinsel zu einem einheitlichen Staatsgebilde gemacht hat. Da diese Verschiedenheit der Datierung zu Mißhelligkeiten in der Korrespondenz mit dem Ausland führte, versuchte Don Rodrigue die Briefausfertigung der erzbischöflichen Kanzlei der des Auslands anzupassen. In guten Stunden ließ sich der Erzbischof diese Verirrung seines neuerungssüchtigen Sekretärs gefallen. War er aber übler Laune, dann griff er ein. Heute also, unvermittelt, sagte er streng: »Ich sehe mit Bedauern, mein lieber Herr und Bruder, daß du wieder anfängst, unsere Briefe mit der Jahreszahl der päpstlichen Kanzlei zu datieren. Ich habe dir des öftern meinen Willen kundgetan, der hispanischen Kirche ihre Eigenart zu wahren. Ich lehne es ab, Rechte aufzugeben, die älter sind als die Rechte des Papstes. Schließlich ist auch mein Vorgänger hier in Toledo von dem Apostel Petrus eingesetzt worden.«

Don Rodrigue wußte, warum sein Vorgesetzter den alten Streit über die Zeitrechnung so gewalttätig erneuerte. Er ließ sich auf keine Debatte ein, sondern sagte versöhnlich: »Habe Vertrauen, mein hochwürdiger Vater. Gottes Gnade wird es mir vergönnen, die Seele des Königs Unseres Herrn zu retten.«

Alfonso stand vor der Mesusa, der Bekenntnisrolle, welche Raquel an dem Türpfosten ihres Wohnraums in der Galiana angebracht hatte. »Wie ist das«, fragte er mit dünnem, nicht unfreundlichem Spott, »wirst du hier im Hause noch viele Änderungen vornehmen?« – »Aber gewiß«, antwortete sie fröhlich. »Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod«, zitierte sie den arabischen Spruch. »Nun ja«, meinte Alfonso, »ein Amulett kann nie schaden.«

Raquel antwortete nicht. Sie verzieh es ihm, daß er in dem Zeichen ihres Bekenntnisses nichts weiter sah als ein Amulett. Was verstand er, der vor den Bildnissen dreier Götter kniete, von dem ein und unteilbaren, unsichtbaren Gotte Israels? Er war nichts als Ritter und Soldat, keine Ehrfurcht vor dem Höchsten schauerte ihn an, sie wußte es längst. Aber seltsamerweise wurde er ihr dadurch nicht kleiner. Sein Heldentum, so gottlos und verderblich es war, wärmte ihr das Herz.

Alfonso seinesteils legte sich jetzt Rechenschaft ab über Dinge, die er bisher nur dunkel geahnt hatte. Vielleicht war sein Leben hier in der Galiana unritterlich, vielleicht verriet er seine Königspflicht: er war bereit, sein Glück mit solchem Verrat zu bezahlen. Mit Raquel zu leben, war der Sinn seines Daseins. Er litt, wenn er sie auch nur auf Minuten entbehren mußte. Er wird sie niemals entbehren können, er spürte es, er wußte es, und das war furchtbar, und das war Seligkeit.

Und so wie er war Raquel ausgefüllt von ihrem Glück. Sie lebte hier nicht um einer »Sendung« willen. Sie lebte hier, weil sie es so wollte, weil es sie glücklich machte. Und Alfonso, der Christ, der Ritter, der Barbar, war ihr recht, genau wie er war. Er war König, er unterstand einem einzigen Gesetz, seiner innern, königlichen Stimme, und diese Stimme hatte recht, auch wenn sie ihn hieß den Mann blenden, der auf der Wache geschlafen hatte, oder die feindliche Stadt dem Erdboden gleichmachen und Salz auf sie streuen.

Mit ihm, für ihn war sie stolz auf Dinge, die sie früher belächelt hätte. Er erzählte ihr von den wilden gotischen und normannischen Königen, die seine Väter waren, und sie bewunderte sie mit ihm. Er rühmte die derbe Kraft seines niedrigen Lateins, seines Kastilisch, und sie mühte sich eifrig, es zu lernen.

Er freute sich knabenhaft, wenn sie Worte und Wendungen seiner kastilischen Soldatensprache gebrauchte. Zum Dank warf er dann wohl den arabischen Mantel über, wenn sie ihm am Brunnen ihre Märchen erzählte. Als sie ihn freilich bat, sich den Bart abnehmen zu lassen, da sie sein Gesicht nackt sehen wolle, lehnte er’s barsch ab. »Das tun nur Joglares, Gaukler«, empörte er sich. Sie nahm es ihm nicht übel, sie lachte. Es war keine Fremdheit zwischen ihnen, sie waren eins wie in ihrer ersten Zeit.

Doch dann kam der Freitag, und sie schickte sich an, zu ihrem Vater zu gehen. Alfonso suchte sie dieses Mal nicht zu halten; aber er saß bösen Gesichtes da, ein gekränktes Kind.

Raquel verließ ihn so widerstrebend wie das erstemal. Allein schon auf dem Wege zum Castillo Ibn Esra verspürte sie ein tiefes Verlangen nach dem Vater; ihr war, als müsse sie sich bei ihm Hilfe und Stärkung holen.

Sie wurde stärker in seiner Nähe. In der Galiana war sie nur ein Teil Alfonsos gewesen, nicht sie selber; sie hatte Alfonsos Ganzheit bewundert und sich selber unterlegen gefühlt, weil sie zwiespältig war. In Gegenwart des Vaters wußte sie: ihre Zwiespältigkeit war Tugend, war ein, freilich verfängliches, Glück.

Alfonso ging dieses Mal nicht nach Toledo; er wollte nicht wieder die stummen, mißbilligenden Gesichter seiner Herren um sich haben. Lieber ertrug er die Qual, in der Galiana auf Raquel zu warten.

Nun sie aber nicht da war, bedrückte ihn die Fremdheit des Hauses. Die üppigen Polster, die farbigen Schnörkel und Ornamente, die plätschernden Springbrunnen machten ihn beklommen.

Er stand vor einem der hebräischen Spruchbänder. Mit seinem guten Gedächtnis erinnerte er sich genau der Worte, die ihm Raquel übersetzt hatte. Da versicherte der jüdische Gott sein auserwähltes Volk seiner ewigen Gnade und des Triumphes über alle andern Völker. Alfonso sehnte sich brennend nach Raquel, und gleichzeitig, vor der ärgerlichen, anmaßenden Inschrift, sagte er sich: es ging nicht mit rechten Dingen zu, daß er so um sie litt. Die Juden waren nun einmal Geschöpfe, auf die es mit Bewilligung Gottes der Teufel besonders abgesehen hatte. Die Schlange im Wams, der Zunder im Ärmel, ging es ihm durch den Sinn. Auch Raquel, gegen ihren Willen, war eine Hexe, und er war besessen.

Er ging hinaus ins Freie, warf sich unter einen Baum.

Rief den Gärtner Belardo, um mit ihm zu schwatzen. Fragte ihn geradezu: »Wie denkst du eigentlich über mein Leben hier?« Belardos rundes, fleischiges Gesicht wurde ein einziges, dümmliches Staunen. »Wie ich darüber denke, Herr König«, antwortete er schließlich, »das ziemt mir nicht zu sagen und auch nicht zu denken.« – »Dann sag es schon«, befahl ungeduldig Alfonso. »Wenn ich es also sagen muß«, erwiderte Belardo, »dann sage ich: eine so ungeheuer große Sünde ziemt sich nur für einen ungeheuer großen Herrn.« – »Sprich weiter!« forderte Alfonso ihn auf. »Und es ist auch schade«, fuhr vertraulich der Gärtner Belardo fort, »daß wir alle und vielleicht auch du selber, Herr König, dadurch um die Freude unseres Herzens und den Hauptspaß unseres Lebens kommen.« – »Sprich ruhig weiter«, ermunterte ihn der König. »Ich muß in diesen letzten Monaten«, schwatzte der Gärtner Belardo, »immer an meinen seligen Großvater denken. Der hat, wenn er guter Laune war, von seinem großen, heiligen Feldzug erzählt. Siehst du, Herr König, das war so. Als damals der griechische Kaiser Alexius den Heiligen Vater um Hilfe bat fürs Heilige Land, schrieb er ihm, was für eine große Schmach die Christenheit dort erdulden muß und wie die heiligen Bilder des Heilands überall an Nase und Ohr, an Arm und Bein verstümmelt sind, und wie die heidnischen Machummetaner immerfort argen Frevel gegen christliche Töchter üben, wozu die Mütter singen müssen, und dann wieder gegen die Mütter, wobei den Töchtern schnöde Romanzen zugemutet werden. Außerdem schrieb der griechische Kaiser, daß, ganz abgesehen von der Heiligkeit eines solchen Krieges, von den Heiden großer Goldschatz zu holen wäre und daß auch die Weiber im Morgenland unvergleichlich schöner wären als die im Abendland. Alle Christenheit war gerührt und erzürnt durch diesen Brief, und auch mein seliger Großvater. Er hat sich ein Kreuz angenäht und ein altes Lederkoller gekauft und eine Lederhaube und ist mit gnädiger Erlaubnis deines hochseligen Herrn Großvaters den langen Weg gezogen. Ich kann mir’s gar nicht denken, wie er’s geschafft hat, der alte Mann; damals freilich ist er viel jünger gewesen. Wie er endlich hinkam, haben die andern schon alles erobert gehabt, die Schätze und die Weiber, und viele sind auch tot gewesen. Er ist also gar nicht zum Kampf gekommen, und er hat auch nichts mit nach Hause gebracht. Aber es war doch das Beste, was er im Leben gehabt hat, weil er gebetet hat an dem Stein, auf welchem der Heiland selber gesessen hat, und getrunken aus dem Wasser, aus dem der Heiland selber getrunken hat, und den Leib getaucht in den heiligen Fluß Jordan. Und wenn mein Großvater guter Laune war, hat er davon erzählt, und dabei hat er ganz heilige Augen gehabt.« Belardo verstummte in Erinnerung. »Und?« fragte Alfonso. »Es wäre halt schön«, meinte Belardo, und seine Augen schauten dumm-schwärmerisch, »wenn auch unsereiner einen so heiligen Spaß erlebte. Was kann uns schon passieren im Krieg gegen die abscheulichen Machummetaner? Wenn es gut geht, dann erbeuten wir Geld und Weiber, und wenn es schlecht geht, dann gehen wir selig ins Paradies ein.« – »Kurz«, resümierte Don Alfonso, »du findest es lästerlich, daß ich hier auf dem Lotterbett liege.« – »Schütze mich Gott vor einem so greulichen Gedanken gegen deine Majestät!« verwahrte sich Belardo.

Das Gerede seines pfiffigen Gärtners, so albern es war, beschäftigte Alfonso. Alle spürten es, daß er seine Ritter- und Königspflichten verabsäumte, daß er sich »verlag«, so wie es unter den Alten die Helden Herkules und Antonius getan hatten und auch der hebräische Ritter Simson mit seiner Delila. Er hielt es im Schlosse nicht aus, er verbrachte alle Zeit im Garten, er schlief sogar im Freien, und sein Schlaf war nicht gut.

Sowie aber Raquel zurück war, kam der alte Zauber über ihn. Nicht mehr stieß das arabische Wesen ihn ab. Das Leben in der Galiana war gut, kein besseres hatte er je geführt. Er lachte jungenhaft erstaunt, wie glücklich er war. Ein fröhlicher Trotz war in ihm. Wenn er sich verlag, dann war es ihm recht so, er war damit einverstanden, und keiner sollte kommen und ihm schwatzen von Schuld und Reue. Ein so hohes Glück, wie es von Raquel ausging, das konnte nicht vom Satan stammen. Vielmehr hatte Gott ihn, weil er ein König war, in seine besondere Gnade genommen, und diese Liebesseligkeit war ein neuer Beweis seiner Gnade. Er war Don Alfonso, Alfonsus Rex, der Achte seines Namens. Er stand ein für das, was er tat. Er lebte mit Raquel, weil es göttliche Eingebung und sein königlicher Wille war.

Als sie am nächsten Freitag zu ihrem Vater ging, sagte er: »Ich will nicht, daß du dich in meine Hauptstadt hineinschleichst. Ich will nicht, daß die Dame, welche König Alfonso auserwählt hat, sich versteckt.«

Sie ließ sich in offener Sänfte nach Toledo tragen. Er selber befahl Gefolge nach La Galiana und ritt großartig hinauf in die Stadt und in seine Burg.

Der Page Alazar hatte eine Bitte an den König. Der Schildknappe Sancho hatte ihn verhöhnt wegen seines Minnedienstes für Doña Juana, und er wollte den Sancho zum Zweikampf fordern. Er bat den Herrn König ehrerbietig um die Gnade, ihn zum Écuyer zu erhöhen, damit er imstande sei, die Ausforderung zu machen.

Das Anliegen des Knaben war berechtigt; er hatte nun länger als üblich ohne Fehl gedient und durfte erwarten, daß der König ihm den erbetenen Rang verleihe. Aber man konnte nicht wohl einen Juden zum Schildknappen machen. »Du hast, mein Alazar«, erwiderte nach kurzem Nachdenken freundlich der König, »alle guten Eigenschaften, die ein Ritter benötigt. Doch kennen wir hierzulande nun einmal nur christliche Ritter.« Der Knabe errötete. »Das ist mir bewußt«, sagte er. »Ich habe auch, bevor ich deine Majestät um die Gunst bat, mein Gewissen gründlich erforscht und alles Für und Wider geprüft. Ich bin willens, ein christlicher Ritter zu werden.«

Alfonso war überrascht, verwirrt. Tausende von Juden, Zehntausende hatten sich erschlagen lassen, bevor sie ihre Religion aufgaben, und da kam dieser Knabe, von keinem genötigt oder auch nur aufgefordert, und wollte seinen Glauben abschwören. »Hast du mit deinem Vater gesprochen?« fragte er unbehaglich. »Nein«, erwiderte ohne Zögern Alazar, und trotzig fügte er hinzu: »Keiner hat mir zugeredet, und keiner soll mir abreden.«

Alfonsos Verwirrung klärte sich. Es war das Leben am Hofe von Kastilien, an seinem Hofe, welches diesen jungen Menschen das Licht hatte sehen machen. Und plötzlich stieg dem König ein Gedanke auf, den zu denken er bisher nie gewagt hatte, die Vorstellung, daß auch seine liebe Liebste erleuchtet werden könnte. Hatte sie nicht schon Sinn und Spürung bekommen für das Ritterliche in ihm, das Kriegerische, das früher ihrem Herzen so durchaus fremd gewesen war? Der bloße Gedanke aber, es könnte ihm vergönnt sein, Raquel dem rechten Glauben zu gewinnen, gab seiner Verstrickung mit ihr neuen, hellen Sinn und nahm seiner Leidenschaft das Sündhafte. So ungestüm war seine Freude, daß er Mühe hatte, Alazar ruhig zu antworten. »Was du mir mitteilst, mein Junge«, sagte er, »ist mir große Genugtuung. Aber ich bin kein Gottesgelehrter und weiß nicht, was alles zu tun ist, bevor sie dich zum Sakrament zulassen. Ich will mit Don Rodrigue reden.«

Von Gott auf so freundliche Art gemahnt, beschloß er, sich mit dem Priester endlich auch über seine eigenen Dinge auszusprechen. Freimütig, noch bevor er auf Alazars Angelegenheit zu reden kam, gestand er Rodrigue, wie eng verknüpft er mit Raquel war. Und: »Sage mir nicht, mein hochwürdiger Vater«, schwärmte er weiter, noch ehe der Domherr mahnen und raten konnte, »sage mir nicht, diese Leidenschaft sei Sünde. Wenn es eine ist, dann ist es eine gute, selige Sünde, und ich bereue sie nicht.« Und inbrünstig schloß er: »Ich liebe diese liebste Frau über alles, und der Herrgott, der es so gefügt hat, wird es mir zugute halten.«

Don Rodrigue war, als Alfonso zu reden begann, erfüllt gewesen von frommer Dankbarkeit, daß Gott das Herz des Sünders gerührt hatte. Schnell aber war seine Freude in Entsetzen umgeschlagen, als er wahrnehmen mußte, wie verwildert der König war. »Du sprichst vieles«, sagte er traurig, als Alfonso zu Ende gesprochen hatte, »und du willst mir zuvorkommen und mich hindern, daß ich dir die rechten strengen Worte sage. Aber in deinem Innern weißt du alles, was ich dir zu sagen habe, und du weißt es seit langem und besser, als ich’s dir sagen könnte.«

Alfonso sah sein bekümmertes Gesicht und fragte leise: »Hab ich die Gnade verloren, mein Vater? Bin ich bestimmt zu ewiger Verdammnis?« Da aber der Domherr nur ein bedrücktes Schweigen zur Antwort hatte, schlug Alfonsos Gefühl um. »Gut«, sagte er leichtsinnig. »Dann will ich in die Verdammnis eingehen.« Und: »Wo sind die Urväter meiner Urväter«, fragte er herausfordernd weiter, »die Könige, die Christi Lehre noch nicht angenommen hatten? Ich weiß, wo sie sind. Soll mich Gott zu ihnen schicken!«

Mild in aller Verzweiflung mahnte Rodrigue: »Versündige dich nicht noch tiefer, mein Sohn, durch so lästerliche Scherze! Im Herzen deines Herzens glaubst du kein Jota von dem heidnischen Gerede. Laß uns lieber in Demut nachdenken, was wir für deine Seele tun können.«

Der König, ein jungenhaftes Lächeln um den Mund, bat: »Sei nicht allzu betrübt, mein lieber, hochwürdiger Vater und Freund. Gott ist gnädig und hat es nicht so schlimm vor mit mir armem Sünder. Glaube mir’s. Gott hat mir ein Zeichen geschickt.« Und er erzählte von Alazar.

Der Domherr hörte mit dichter Aufmerksamkeit zu, und seine Trübsal wurde leichter. Er wußte, wie verhärtet in ihrem hochmütigen Wissen und Irren die Bewohner des Castillo Ibn Esra waren, er selber hätte es nie versucht, das Herz eines Ibn Esra schmelzen zu machen, und dieser Don Alfonso, in Wahrheit ein Gesegneter des Herrn, brauchte den Knaben nur in seine Burg aufzunehmen, und schon hatte er ihn zu dem milden Heiland bekehrt! Solches Verdienst machte vielen Frevel gut.

Alfonso sah, wie bewegt Don Rodrigue war, und mit liebenswürdiger Zutraulichkeit öffnete er ihm die letzte Kammer seines stolzen Herzens. »Der König wie der Priester«, sagte er, »ist von Gott mit einem geheimen Wissen begabt, das andern versagt ist. Ich weiß es: Gott hat mir diese wunderbare Frau geschickt, damit ich sie erwecke und ihre Seele erlöse.«

Sosehr den Domherrn Alfonsos Hochmut betrübte, ein Korn Wahrheit stak in seinen Worten. Gottes Wege waren nicht unsere Wege. Vielleicht sproß wirklich aus der Leidenschaft, in welche sich der König verstrickt hatte, nicht Unheil, sondern Segen.

Mochte dem sein wie immer, vorläufig sah sich Don Rodrigue vor einer schweren Aufgabe. Alfonsos ehrliches Vorhaben, Doña Raquels Seele zu retten, befreite den Domherrn nicht von der Verpflichtung, ihm die fleischliche Verbindung mit ihr zu untersagen. Er wußte aber, daß sich der König an ein solches Verbot nicht kehren werde.

»Es ist ein guter Vorsatz, Herr König, mein Sohn«, sagte er, »daß du Doña Raquel der Kirche gewinnen willst, doch kann ich dich so leichten Kaufes nicht entlassen.« – »Was soll ich denn noch tun?« fragte mit leiser Ungeduld Alfonso. Rodrigue, sich im Innern zürnend ob seiner Schwäche, riet ihm: »Halte dich eine Zeitlang, zwei Wochen oder doch eine Woche, allem weltlichen Umgang fern. Zieh dich zurück in eine der geistlichen Zufluchtsstätten deines Landes, halte Einkehr in dich selbst und warte, daß die Stimme Gottes dir spreche.« – »Du legst mir viel auf«, sagte Don Alfonso. »Ich lege dir weniger auf, als ich sollte«, antwortete Don Rodrigue. »Es fällt mir schwer, von meinem geliebten Sohn das ganze Maß zu verlangen.«

Rabbi Tobia, der im Hause Don Ephraims wohnte, hielt sich die meiste Zeit allein in seinem Raum, fastend, betend, sich versenkend in die Heilige Schrift. Jeder Augenblick, lehrte er, der anders verwendet werde als zur Versenkung in den Herrn und seine Offenbarung, sei eitel und vertan.

Der Rabbi war streng und fanatisch geworden in den vielen Nöten, die er und seine Gemeinde hatten erleiden müssen. Am härtesten geprüft hatte ihn dieses letzte Jahr. Er war, als König Philipp August die Juden aus Paris verbannte, mit Mitgliedern seiner Gemeinde nach Bray-sur-Seine geflohen. Als dann die Markgräfin Blanche jenes Edikt erneuerte, daß sich am Karfreitag zur Buße für die Folterung Christi ein Repräsentant der Juden öffentlich müsse ohrfeigen lassen, hatte die Gemeinde darauf bestanden, daß sich Rabbi Tobia beizeiten entferne, da vermutlich die Behörden ihn für diese Demütigung ausersehen würden. Während seiner Abwesenheit dann hatte der König jene kurze, furchtbare Strafexpedition gegen die Juden von Bray unternommen, die Frau des Rabbi Tobia war verbrannt worden, seine Kinder ins Kloster gesteckt. Rabbi Tobia hatte hier in Toledo immer nur von den Leiden aller gesprochen, niemals von seinen eigenen, er hatte auch denen, die um sein Schicksal wußten, verboten, davon zu sprechen, und so erfuhren die Juden von Toledo erst allmählich von dem, was ihm widerfahren war.

In der Einsamkeit seines Zimmers freilich überdachte der Rabbi oftmals die Ereignisse von Bray, und immer neue Zweifel kamen ihn an, ob er recht daran getan habe, dem Drängen der Gemeinde nachzugeben und die Stadt zu verlassen. Wäre er geblieben, bereit, die Demütigung auf sich zu nehmen, dann wäre es ihm vergönnt gewesen, gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern sein Leben hinzugeben zur Heiligung des göttlichen Namens.

Buße und Kasteiung waren Rabbi Tobia von jeher als hohes Gnadengeschenk Gottes erschienen; keine bessere Krönung des irdischen Daseins konnte er sich denken als das Martyrium, die Opferung, die »Akeda«. Er erklärte es als eine Todsünde, beim Herannahen von Kreuzfahrern ein Kreuz vor dem Haus anzubringen oder sich ein Kreuz aufs Gewand zu nähen. »Wenn die Banditen«, lehrte er, »verlangen, daß ihr ihnen einen Mann ausliefert, ihn zu erschlagen, oder eine Frau, sie zu schänden, dann sollt ihr euch alle niedermachen lassen, ehe ihr willfahrt. Und verdammt ist derjenige, der sich, um sein Leben zu retten, zum Götzendienst bekennt, und er bleibt verdammt in Ewigkeit auch dann, wenn er schon nach einer Woche in den Bund Israels zurückkehrt.«

»Die prächtigste Krone«, lehrte er, »ist die Demut, das erlesenste Opfer das zerknirschte Herz, die höchste Tugend die Ergebung. Der Fromme, wird er verlacht und öffentlich gegeißelt, dankt dem Allmächtigen für die Strafe und gelobt Besserung in seinem Herzen. Er lehnt sich nicht auf gegen diejenigen, die ihm Böses tun, er vergibt seinen Quälern. Er denkt unverwandt an den Tag seines Todes. Wird ihm sein Teuerstes genommen, Weib und Kind, dann beugt er sich in Demut vor der Gerechtigkeit der Vorsehung. Wollen ihn die Feinde zur Verleugnung seines Glaubens zwingen, dann opfert er in froher Frommheit sein Leben. Murret nicht beim Anblick der Wohlfahrt und des Übermutes der Heiden; die Wege Gottes sind gnadenreich, auch wenn ihr Ziel auf Jahrzehnte und Jahrhunderte verborgen bleibt.«

Solche Ergebung fiel Rabbi Tobia nicht immer leicht, er hatte ein heftiges Herz. Nicht wenige der Juden hatten ihren Haß gegen die Verfolger ausströmen lassen in wilden Versen der Schelte und des Zornes auf die »Vagabunden und Steppenwölfe«, auf ihren »Gehenkten Götzen«, auf das »Abwasser der Taufe«. Und maßlos war die Klage, schreiend das Gebet um Rache. »Gott der Gerechtigkeit«, gellten diese Verse, »vergiß nicht des vergossenen Blutes! Dulde nicht, daß es zugedeckt bleibe von der Erde! Übe an meinen Feinden das Gericht, das deine Propheten verkünden! Hinunter in das Tal Josaphat schmettere deine Hand meine Widersacher!« Auch gegen den Herrn selber schrien diese Dichter ihre Anklagen: »Wer bist du, Gott, daß du dich nicht vernehmen lässest? Warum duldest du, daß Edom von neuem frevelt und frohlockt? Die Heiden brachen in deinen Tempel, und du schweigst! Esau verhöhnt deine Kinder, und du bleibst stumm! Zeige dich, steh auf, laß deine Stimme erschallen, du Stummster unter den Stummen!« Wenn Rabbi Tobia solche Verse las, konnte auch er sein Herz nicht verhindern, sich zu empören. Doch sogleich bereute er. »Darf der Lehm dem Töpfer sagen: Was tust du?« beschimpfte er sich, und seine Zerknirschung wurde noch fanatischer.

Die Gläubigen sahen in ihm einen Propheten. Auch wurde ihm, wenn er sich in der Einsamkeit seines Zimmers in das Große Buch versenkte, zuweilen wunderbare Schau zuteil und die Gabe, seine Gesichte in Worten zu formen. Da schaute er dann wohl die Frommen, die Bekenner, sitzen, im Garten Eden, bestrahlt vom Lichte Gottes, und er sah die Frevler brennen in den Öfen des Gehinnom, der Hölle, und er befragte sie, und die im Fünften, grauenvollsten Ringe antworteten: »So geschieht uns, weil wir im irdischen Leben Adonai verleugnet und den Gehenkten angebetet haben«, und sie erzählten ihm, sie müßten nun zwölf Monate brennen, bis ihre Seele vernichtet sei wie ihr Leib; dann werde die Hölle ihre Asche ausspeien und der Wind sie unter die Fußsohlen der Gerechten wehen. Und er sah sich des Mitternachts in der Synagoge, und da waren versammelt die Toten der letzten sieben Jahre; unter ihnen aber waren, schattenhaft, auch diejenigen, die im Laufe des nächsten Jahres sterben sollten. Und während er geschlossenen Auges über den heiligen Büchern saß, ging er umher in den Straßen der Stadt Paris und in den Straßen der Stadt Toledo, und er sah Menschen, die er kannte, und er sah, daß sie keinen Schatten warfen, und er wußte: Ihnen war ein nahes, furchtbares Ende bestimmt. Nicht ohne Genugtuung sah er, daß unter diesen Schattenlosen auch jener Jehuda Ibn Esra war, der Meschummad, der seine Tochter der Buhlerei mit dem heidnischen König hingab.

Es war mittlerweile neue, schlimme Botschaft der fränkischen Juden eingetroffen. Wie Rabbi Tobia vorhergesehen hatte, folgten manche der großen Grafen und Herren dem Beispiele ihres Königs, plünderten ihre Juden und jagten sie dann aus ihren Grenzen. Rabbi Tobia hörte und las, und er machte sich auf und stellte sich vor den Párnas Ephraim.

So fremd und bedenklich diesem Unser Herr und Lehrer Tobia schien, so konnte er sich doch der Magie nicht entziehen, die von dem grauen, blassen, von innen her glühenden Wesen des Mannes ausging, und als nun dieser wider seine Gewohnheit ihn aufsuchte, wartete er furchtsam und gleichwohl gierig auf das, was er ihm zu sagen hatte.

Es erklärte ihm aber Rabbi Tobia in seiner stillen Art, er wolle Toledo verlassen und zu seinen Juden zurückkehren. Die Bedrohung mehre sich, und er glaube nicht, daß den Bedrohten von Toledo aus geholfen werde. Die Flüchtlinge könnten auf fränkischem Gebiete nicht mehr lange bleiben, und da ihnen die sephardische Grenze versperrt sei, wolle er sie nach Deutschland führen, von wo ihre Väter gekommen seien.

Mannigfaltige, widerspruchsvolle Gedanken und Gefühle waren in Ephraim. Der Hilferufenden wurden immer mehr, und es war ein Segen für die Aljama, wenn sie frei blieb von diesen Gästen, deren Gefährlichkeit mit ihrer Zahl wuchs. Aber es war eine nebeldunkle Zukunft, die in Deutschland auf die Flüchtlinge wartete. Kaiser Friedrich würde ihnen wohl Einlaß gewähren; aber nirgendwo waren bisher die Juden grausamer verfolgt worden als in deutschen Landen, und der Kaiser war nach dem Osten gezogen, und genügte sein Name, sie zu schützen? Das alles wußte Rabbi Tobia so gut wie er. Aber der wilde Glaubenseifer des Rabbi ersehnte wohl eher, als daß er sie scheute, Qualen und Prüfungen für seine Brüder. Mußte er dem Rabbi nicht abraten?

Da er dieses schweigend bedachte, fuhr Tobia fort: »Ich sag es dir offen, es ist mir lieb, daß der Mann Jehuda Ibn Esra uns die Hilfe nicht bringt, die er versprach. Es hat mich bedrückt, daß uns Hilfe kommen sollte von einem Meschummad, der die Scham seiner Tochter dem Götzendiener preisgibt. Ich will sein Geld und seine Hilfe nicht. ›Du sollst den Lohn einer Hure nicht in das Haus Gottes bringen‹, steht geschrieben.«

Die stille, gleichmäßige Art, wie Rabbi Tobia sprach, machte den Haß und die Verachtung seiner Worte nur lauter. Don Ephraim fühlte nicht ohne Genugtuung den eigenen Widerwillen vor Jehuda bestätigt durch die Empfindungen des Frommen, aber er war gerecht, er verteidigte den Ibn Esra. »Wenn in der westlichen Welt«, antwortete er, »unter unsern Brüdern einer die Macht hat, euch zu helfen, dann ist es Don Jehuda, und sein bester Wille steht außer Zweifel. Warte noch eine kurze Weile, mein Herr und Lehrer. Verwehre nicht durch Ungeduld und Strenge den verfolgten Brüdern die Zuflucht des linden Kastiliens.«

Rabbi Tobia bereute, daß er den Zorn hatte Macht gewinnen lassen über sich. Er sagte zu, sich noch ein weniges zu gedulden.

Don Jehuda war bedrückt. Ihn quälte die Vorstellung, was die Juden Toledos von ihm und von Raquel hielten. Mußten sie nicht Abscheu spüren?

Auch der Kummer um Alazar quälte ihn. Zwar hatte der Knabe ihm nicht gesprochen von seiner Absicht, zum Christentum überzutreten, aber Jehuda war sich bewußt, daß der Sohn den Wahrheiten jüdischer Lehre und arabischer Weisheit für immer verloren war. Und er war schuld daran. Statt den Sohn von dem gefährlichen Hof dieses Ritters und Soldaten zurückzuhalten, hatte er ihn hingetrieben.

Schuld, Schuld! Er hatte schwere Schuld auf sich geladen!

Er hatte sich gebrüstet mit seiner Sendung. Er hatte sich vorgemacht, er habe die Tochter geopfert, Gott zu Ehren. Aber Gott verwarf sein Opfer, das wurde klarer mit jedem Tag. Er hatte erwartet, die Verbindung Raquels mit Alfonso werde es ihm erleichtern, die fränkischen Flüchtlinge in Kastilien anzusiedeln; statt dessen verzögerte diese Verknüpfung das Rettungswerk, vereitelte es vielleicht vollends. Der König wich ihm aus, er hatte ihn seit ewiger Zeit nicht zu sehen bekommen, er konnte ihm das Anliegen, das ihm auf der Seele brannte, nicht einmal vortragen.

Solchen Mutes war Don Jehuda, als der Párnas Ephraim ihn aufsuchte. Er hielt es für seine Pflicht, ihn von dem Vorhaben des Rabbi Tobia zu unterrichten.

Don Jehuda war tief aufgerührt. Dieser Ephraim Bar Abba hatte ihn immer angezweifelt, und nun durfte er triumphieren und ihm dürr ins Gesicht sagen, daß auch Rabbi Tobia sein Versprechen, dem verfolgten Israel eine Heimstätte in Kastilien zu schaffen, für leeres Geschwätz hielt. Lieber, als länger auf ihn warten, wollte der Rabbi seine fränkischen Juden in das gefährliche Deutschland führen. Und er kam nicht einmal selber, ihm das zu sagen. Der Fromme mied seine verpestete Nähe.

»Ich weiß«, sagte er bitter und voll heißer Scham, »Rabbi Tobia verachtet mich mit seinem ganzen, strengen, frommen, einfältigen Herzen.«

»Du hast Unsern Herrn und Lehrer Tobia sehr lange warten lassen«, antwortete Don Ephraim. »Es ist verständlich, wenn er nun versuchen will, anderorts Rettung zu finden. Ich weiß, dein Versprechen war aufrichtig, aber ich fürchte, in dieser Sache ist der Segen des Herrn nicht mit dir.«

Daß ihm Ephraim seine Überheblichkeit so offen vorwarf, brachte Jehuda auf. Und der Zorn half ihm zu einem Einfall. »Ich brauche länger, das Privileg zu erwirken«, sagte er, »als ich erwartete, und ich begreife deinen Kleinmut. Aber vergiß nicht, wie schnell und übel sich die Zeit verändert hat. Als ich meinen Vorschlag machte, ging es um fünfzehnhundert oder höchstens zweitausend Verfolgte. Jetzt sind es ihrer fünf- oder sechstausend. Ich verstehe deine Zweifel, man kann nicht so viele Bettler ins Land lassen.« Er unterbrach sich eine ganz kleine Weile, schaute Ephraim ins Gesicht und fuhr fort: »Aber ich habe, glaube ich, die Lösung gefunden. Die Flüchtlinge dürfen eben keine Bettler sein, wenn sie die Grenze überschreiten. Wir müssen sie von Anfang an mit Geld ausstatten. Ich denke, etwa vier Goldmaravedí für einen jeden werden genügen.«

Ephraim starrte fassungslos. »Du sprachst von sechstausend Flüchtlingen!« brach er aus mit seiner dünnen Stimme. »Woher willst du das Geld nehmen?«

Jehuda antwortete freundlich: »Ich allein könnte es nicht schaffen, da hast du recht. Die Hälfte des Betrages, etwa zwölftausend Goldmaravedí, stelle ich zur Verfügung. Für das übrige brauche ich deine Hilfe, mein Herr und Lehrer Ephraim.«

Ephraim saß da, klein, zusammengesunken in seinen vielen warmen Gewändern. Das freche Dichten und Planen Jehudas füllte ihn mit einer unwillentlichen Bewunderung, und es war ihm Genugtuung, daß der Stolze seinen Beistand anrief. Doch wie konnte er ihm helfen? Zwölftausend Maravedí! Nach den ungeheuern Summen, welche die Aljama für die Unterstützung der Verfolgten gespendet hatte, konnte sie nicht noch diesen riesigen Betrag aufbringen. Rabbi Tobia wird also fromm und wahnsinnig seine fränkischen Flüchtlinge nach Deutschland und in ihren Untergang führen.

Aber das ging nicht! Das durfte Don Ephraim nicht geschehen lassen! Er hätte keine glückliche Stunde mehr. Er mußte dem Ibn Esra helfen! Mußte das Geld aus der Aljama herausquetschen!

Vielleicht übrigens – eine kleine, sündige Hoffnung regte sich in Ephraim –, vielleicht wird Jehudas Plan schließlich doch noch scheitern. Er bildete sich ein, der Gaukler, Verbrecher und Prophet, er könne von dem heidnischen König alles erlangen, weil er ihm seine Tochter zur Unzucht hingab. Aber er kannte die Christen schlecht und ihre Könige, der Größenwahnsinnige.

Sachlich, mit kaum merkbarem Hohn, präzisierte Don Ephraim: »Wenn die Aljama für die geforderte Restsumme gutsteht, dann verbürgst du dich also, das Niederlassungsprivileg für sechstausend fränkische Juden zu erwirken. Habe ich dich recht verstanden?« Jehuda, ebenso geschäftlich, bestätigte: »Es soll für sechstausend flüchtige fränkische Juden ein Betrag von je vier Goldmaravedí beschafft werden. Ich meinesteils werde zwölftausend Maravedí bereitstellen. Bürgt die Aljama für den Rest, dann verpflichte ich mich, ein königliches Edikt zu erwirken, welches den Flüchtlingen die Niederlassung in Kastilien erlaubt.«

Don Ephraim, hart und unnachsichtig, fragte weiter: »Und binnen welcher Frist, mein Herr und Lehrer Don Jehuda, verpflichtest du dich, das Edikt zu erwirken?«

Jehuda sah ihn wilden Blickes an. Er war frech, dieser Ephraim Bar Abba. Es war das erstemal, daß Jehuda keinen Erfolg hatte, und schon wurden die andern frech. Doch schnell sagte er sich, die Aljama behandle ihn zu Recht wie einen schlechten Schuldner; er hatte versprochen und nicht gehalten.

Aber noch war er nicht bankrott. Vielleicht, wenn er sich spornte zu einer letzten, ungeheuern Anspannung, nahm Gott sein Opfer an und brach des Königs bösen Willen.

Mit plötzlichem Entschluß stand er auf, winkte Ephraim, sitzen zu bleiben, ging in die Bibliothek, holte aus dem Schrein eine Rolle der Heiligen Schrift, rollte sie auf, suchte, legte die Hand auf die gesuchten Verse und sagte leise, doch wild: »Hier in deiner Gegenwart, mein Herr und Lehrer Ephraim Bar Abba, gelobe ich: Bevor das Laubhüttenfest um ist, werde ich von König Alfonso, dem Achten seines Namens, ein Privileg erwirken, welches sechstausend fränkische Juden ermächtigt, sich niederzulassen hier in diesem Lande Sepharad.«

Ephraim, tief bestürzt, war aufgestanden. Jehuda, immer mit der gleichen Wildheit, verlangte: »Und nun, Herr Zeuge, nimm du zur Kenntnis, was ich gelobt habe, und lies die Sätze der Lehre, wie es der Zeuge soll!« Ephraim aber neigte sich über die Rolle und las und sprach mit blassen Lippen: »Wenn du ein Gelübde tust, so sollst du es zu halten nicht verziehen; denn der Herr dein Gott wird es von dir fordern, und es wird dir Sünde sein. Was zu deinen Lippen ausgegangen ist, sollst du halten und danach tun, wie du gelobt hast.« Und Jehuda sagte: »Amen, so sei es. Und wenn ich nicht erwirke, was ich gelobt habe, dann wirst du gegen mich den Großen Bann verkünden.« Und Ephraim sagte: »Amen, so sei es.«

Alfonso verbrachte die Zeit der Einkehr im Pönitenzhaus von Calatrava. Er versuchte, sich das Verwerfliche seines Treibens in der Galiana vorzuhalten, versuchte zu bereuen. Aber er bereute nicht, er freute sich dessen, was er getan hatte, und wußte, er werde es nicht lassen. Die stillen Tage klösterlicher Zurückgezogenheit verstärkten nur den jungenhaft fröhlichen Trotz, den er dem Kummer Don Rodrigues entgegengestellt hatte. Es war nicht Höllenfeuer, wenn er jetzt vor Sehnsucht nach Raquel brannte, es war Gnade Gottes. Und er wird ihre Seele retten, dessen war er sicher.

So gestimmt, kehrte er nach Toledo zurück. In einer wunderlich büßerischen Regung indes, als ob er dadurch nachholen könnte, was er im Kloster versäumt hatte, legte er sich auf, noch diesen Tag in Toledo zu bleiben und erst am Abend des nächsten in die Galiana zurückzukehren.

Er warf sich in die Geschäfte, froh, daß sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderten.

Don Pedro von Aragon hatte eine ansehnliche Truppenmacht gesammelt, um in allernächster Zeit ins moslemische Gebiet, ins Valencianische, vorzustoßen. Es war der Erzbischof, der Don Alfonso das mitteilte. Don Martín hatte mit Genugtuung erfahren, daß es dem Domherrn geglückt war, den König zu stiller, klösterlicher Zwiesprache mit Gott zu bewegen, und Don Alfonso hatte jetzt wohl ein gutes Ohr für geistliche Mahnung. In kräftigen Worten also stellte der Erzbischof ihm vor, welch brennende Schande vor der ganzen Christenheit es wäre, wenn, während Aragon in den Heiligen Krieg eingreife, der größte König der Halbinsel untätig bliebe.

Dann, unvermittelt und zum Erstaunen Don Alfonsos, stimmte er ein Loblied an auf den Joglar Juán Velázquez. Gewöhnlich hatte die Kirche nur Worte des Tadels für die zweideutige Kunst dieser volkstümlichen Sänger. Juán Velázquez aber hatte das Herz des Erzbischofs gewonnen dergestalt, daß er ihn in seinem Palacio hatte singen und spielen lassen. Er meinte, auch Don Alfonso werde seine Freude daran haben, wie Juán Velázquez in seinem kräftigen Kastilisch von den Taten des Roland und des Cid singe, ganz zu schweigen von den akrobatischen Kunststücken des Spielmannes.

Don Alfonso ließ den Joglar kommen. Ja, Don Martín hatte recht gehabt: die einfachen, starken Romanzen rührten ihm ans Herz.

Er durfte das Schwert nicht länger rosten lassen. Er sprach seinem alten, aufrichtigen Don Manrique davon, daß er nun endlich losschlagen wolle.

Der erwiderte, seine Ungeduld sei nicht geringer als die des Herrn Königs. Aber angesichts der Kosten, die er sich von dem Herrn Escrivano habe zusammenstellen lassen, sei ihm die Hoffnung auf den Feldzug vergangen. Don Jehuda habe arabische Ziffern verwandt, und er, Manrique, gewöhnt an die römischen, könne nun einmal die arabischen, die ja auch die Kirche verpöne, nur schwer lesen. Leider aber seien die Summen, mit denen man hantieren müsse, so hoch, daß man ohne arabische Ziffern nicht auskomme. »Du solltest es selber mit deinem Escrivano durchsprechen, Herr König«, rief Don Manrique, »was ein Krieg gegen den Kalifen kostet.«

Alfonso hatte sich die ganze Zeit hindurch gescheut, mit dem Vater Raquels zusammenzukommen, und dennoch ein leises, kitzelndes Verlangen danach verspürt. Nun Don Manrique Jehuda nannte, entschloß er sich, ihn zu rufen.

Zur gleichen Zeit, da er den Herold ins Castillo Ibn Esra schickte, sandte er Botschaft auch in die Galiana an Doña Raquel, eine sehr kurze Botschaft, arabisch, lateinisch und kastilisch: »Auf morgen, auf morgen, auf morgen.«

Jehuda, als er den Ruf des Königs erhielt, atmete tief. Was immer die Zusammenkunft bringen mochte, es war besser als das Warten.

Sie standen sich gegenüber, und ein jeder entdeckte Neues in dem Gesicht des andern. Jehuda suchte und fand im Gesicht des Barbaren Züge, welche seine Raquel anziehen mochten, und der König sah befangen im Antlitz des Juden Züge, die denen seiner Liebsten glichen.

»Mir scheint, mein Escrivano«, begann mit etwas erkrampfter Munterkeit Don Alfonso, »wir sitzen fein in der Wolle dank deiner Umsicht, und es ist keine Ziegenwolle. Ich will also endlich meinen Krieg unternehmen. Du hast geschätzt, zweihunderttausend Maravedí seien nötig. Kann ich sie haben?«

Jehuda war darauf gefaßt gewesen, daß er allerlei törichtes Geschwätz werde anhören und widerlegen müssen, ehe er von seiner großen Sache reden durfte. Er antwortete also ruhig: »Du kannst sie haben, Herr König. Aber damals ging es um einen Feldzug nicht gegen den Kalifen, sondern gegen Aragon.« Vielleicht, ohne daß er sich’s zugestand, war dem König der Einwand seines Ministers willkommen. Doch er beharrte: »Wenn Aragon den Feldzug wagt, soll ich’s nicht können?« Jehuda hielt ihm entgegen: »Dein erlauchter Vetter von Aragon hat keinen Waffenstillstand mit dem Emir von Valencia.« Alfonso erwiderte finster: »Ein Mann, der so viel dazu beigetragen hat, mir diesen unseligen Stillstand aufzubürden, täte besser, mich nicht daran zu erinnern.« Jehudas Gesicht blieb ausdruckslos. »Die Tatsachen«, sagte er, »bleiben, ob wir sie aussprechen oder nicht. Im übrigen halte ich es nicht für wahrscheinlich, daß Don Pedro losschlägt. Mein Vetter Don Joseph Ibn Esra ist mutig genug, seinem König auch unliebe Dinge zu sagen. Er wird ihn daran erinnern, daß der Kalif im Begriff ist, aus dem Osten in seine Hauptstadt zurückzukehren, und daß er wahrscheinlich ins Andalús übersetzen wird, wenn Aragon losschlägt. Aragon kann, solange es allein ist, einen Feldzug nicht unternehmen. Und ebensowenig kann es Kastilien.«

Don Alfonso saß da, die Lippen verpreßt, die Stirn tief verfurcht. Es war immer der gleiche Einwand, gegen den er anrannte. Der Krieg war nicht möglich, solange nicht der Fant von Aragon versöhnt war.

»Ich weiß, Herr König«, sagte mit dringlicher Stimme Jehuda, »daß dein Herz an dem Feldzug hängt. Möge mir deine Majestät doch glauben, daß mein Vetter Don Joseph und ich unablässig darüber nachsinnen, wie ein wahrer Friede zwischen unsern erlauchten Fürsten herbeigeführt werden könnte.«

Des Königs Unmut vertiefte sich. Versöhnung mit Aragon zustande bringen konnte kein Ibn Esra. Das wußte der Jude so genau wie er selber. Verhöhnte er ihn?

Jehuda nahm den Unmut des Königs wahr. Es war keine gute Stunde, ihn um die Zulassung der Flüchtlinge zu bitten. Aber er hatte sein Gelübde, vor ihm stand hoch und finster der Große Bann, die Frist war kurz. Und wer mochte wissen, wann er den König ein zweites Mal zu sehen bekam? Er mußte sprechen.

Er sprach.

Alfonso hörte grimmig zu. Jetzt zeigte der Fuchs sein Gesicht. »Hast du mir nicht gerade versichert«, sagte er, »du wolltest mir helfen, meinen Heiligen Krieg endlich zu beginnen? Und da verlangst du, daß ich deine Juden ins Land lasse? Ich sag es dir in dein schlaues Gesicht: du willst meinen Krieg hintertreiben. Du tust alles, ihn zu hintertreiben. Du willst es hintertreiben, daß ich mich mit dem Fant von Aragon einige. Du hetzest mich gegen Aragon, und dein Herr Vetter hetzt Aragon gegen mich. Ihr schleicht und lügt und schwindelt, echte Bänker und Händler und Juden, die ihr seid.« Der König schmetterte nicht, er sprach leise, das machte seine Rede noch gefährlicher.

Ich hätte doch nicht sprechen sollen, dachte Jehuda. Aber ich mußte sprechen. Ich hab meinen Eid im Himmel, ich kann nicht zurück. Er sagte verwegen: »Du kränkst mich zu Unrecht, Herr König, und auch meinen Vetter. Wir tun unser Bestes. Aber freilich vermögen wir nicht viel.« Und noch kühner fuhr er fort: »Ich weiß jemand, der mehr erreichen kann: deine Frau Königin. Sie ist klüger als wir alle. Geh zu ihr. Bitte sie, daß sie es unternehme, den erlauchten Don Pedro zu versöhnen.«

Der König ging auf und ab. »Du bist sehr frech, Herr Escrivano«, warf er ihm hin, die unterdrückte Stimme verbarg kaum die Wut.

Jehuda indes, tollkühn, er hatte nichts mehr zu verlieren, sprach weiter: »Aber selbst deine Frau Königin, und wenn sie die Versöhnung zustande bringt, wird Monate brauchen. Verzeih meinem platten Kaufmannsverstand, wenn er nicht einsieht, warum wir nicht diese Monate nützen sollen, jene Flüchtlinge ins Land zu ziehen. Sie haben Hände und Köpfe, die wir gut gebrauchen können. Deine Länder, Herr König, sind noch immer entblößt durch die vielen Kriege. Du solltest dir diese sehr nützlichen Ansiedler sichern. Ich bitte dich sehr, Herr König, wische nicht meine guten Gründe mit schneller Hand fort. Wäge sie. Bedenke sie.«

Don Alfonso spürte Lust, das widerwärtige Gespräch zu beenden. Vielleicht hatte der Jude recht, wahrscheinlich hatte er recht, und schon wollte der König nachgeben. Aber dann überlegte er: was den Juden so frech machte, war nicht das gute Gewicht seiner Argumente, es war ein sehr anderes. »Deine Gründe mögen gut sein«, sagte er gereizt, »aber es gibt auch gute Gegengründe, und du kennst sie.« Jehuda schickte sich an, zu erwidern. Allein Alfonso, ungestüm, kam ihm zuvor. »Ich will nicht länger davon hören«, schmetterte er.

Da aber sah er das blasse, verstörte Gesicht des Juden, er dachte an die Tochter des Mannes mit diesem Gesicht, und: »Laß es gut sein«, fügte er schnell hinzu, »ich werde alles bedenken, nicht nur die Gegengründe, auch deine Gründe.« Und mit der früheren, erzwungenen Lustigkeit schloß er: »Und ich werde auch die Wolle nicht vergessen, in die du mich gesetzt hast.«

Sie trennten sich, der König voll Gnade, der Jude voll gespielter Demut und gespielter Zuversicht, beide voll Mißtrauen.

Drittes Kapitel

Raquel hatte sich all die Zeit her zergrübelt, was es bedeutete, daß Alfonso sie eine ganze Woche lang und länger allein ließ. Nebelhafte Ängste suchten sie heim. Ihr ahnte, daß sein Gott einzugreifen drohte.

Dann kam der Brief, in welchem er ihr in den drei Sprachen seines Landes zujubelte: Morgen, morgen, morgen. Und dann war er da.

Sowie sie einander sahen, tauchten ihnen die Tage der Trennung hinunter. Sie hatten geatmet diese endlose Woche hindurch, nicht gelebt. Jetzt lebten sie. Es gab für sie kein Leben außerhalb der Galiana. Sie hatten sich eine Sondersprache ausgedacht, gemischt aus Latein und Arabisch und voll von kleinen, geheimen Regeln, und sie brauchten keine andere Sprache als diese; aber vielleicht noch besser verstanden sie sich, wenn sie schwiegen.

Trotzdem hatte sich ihnen vieles verändert. Sie waren wissender einer um den andern. Alfonso gewahrte manchmal in Raquels Mienen und Worten jenes verfängliche Etwas, welches sie mit ihrem von Gott verdammten Volke verband, und voll frommer, leise hämischer Freude dachte er an seinen Entschluß, diese Züge ihres Wesens auszumerzen. Sie ihresteils verbarg nicht das Mißfallen, welches ihr seine Liebe zu den großen Hunden einflößte. Einmal geschah es, daß sie mit Widerwillen vor den Tieren zurückwich, die sie gutmütig täppisch ansprangen. Da erzählte er ihr fröhlich und böse: »Wir hispanischen Fürsten lieben unsere Tiere. Meine Väter, die alten Gotenkönige, waren sicher, in ihrem Paradies auch ihre Hunde wiederzufinden. Es wäre sonst kein Paradies gewesen. Sie glaubten offenbar an die Weisheit deines vielgeliebten Musa, daß die Seele des Viehes an den gleichen Ort fährt wie die des Menschen.« Er sah, wie sein Scherz ihr mißfiel, und bereute stürmisch: »Verzeih, Liebste. Du magst meine Hunde nicht, sie machen dir Angst, ich schicke sie weg.« Und da sie abwehrte, steigerte sich sein Eifer, sie zu versöhnen. »Auch meinen Belardo magst du nicht, gib es zu. Auch ihn schicke ich fort.« Er ließ sich nur schwer von seinem Vorhaben abbringen.

Manchmal fiel ihm aufs Herz, er müsse nun darangehen, sie zum wahren Glauben zu bekehren. Aber in ihrer atmenden Nähe erkannte er, daß dieses Unternehmen heikler war, als er sich’s vorgestellt hatte. Sie hatte ja noch nicht einmal begriffen, was ein Ritter war, was er selber war. Das zuerst, die Glorie des Rittertums, mußte er sie spüren machen.

Er bestellte jenen Joglar Juán Velázquez in die Galiana.

Raquel, da sie die einfältig grobe Guitarre des Christen hörte, dachte an die delikaten Harfen, Lauten und Flöten der Araber, an ihre Mismár, Schahrúd und Barbút. Aber ihr schnelles, feines Ohr und ihr offener Sinn machten sie empfänglich für das, was in des Joglars einfachem Dichten und Singen lebendig war. Sie verstand nicht immer die genaue Meinung seines niedrigen Lateins, doch ließ sie sich packen von der heldisch ritterlichen Freude seines Liedes.

Es sang aber Juán Velázquez von den Taten und von dem Sterben des Markgrafen Roland von der Bretagne: wie er im Tale von Ronceval mit einer hoffnungslos kleinen Schar einem Meer von Heiden gegenübersteht, und wie sein Freund Olivier ihm rät, sein mächtiges Horn Olifant zu blasen und das Heer König Karls, des großen Kaisers, zurückzurufen. Wie Roland sich weigert, wie seine Ritter Taten unglaubhafter Tapferkeit verrichten, und wie sie einer nach dem andern erschlagen werden. Und wie Roland, selber verwundet, übers Schlachtfeld geht, seine toten Paladine zu sammeln, um sie dem Erzbischof Turpin zuzutragen zur letzten Einsegnung. Und wie Roland zuletzt, zu spät, in sein wunderbares Horn stößt und Berge und Täler weit erklingen. Und wie er ein zweites Mal verwundet wird, dieses Mal schwer, und wie er, aus langer Ohnmacht aufwachend, sich auf dem weiten Leichenfeld als einzigen noch Lebenden findet. Er merkt, wie ihn der Tod ankommt, vom Haupt steigt er ihm hinunter ins Herz. Da schleppt er sich mit eilender Mühe unter einen Fichtenbaum, legt sich nieder in das grüne Kraut, das Haupt nach Süden gerichtet, nach Spanien, dem Feinde zu, und hebt den rechten Handschuh empor zu Gott. Und der Engel Sankt Gabriel nimmt ihm den Handschuh aus der Hand.

Hingerissen hörte, kindlich staunend, Raquel zu. Dann freilich dachte sie nach und meinte, eines sei ihr unverständlich: warum nämlich der Held Roland nicht rechtzeitig ins Horn stoße; dann hätten doch er und seine Ritter den Feind heil und lebendig besiegt. Den König verdroß der kahle Einwand. Aber da bat Raquel den Sänger, ihr die Verse vom Tode Rolands zu wiederholen, ihre Augen strahlten Ergriffenheit, Begeisterung, und Alfonso war sicher, ihre Seele hatte sich der Größe des Rittertums aufgetan.

Daß es so war, zeigte sich, als sie ihm das Geschenk anschleppte, von dem sie ihm schon andeutend gesprochen hatte: eine arabische Rüstung.

Sie war aus herrlichem, bläulichschwarzem Stahl und mit ihren vielen beweglichen Teilen leicht und elegant, ein wunderbares Gebilde. Alfonsos helle Augen strahlten. Sie half ihm die Rüstung anlegen. Das war ein männliches Geschäft, und es gefiel ihm nicht, daß sie ihm half. Aber er brachte es nicht über sich, sie zurückzuweisen.

So rüstete sie ihn denn, unter Scherzreden, doch begeistert. Er stand da, schwarzbläulich und heldisch, beweglich schmiegten sich die Maschen des Eisenhemdes um die kräftige, atmende Brust, hell schauten die Augen aus den Schlitzen des Visiers. Sie klatschte in die Hände und rief kindisch entzückt: »O mein Liebster, du bist ein Wunder der großen Wunder Gottes!« Und sie ging auf und ab, ging um ihn herum, tänzerisch, im Singsang sprach sie arabische Verse: »O ihr Helden! Ihr tragt das blanke Schwert, ihr schwingt den schlanken Speer. Auf die Feinde einreitet ihr, stürmisch, gewaltig. Welche Freude ist es, euch durchs Lied zu begeistern!«

Lächelnd, tief erfreut hörte er ihr zu. Niemals noch hatte sie ihm kriegerische Verse gesungen. Jetzt war es an dem. Jetzt spürte sie, was ein Krieger war. Jetzt konnte er ihr von dem Großen, von dem Heiligen reden, das sie ihm für immer verbinden wird.

Er fragte sie geradezu, ob sie nicht zusammen mit ihm die Messe hören wolle.

Sie schaute auf. Sie verstand nicht. Vielleicht war das einer seiner wunderlichen Späße. Sie lächelte unsicher. Ihr Lächeln erbitterte ihn. Aber er nahm sich zusammen und sagte kindlich ernst: »Siehst du, liebste Frau, wenn du die Taufe nimmst, dann erlösest du nicht nur deine Seele, du befreist auch mich von schwerer Sünde, und wir können sündenlos und reuelos vereinigt bleiben für immer.« Er sagte das aber so gläubig unschuldigen Gesichtes, daß es sie anrührte.

Dann aber kam ihr die ganze finstere Meinung seiner Worte ins Bewußtsein, und sie war heiß gekränkt. Er war nicht zufrieden mit dem, was sie ihm gab, er wollte ihr kriegerisch dumm und unersättlich ihr unsterbliches Erbteil nehmen. Genügte es ihm nicht, daß sie schon dadurch den Zorn Gottes erregte, daß sie mit dem Ungläubigen sprach und aß und badete und schlief? Ihr lebendiges Gesicht zeigte ihren Kummer und ihre Kränkung.

Alfonso versuchte ungeschickt, ihr zuzureden. Ihr Widerstand war still, einsilbig und entschieden.

Aber sie wußte, er war ein zäher Kämpfer, er wird nicht ablassen, und wiewohl ihres Glaubens sicher, suchte sie Stärkung bei den Ihren, bei dem Vater und bei Musa.

Sie teilte dem Vater mit, Alfonso dringe darauf, daß sie die Taufe nehme. Don Jehuda erblaßte tief. Sie sagte still: »Ich bitte dich, mein Vater, kränke mich nicht durch Angst. Du hast mich gelehrt, daß ich eine Ibn Esra bin und Anteil habe an dem Großen Buch. Ich habe es begriffen.«

Mit Musa sprach sie ohne Rückhalt. Ihm sagte sie, daß sie Furcht habe vor dem zähen Kampf, der bevorstand.

Musa hielt ihre Hand und erzählte ihr von den jüdischen Frauen des Propheten Mohammed. Zuerst hatte der Prophet die Juden in Güte für seine Offenbarung gewinnen wollen. Da sie sich sträubten, bekämpfte er sie mit dem Schwert und tötete ihrer viele. Auf einem seiner Feldzüge kam in sein Lager ein jüdisches Mädchen namens Zainab, deren Vater und deren Brüder von den moslemischen Kriegern erschlagen worden waren. Zainab erklärte, sie habe erkannt, daß kein Gott sei außer Allah, sie schmeichelte dem Propheten mit Worten und mit Gesten, sie zeigte sich verliebt in ihn, und er hatte Wohlgefallen an ihr, er schlief mit ihr, brachte sie in seinen Harem und bevorzugte sie vor den andern Weibern. Und Zainab fragte ihn, was er am liebsten esse, und er antwortete: »Von der Schulter des jungen Lammes.« Da briet sie ein Lamm für ihn und seine Freunde, und sie aßen; die Schulter des Lammes aber hatte sie mit einem Saft starken Giftes berieben. Einer der Freunde aß davon und starb. Der Prophet selber spie schon den ersten Bissen aus; doch erkrankte auch er. Die Jüdin Zainab sagte, sie habe dem Propheten Gelegenheit geben wollen, zu beweisen, daß er der Liebling Allahs sei. Einem solchen könne kein Gift etwas anhaben; wär er’s aber nicht, dann hätte er verdient zu sterben. Einige sagen, der Prophet habe ihr verziehen, andere, sie sei hingerichtet worden.

Die Stadt Kaibar, die fast ausschließlich von Juden bewohnt war, widerstand Mohammed mit besonderer Hartnäckigkeit. Die meisten Männer von Kaibar kamen im Kampfe um; die übrigen, ihrer sechshundert, ließ der Prophet nach der Einnahme der Stadt enthaupten. Unter den erbeuteten Frauen war eine gewisse Safia; ihr Mann war gefallen, ihr Vater hingerichtet worden. Safia war noch nicht siebzehn Jahre alt und so schön, daß Mohammed sie in seinen Harem aufnahm, wiewohl bereits ein Mann sie erkannt hatte. Er liebte sie sehr, er beugte das Knie, damit sie leichter das Kamel besteigen könne, er überhäufte sie mit Schätzen, er wurde ihrer nicht satt bis zu seinem Tode; sie überlebte ihn aber um fünfundvierzig Jahre.

So erzählte Musa. »Sind also diese Frauen von Adonai abgefallen?« fragte Raquel. »Wenn die Lehre Mohammeds das Mädchen Zainab begeistert hätte«, antwortete Musa, »dürfte sie kaum versucht haben, ihn zu vergiften. Und was Safia anlangt, so hinterließ sie ihren Reichtum Verwandten, die Juden geblieben waren.«

Später fragte Raquel: »Du sprichst oft ohne Ehrfurcht von dem Propheten. Warum bleibst du im Islam, Onkel Musa?« – »Ich bin ein Gläubiger der drei Religionen«, antwortete Musa. »Eine jede hat ihr Gutes, und eine jede lehrt Dinge, welche zu glauben die Vernunft sich sträubt.« Er war an sein Schreibpult getreten, er kritzelte Kreise und Arabesken, und er sagte über die Schulter: »Solange ich überzeugt bin, daß der Glaube meines Volkes nicht schlechter ist als der eines andern, ekelte es mir vor mir selber, wenn ich die Gemeinschaft verließe, in die ich hineingeboren bin.« Er sprach ruhig mit gleichmäßiger Stimme, und seine Worte senkten sich tief in Raquel ein.

Als Musa allein war, wollte er an seiner »Geschichte der Moslems« arbeiten. Aber er bedachte, was er Raquel gesagt hatte, er wunderte sich über die starken Worte, die er gebraucht hatte, er konnte seine Gedanken nicht auf sein Werk richten.

Statt dessen schrieb er Verse: »So voll ist die Zeit von Waffen und Rittern und Eisen und Getöse, daß selbst die Worte des Weisen klirren, statt still zu sein wie das Rauschen des abendlichen Windes in den Wipfeln der Bäume.«

Don Rodrigue sprach nicht gern von der Gnade, die ihm zuteil geworden war, von seinen Verzückungen, den Früchten seiner Askese. Lieber gab er sich als Forscher, als Gelehrter. Er war aufrichtig. Denn in all seiner Frommheit war er besessen von der Lust an scharfem, zweiflerischem Denken. Ihn ergötzten die wunderbaren Spiele des Verstandes, und es schuf ihm hohes Vergnügen, in der Diskussion mit sich selber und mit anderen das Für und Wider einer These abzuwägen. Unter den Gottesgelehrten seines Jahrhunderts liebte er am meisten den Abaelard. Dessen Lehre, daß von der Philosophie der großen Heiden ein kürzerer Weg zum Evangelium führe als vom Alten Testament, ließ ihn nicht los, und immer von neuem vertiefte er sich in des Abaelard kühnes Werk: Sic et Non, Ja und Nein, worin aus der Heiligen Schrift Sätze, die sich widersprechen, einander gegenübergestellt waren; dem Leser aber blieb es überlassen, mit den Widersprüchen fertig zu werden.

Don Rodrigue wußte, er durfte sich bis an die fernsten Grenzen dieses gefährlichen Gebietes wagen. Gab es doch in seiner Seele jenen Raum, wohin kein Zweifel des vorwitzigen Verstandes drang; dort fand er Schutz vor allen Anfechtungen.

Diese stille, unzerstörbare Sicherheit im Glauben erlaubte ihm auch, nach wie vor ins Castillo Ibn Esra zu gehen und mit dem Ketzer Musa freundschaftliches Streitgespräch zu pflegen.

Musa seinesteils wußte, mit dem Domherrn konnte er Verfängliches ohne Rückhalt bereden, und er trug keine Scheu, sich vor ihm auch über Geschehnisse auszulassen wie etwa den Liebeshandel des Königs. »Unser Freund Jehuda«, meinte er, »hatte gehofft, Raquels Zucht und sanfte Sitte werde das ungestüme Soldatentum Don Alfonsos bändigen. Statt dessen ist sie sichtlich bezaubert von seinem kriegerhaften Wesen. Ich fürchte, eher wird das Leben in der Galiana unsere Raquel zum Geist des Rittertums bekehren als den König zur Botschaft des Friedens.«

»Du kannst schwerlich verlangen«, antwortete Rodrigue, »daß Don Alfonso in währendem Kreuzzug für Friedensgesänge ein offenes Ohr hat.« Musa hockte behaglich, etwas vornübergeneigt, in einer Ecke und meditierte: »Eure Kreuzzüge! Es will mir nicht in den Kopf, daß ihr euern Heiland Fürsten des Friedens nennt und fromm und gläubig in seinem Namen zum Kriege aufruft.« – »Habt nicht ihr den Heiligen Krieg in die Welt gebracht, mein lieber und verehrter Musa?« erkundigte sich milde der Domherr. »War es nicht Mohammed, der die Lehre von Dschihád verkündigte? Unser Bellum Sacrum ist nur Verteidigung gegen euern Dschihád.« – »Aber der Prophet«, meinte nachdenklich Musa, »schreibt den Heiligen Krieg nur demjenigen vor, der des Sieges sicher ist.«

Er nahm wahr, daß dieser Einwand seinen Gast verstimmte, und lenkte höflich auf anderes über. »Das Schicksal macht seltsame Umwege«, führte er aus, »um unserer Halbinsel den Krieg zu ersparen. Wir haben wohl alle gefürchtet, die jähe Leidenschaft des Königs Unseres Herrn werde zum Unheil ausschlagen. Statt dessen bringt sie Segen. Denn solange unsere Raquel den König festhält, wird er wohl kaum gegen den Kalifen marschieren. Wie willkürlich ist doch, wie kindisch verspielt jene Macht, die ich mit Kadar bezeichne, und die du, mein hochwürdiger Freund, Vorsehung nennst.«

Der Domherr, so herausgefordert, wies den lästernden Greis zurecht: »Wenn du die Gottheit blind schiltst und sinnlos unberechenbar, dann erkläre mir, bitte, wozu strebst du nach Weisheit? Was nützt dann alle Weisheit?« – »Viel Nutzen«, gab bereitwillig Musa zu, »bringt es wohl nicht, die Zweideutigkeit der Geschehnisse und ihren innern Widerspruch zu erkennen. Aber mir wärmt nun einmal Erkenntnis das Herz. Und gesteh es, mein hochwürdiger Freund, sie ergötzt auch dich.«

Nach solchen Gesprächen machte sich Don Rodrigue wohl Vorwürfe über die Freude, die er an dem Umgang mit dem Gottlosen hatte, und er nahm sich vor, seine Besuche im Castillo Ibn Esra einzustellen oder doch einzuschränken.

Da aber gab ihm der Himmel selber einen Fingerzeig. Der König nämlich, der erkannt hatte, es werde ihm allein nie gelingen, die Kruste des Unglaubens um Raquels Herz zu brechen, bat ihn um seinen Beistand, er konnte das fromme Verlangen nicht wohl abschlagen und sah sich gezwungen, die Besuche im Castillo fortzusetzen.

Da waren sie denn wieder zusammen in der Rundhalle wie früher, Musa, Raquel, der Domherr und auch der junge Don Benjamín; Rodrigue brachte ihn mit, damit seine Absicht, Raquel zu bekehren, nicht allzu deutlich werde.

Es fiel dem jungen Don Benjamín nicht leicht, seine Unbefangenheit vor Raquel zu wahren. Er hatte in diesen Wochen unablässig nachgedacht über das Schicksal, das ihr auferlegt war, dieses schwere und gefährliche Glück. Erst seitdem sie in die Galiana entrückt war, hatte er erkannt, was sie ihm bedeutete, und Begierde, gemengt mit bitterer Resignation, färbte jetzt und vertiefte wunderlich seine Freundschaft.

Er hatte erwartet, eine sehr veränderte Raquel zu finden. Aber da saß sie und war die frühere. Er war enttäuscht und beglückt und konnte, der sonst so methodische junge Gelehrte, seine Gedanken nicht ordnen. Verstohlen, immer von neuem, prüfte er ihr Gesicht, hörte nur halb hin auf das, was die andern sprachen, und schwieg.

Don Rodrigue seinesteils wartete auf die Gelegenheit, sein Bekehrungswerk zu beginnen. Er war kein Eiferer, jegliche Plumpheit war ihm verhaßt, er wartete auf das rechte Wort, an das er anknüpfen könnte. Seine Minute kam, als Musa sich wieder einmal über sein Lieblingsthema ausließ, daß nämlich allen Völkern ihre Blüte und ihr Altern vom Schicksal vorgeschrieben sei.

Das stimme wohl, meinte der Domherr, aber wie wenige Nationen wollten einsehen, wann ihre Zeit abgelaufen sei. »Da haben wir das Volk der Juden«, dozierte er. »Daß sie sich nach dem Erscheinen des Heilands noch ein Jahrhundert lang oder zwei Jahrhunderte vorgemacht haben, die Heilsverkündigungen ihres Großen Buches seien weiter in Geltung und ihr Reich werde wieder erstehen, das ist schließlich zu begreifen. Nun aber leben sie doch schon über ein Jahrtausend im Elend, und noch immer nicht wollen sie einsehen, daß die Segnungen des Jesaja erfüllt sind eben durch die Ankunft des Heilands. Sie wollen die Zeit überlisten und beharren gegen allen Augenschein in ihrem Irrtum.«

Er schaute weder Raquel an noch Benjamín, er predigte nicht, er unterhielt sich mit Musa, ein Philosoph mit einem andern. Aber Benjamín merkte gut, wohin er zielte, wie er unschuldig fromm und grausam Raquel ihr Judentum verleiden wollte, und Benjamín riß sich los aus seinem Geträume und wurde beredt. »Aber keineswegs wollen wir die Zeit überlisten, hochwürdiger Vater«, verteidigte er seinen und Raquels Glauben, »vielmehr wissen wir: die Zeit ist nicht gegen, sie ist mit uns. Wir deuten die Siegesverheißungen unseres Buches nicht plump wörtlich. Es sind nicht Siege des Schwertes, welche die Propheten uns versprochen haben, und nicht solche Siege sehnen wir herbei. Wir halten nicht viel von Rittern und Kriegsknechten und Belagerungsmaschinen. Deren Erfolge haben keinen Bestand. Unser Erbteil ist das Große Buch. Wir haben uns durch zweitausend Jahre mit ihm befaßt, es hat uns zusammengehalten im Elend und in der Zerstreuung ebenso wie in unserm Glanz, wir allein verstehen es richtig zu deuten. Was es uns verheißt, sind Siege des Geistes, und diese Siege raubt uns kein Kreuzzug und kein Dschihád.«

»Ja«, sagte spöttisch und betrübt Don Rodrigue, »eritis sicut dii, scientes bonum et malum; noch immer glaubt ihr das Wort der Paradiesesschlange. Und weil ihr, ich geb es zu, vor andern mit Verstande gesegnet seid, haltet ihr euch für allwissend. Aber gerade dieser Dünkel macht euch blind und hindert euch, das Handgreifliche zu begreifen. Der Messias ist längst gekommen, die Zeit ist erfüllt, die Segnungen sind da. Alle sehen es, nur ihr wollt es nicht sehen.«

»Ist sie da, die Zeit des Messias?« antwortete bitter Don Benjamín. »Ich sehe nichts davon. Ich sehe nicht, daß ihr eure Schwerter zu Pflügen umschmiedet und eure Speere zu Winzermessern. Ich sehe nicht, daß Alfonso mit dem Kalifen weidet. Unser Messias wird der Welt in Wahrheit den Frieden bringen. Was wißt denn ihr vom Frieden! Frieden, Schalom: ihr versteht ja nicht einmal das Wort! Ihr könnt ja nicht einmal das Wort übersetzen in eure armen Sprachen!«

»Du trittst sehr kriegerisch für den Frieden ein, mein lieber Don Benjamín«, versuchte Musa ihn zu beruhigen.

Benjamín aber hörte nicht auf ihn. Befeuert von der Nähe Doña Raquels, brach er los: »Was ist denn eure armselige Pax, eure Treuga Dei, eure armselige Eirene! Schalom, das ist die Vollendung, das ist die Glückseligkeit, und alles, was nicht Schalom ist, ist böse. Unserm König David war es nicht vergönnt, den Tempel zu bauen, weil er nichts war als ein Eroberer und großer König. Erst Salomo, der Friedenskönig, durfte ihn bauen, weil unter ihm ein jeder in Sicherheit wohnte unter seinem Weinstock und Feigenbaum. Der Altar, über dem eine Waffe geschwungen wird, ist entweiht, er ist Gottes nicht würdig, das ist unsere Lehre. Ihr aber ehrt euern Messias, indem ihr seine Stadt, Jerusalem, die Stadt des Friedens, berennt und zerstört. Wir sind arm und bloß, aber die Narren seid ihr mit all euerm Glanz und Waffenschmuck. Uns ist das Land verheißen, uns gehört es. Und weil es so geschrieben steht, führt ihr Krieg darum, ihr und die Moslems. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so herzzerreißend wäre.«

Die Heftigkeit des jungen Menschen machte den Domherrn nur milder. »Du sprichst von Glückseligkeit, mein Sohn«, sagte er, »und du nennst sie Schalom, und du sagst, sie sei euer Erbteil. Aber auch wir kennen Glückseligkeit. Wir nennen sie anders, doch ist es nicht gleichgültig, welchen Namen wir ihr geben? Ihr heißt sie Schalom, wir heißen sie Glauben, wir heißen sie Gnade.« Und nun mußte der Schamhafte heraussagen, was er sonst still im Busen hielt, er mußte bekennen. »Die Gnade, mein Sohn«, sagte er, »ist nicht eine Verheißung ferner Zukunft, sie ist in der Welt. Ich bin nicht so beredt wie du, ich kann die Gnade nicht erklären. Sie kann nicht durch Anstrengung der Vernunft erlangt oder auch nur gesichtet werden. Sie ist das höchste Geschenk Gottes. Wir können nichts tun als darum beten.« Und stark und aus dem Herzen heraus schloß er: »Ich weiß, daß es die Gnade gibt. Ich bin selig im Glauben. Und ich bete zu Gott, daß er die Gnade auch andern verleihe.«

Von solchen Gesprächen, welcher Glaube der beste sei, war das ganze Abendland voll. Um diese Streitfrage, um den Vorrang des Christentums, wurde der Krieg geführt. Und Leidenschaft brannte durch die Disputationen.

Auch in der stillen Rundhalle des Musa debattierten der Domherr und Don Benjamín noch mehrere Male um den Glauben. Doch zähmte jetzt Benjamín seine Heftigkeit; er wollte seinen verehrten Lehrer Rodrigue nicht nochmals durch wüsten Angriff kränken. Doña Raquel aber bedurfte sichtlich keiner Stärkung im Glauben; Benjamín hatte bei jenem ersten Ausbruch freudig wahrgenommen, mit welcher Teilnahme sie ihm zuhörte. In diesen späteren Diskussionen begnügte er sich also, auf die innere Vernünftigkeit des Judentums hinzuweisen, dessen Gott von seinen Gläubigen kein Opfer des Verstandes verlange. Mit wissenschaftlicher Gelassenheit zitierte er Sätze aus des Dichters Jehuda Halevi schönem Buche »Zur Verteidigung des Gedemütigten Glaubens«, oder er berief sich auf Beweisgründe aus den Werken des großen Mose Ben Maimon, der jetzt in Kairo blühte. Der Domherr aber stellte ihm ebenso gelassen Argumente aus dem Augustin entgegen oder aus dem Abaelard. Raquel sprach selten und stellte selten Fragen. Doch hörte sie hingegeben zu und prägte sich Benjamíns Sätze gut ein. Sie und Benjamín kamen einander wieder sehr nahe.

Benjamín verhehlte sich nicht, daß er sie liebte. Aber er ließ davon nichts merken, er gab sich als Freund. Sie fühlten sich, Raquel und er, jung vor den älteren Männern, sie waren gute Kameraden.

Musa, als er einmal mit Rodrigue allein war, fragte ihn, warum eigentlich er Raquel in ihrem Glauben unsicher machen wolle; auch der von Rodrigue verehrte Abaelard lehre doch, man müsse dem fremden Glauben Duldsamkeit entgegenbringen, solange er den Geboten der natürlichen Vernunft und Sittlichkeit nicht zuwiderlaufe. »Bringe ich dir nicht genug Duldsamkeit entgegen, mein verehrter Musa?« fragte der Domherr. »Ich kann dir nicht sagen, welch tiefe Freude es mir wäre, wenn eine mens regalis wie die deine, ein so königlicher Geist, gekrönt würde durch die Gnade. Aber ich bin nicht so überheblich, anzunehmen, daß es mir vergönnt sein sollte, dich zu erleuchten. Es ist mir nicht gegeben, zu eifern, und es liegt mir nicht, den andern zu bestürmen; du weißt es. Wenn ich indes in das sanfte, bildsame, unschuldige Gesicht unserer Raquel blicke, dann spüre ich den Auftrag, um ihre Seele zu kämpfen. Da ich die gute Botschaft weiß, wäre ich ein Sünder, wenn ich sie verschwiege.«

Den König machte es ungeduldig, daß seine und Rodrigues Bemühungen um die Seele Raquels eitel blieben.

Er stand mit Raquel vor einem ihrer hebräischen Spruchbänder. Es war Wochen her, daß sie ihm die Sätze vorgelesen und übertragen hatte, aber sein gutes Gedächtnis hatte sie aufbewahrt, daß er sie ihr fast Wort um Wort wiederholen konnte: »Ich bereite deine Straße aus Edelsteinen und deine Häuser aus Kristall. Keiner Waffe, die wider dich gerichtet ist, soll es gelingen, und alle Zunge, so sich wider dich setzet, soll verdammt sein.« Spöttische Verwunderung war in seiner Stimme, die schmalen Lippen hatte er zu einem bösen Lächeln verzogen. »Ich begreife nicht recht«, sagte er, »warum du gerade diesen Spruch hierhergesetzt hast. Willst auch du dich künstlich blind machen? Wo sind sie, eure Straßen aus Edelsteinen? Jetzt seid ihr elend und ohnmächtig schon länger als tausend Jahre und lebt von unserm Mitleid. Wie lange noch wollt ihr eure traurige Nacktheit mit solchen bunten, leer gewordenen Verheißungen aufputzen? Es ist mir leid, daß auch du so verstockt bist.«

Es war das erstemal, daß er so plump auf sie einschalt. Ach, sie hätte auf das falsche und bösartige Gerede gut erwidern können; aber sie wollte keinen Streit. Sie sagte ruhig: »Euer großer Doktor Abaelardus lehrt, es stehe dem Christen an, Duldung zu üben gegen jede vernünftige Religion.« – »Die eure ist aber nicht vernünftig«, schmetterte feindselig der König, »das ist es doch eben.«

Es tat Raquel weh, daß dieser liebste Mensch das Beste, was sie hatte, beschimpfte. Sie hörte im Geist, wie Benjamín den jüdischen Glauben gerade mit Beweisen seiner Vernünftigkeit verteidigte. Aber wenn der kluge, beredte Benjamín den milden Rodrigue nicht hatte überzeugen können, wie sollte sie es vermögen, dem gewalttätigen Alfonso die rechte Deutung des Großen Buches klarzumachen? Und noch dazu in seinem traurigen Latein. Sie schaute ihm ins Gesicht, nachdenklich, mit den großen, blaugrauen Augen. Ja, wahrhaftig, er glaubte, was er da den andern nachredete. Da hatten diese Christen tausend mal tausend Ritter und Knechte hingeschickt in das Heilige Land und hatten es nicht gewinnen können. Und begriffen immer noch nicht, daß das Land ihnen eben nicht bestimmt war. Und da stand auch er, ihr Alfonso, und verhöhnte die Heilsversprechungen derjenigen, denen das Land gehörte. Und sie schaute ihn an, und plötzlich mußte sie lachen über die Blindheit der Menschen, und insbesondere ihres Alfonso.

Hatte schon ihr Schweigen und Schauen ihn aufgebracht, so erregte ihr Lachen seinen vollen Zorn. Unter der gefurchten Stirn leuchteten gefährlich hell seine Augen. »Lache nicht!« herrschte er sie an. »Schweig! Lästere nicht unsern Heiligen Krieg, du Ungläubige!«

Stumm verließ sie das Zimmer.

Zwei Stunden später suchte er sie überall, im Haus und im Garten, und auch sie suchte ihn. Als sie sich fanden, lächelte er verlegen wie ein Junge, auch sie lächelte, sie küßten sich.

Und aus dem Kuß heraus sagte sie: »›Wofern ihr einem grollet, ihr sollet nicht meiden seine Nähe. Aufsuchet ihn und grüßet ihn und sprechet aus euch sänftiglich und ohne scharfer Rede Dorn in jeglichem, was euch an ihm verdrießet. Das ist erneuter Liebe Born. Der Beßre sein wird der von euch, der als der Erste kommt und grüßt.‹ So heißt es im Koran. Wir sind beide gekommen. Keiner ist der Bessere.«

Jehuda hatte seit Monaten erlebt, wie sein Sohn in die Gemeinschaft der andern abglitt. Aber als sich Alazar wirklich taufen ließ, packte ihn Schreck wie über ein Unerwartetes.

Jetzt erst übersah er das volle Maß seiner Schuld. Er hatte Alazar nicht genug geliebt, er hatte ihn nicht so geliebt wie Raquel. Alazar hatte seine ganze Kindheit als Moslem unter Moslems verlebt, und er selber hatte ihn, noch ehe er recht verstand, was Judentum war, an den lockenden Hof des Christenkönigs geschickt. Jetzt war sein Sohn zum Verräter geworden, er hatte seine Auserwähltheit verkauft um das Linsengericht der Ritterschaft, er war verloren und hin, ausgetilgt für immer, ausgestrichen aus dem Buche derer, die auferstehen werden beim Jüngsten Gericht.

Jehuda trauerte um ihn als um einen Toten. Sieben Tage hockte er auf der Erde zerrissenen Kleides.

Don Ephraim Bar Abba kam, ihn zu trösten. Dem Párnas graute vor Don Jehuda und seinem maßlosen Schicksal. Keine schrecklichere Heimsuchung hätte ihn treffen können als der Abfall des einzigen Sohnes. Die Abtrünnigen waren von jeher zu den grausamsten Feinden der Juden geworden, und nun war dieser junge Sohn des Jehuda ein solcher Abtrünniger. Aber die Pflicht gebot, den Trauernden zu trösten. Don Ephraim hatte Widerwillen und Schauder überwunden, er war gekommen, er neigte sich hinunter zu Don Jehuda und sprach die Formel: »Gelobt seist du, Adonai Unser Gott, gerechter Richter«, und er sandte die zehn besten Männer der Aljama, daß sie die vorgeschriebenen Gebete sprachen.

Nicht nur die Trauer um den Sohn, es drückte Jehuda auch jenes vermessene Gelübde, daß er den fränkischen Flüchtlingen die Grenzen Kastiliens öffnen werde. Die Frist, die er sich bei Strafe des Großen Bannes gesetzt hatte, lief ab. Und er kam nicht mehr an den König heran. Der wird, nun er ihm die beiden Kinder gestohlen hat, das Mädchen erst und jetzt den Sohn, seine Gegenwart noch beflissener vermeiden.

Die Neujahrstage kamen, die dunkel feierlichen Tage des Rosch Haschana, bestimmt zur Gewissensprüfung.

Raquel verbrachte das Fest bei ihrem Vater. Er sprach nicht von dem Abfall Alazars; doch sah sie, wie tief er daran litt. Sie selber hatte die Erschütterung über die Taufe des Bruders nur verhärtet in dem heiligen Willen, ihren Anteil an Gott festzuhalten.

Jehuda bestellte einen Kundigen in sein Haus, daß der das Widderhorn blase, das Schofar, dessen mahnenden Schall an diesem Bußfeste zu hören jeder Jude verpflichtet ist. Denn dies ist der Tag, da Gott alles Geschaffenen gedenkt, da er Gericht hält und die Lose der Menschen bestimmt. Der gellende, schneidende Klang des Hornes erfüllte Raquel mit frommem Schauder, und in ihrer Märchengläubigkeit sah sie, wie die Namen der Gerechten von einer unsichtbaren Hand in das Buch des Lebens und Wohlergehens eingeschrieben wurden und die der Bösen gelöscht. Die Entscheidung aber über diejenigen, die nicht gut noch böse waren, über die weitaus meisten also, blieb aufgeschoben bis zum Versöhnungsfest, damit sie die zehn Tage noch nützten, Buße zu tun.

Am Nachmittag gingen Jehuda und Raquel, wie es der Brauch verlangte, an ein fließendes Wasser. Sie gingen vor die Stadt zum Flusse Tajo. Warfen Brotkrumen in den Fluß, warfen ihre Sünden in den Fluß, daß er sie zum Meer trage, und sprachen die Verse des Propheten: »Wo ist ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und die Untreue erläßt, der seinen Zorn nicht ewiglich festhält, denn er hat Lust daran, barmherzig zu sein. Er erbarmet sich unser, er tilgt aus unsere Schuld, er versenkt unsere Sünde in die Tiefe des Meeres.«

Es dämmerte bereits, als sie wieder zu Hause ankamen. Der Diener brachte Licht. Doch Jehuda winkte ihm, es wieder wegzunehmen, so daß Raquel des Vaters Gesicht nur undeutlich sah, als er zu sprechen anhub. »Die Grabsteine der frühen Ibn Esras«, sagte er, »beweisen, daß wir aus dem Geschlechte König Davids sind. Und nun hat mein Sohn, dein Bruder Alazar, sein königliches Erbteil verraten und vertan. Dein Vater ist nicht ohne Schuld an dem Furchtbaren. Es ist schwere Schuld, ich bereue sie, und ob auch Gottes Gnade tief ist wie das Meer, ich fühle mich nicht entsühnt.« Es war aber das erstemal, daß der Vater ihr von Schuld, Reue und Sühne sprach, und Raquel war gewürgt von Mitleid. Er habe denn auch, fuhr Jehuda fort, Buße auf sich genommen, keine leichte Buße, und er erzählte ihr von seinem Plan, die fränkischen Juden in Kastilien anzusiedeln.

Raquel hörte aufmerksam zu, aber sie antwortete nicht und fragte auch nicht. So sprach denn, nicht ohne Überwindung, er weiter. »Ich habe«, sagte er, »dem König Unserm Herrn meinen Plan vorgetragen, er hat nicht nein gesagt und nicht ja. Und ich habe ein Gelübde getan, und die Zeit drängt.«

Es war, seitdem sie in der Galiana lebte, das erstemal, daß er von Alfonso sprach, und es traf Raquel wie ein Schlag, daß er ihn den König Unsern Herrn nannte. Alles, was der Vater sagte, brach über sie herein wie eiskaltes Wasser, erschreckend, aufrührend. Sie spürte die Mahnung, sie wehrte sich dagegen. Es war nicht recht von ihm, ihr aufzuladen, was zu tragen er übernommen hatte.

Er sprach nicht weiter, er drang nicht in sie. Er ließ Licht bringen, und das Besondere, Unheimliche verschwand. Er sah ihr Antlitz in dem sanften Schein der Kerzen und Öllampen. Er sagte, und zum erstenmal an diesem Tage lächelte er: »Du bist in Wahrheit eine Prinzessin aus dem Hause David, mein Kind.«

Bevor Raquel, des Morgens, in die Galiana zurückkehrte, sagte sie zu ihrem Vater: »Ich werde mit dem König Unserm Herrn über die fränkischen Juden sprechen.«

Als Raquel dem König erklärt hatte, sie werde das Neujahrsfest im Castillo Ibn Esra verbringen, hatte er seinen tiefen Unmut nicht laut werden lassen. Er blieb die Tage über in der Galiana. Es schien ihm unerträglich, in Toledo zu sein, Raquel nahe und grenzenlos fern. Er war zornig auf Raquel, auf Jehuda, auf Jehudas Gott und seine Feste.

Es waren wunderbare helle Herbsttage, aber er hatte keine Freude an ihnen. Er jagte, aber hatte keine Freude an der Jagd und an seinen Hunden. Vor ihm stand finster und prächtig der Umriß seiner Stadt Toledo, er hatte keine Freude an dem Anblick. Er hatte keine Freude an dem Fluß Tajo und keine an dem Gespräch mit seinem Untertan Belardo. Er dachte an das, was ihm Raquel über ihr Neujahrsfest erzählt hatte, und wie sie nun wohl zu ihrem Gott betete und winselte, daß er ihr das Verbrechen verzeihe, Lust und Liebe mit ihrem König geteilt zu haben.

Sie kam zurück, und aller böse Druck fiel von ihm ab. Allein bald, obwohl auch sie des Wiedersehens innig froh schien, mußte er merken, daß eine andere Raquel zurückgekommen war; es lag jetzt über ihrem Gesicht eine sonderbare, nachdenkliche Befriedigung. Er konnte sich nicht enthalten, freundlich hämisch zu fragen, ob sie, wie sie’s vorgehabt, die Rechnung mit ihrem Gott beglichen habe. Sie schien ihm den Hohn nicht zu verdenken, vielleicht bemerkte sie ihn nicht, sie schaute ihn nur stumm an, versunken in sich selber. Ihr Schweigen brachte ihn mehr auf als jede Widerrede. Er durfte es nicht wagen, zu beichten, kein Priester könnte ihm Absolution erteilen; sie indes hatte sich mit ihrem Gotte ausgesöhnt. Er besann sich, was er ihr Böses, Kränkendes sagen könnte.

Da, unerwartet, hub sie zu sprechen an. Ja, sagte sie mit seltsam ernster Leichtigkeit, jetzt hätten die erhabenen Tage begonnen, da sich der Sünder, der in Wahrheit Buße tue, retten könne. Denn am Tage des Gedenkens, am Neujahrstage, schreibe zwar Gott das Urteil ein, aber erst zehn Tage später, am Versöhnungstag, drücke er das Siegel auf, und Gebet und gute Werke und wahre Einkehr hätten Kraft, das Urteil zu wenden. Und mit plötzlichem Entschluß fuhr sie fort: »Wenn du’s nur willst, mein Alfonso, dann könntest du mir helfen, volle Gnade in den Augen Gottes zu finden. Du weißt von der Not meines Volkes in Francien. Willst du nicht diesen meinen Brüdern die Grenzen öffnen?«

Eine Welle Wut schlug über Alfonso zusammen. Das also war die Buße, die ihre Priester ihr auferlegt hatten. Sie sollte ihn dahin kriegen, mitten im Heiligen Krieg sein Land mit Ungläubigen zu überschwemmen, sie sollte ihn mit seinem Volk und seinem Gott entzweien: dafür gewährte dann ihr Adonai ihr die Versöhnung. Es war eine Verschwörung zwischen ihr, ihrem Vater und ihren Priestern. Es war der übelste, schmutzigste Handel, der ihm je zugemutet worden war. Er sollte betrogen werden wie der dümmste Dummkopf, er sollte zahlen für ihre Liebe und ihren Leib mit seiner Seele. Aber er wird ihnen nicht hereinfallen, den Betrügern, er wird sich nicht hereinlegen lassen, er wird sich nichts abpressen lassen, er nicht.

Mit verbissener Anstrengung zwang er die wilden, pöbelhaften Worte zurück, die sich ihm auf die Zunge drängten. Statt dessen, mit harter, verzerrter Miene und mit heller Kommandostimme, als spräche er zu einer Versammlung feindlicher Granden, warf er ihr gemessene lateinische Worte ins Gesicht. »Ich wünsche nicht, Staatsgeschäfte in der Galiana zu besprechen. Ich wünsche nicht, Staatsgeschäfte mit dir zu besprechen.« Er drehte ihr brüsk den Rücken und ging.

Als er des Nachts zu ihr kommen wollte, erklärte sie, es sei Sitte jüdischer Frauen, in den Nächten dieser Bußzeit allein zu schlafen. Nun riß sein Zorn alle Dämme nieder. Was, er sollte Rücksicht nehmen auf ihren dummen Aberglauben? Oder war es ein neuer, abgefeimter Trick, ihm das Edikt für ihre Juden abzupressen? Verweigerte sie sich nur deshalb? Verwilderten Blickes, gefährlich leise, sagte er: »Du stellst mir Bedingungen, was? Ich soll deine Betteljuden ins Land lassen, und dann läßt du mich zu dir heut nacht, was? Das verbitte ich mir. Ich bin der Herr hier im Haus und hier im Reich!«

Sie schaute ihn an aus weiten, grauen Augen, aus klagenden, vorwurfschweren Augen, entsetzt und doch furchtlos. Das brachte ihn vollends außer sich. Er stürzte sich auf sie, warf sie aufs Lager, packte sie mit rohen Händen wie den Feind. Sie wehrte sich, keuchend. Er zwang sie nieder, und nochmals, hielt sie nieder, selber hart atmend, riß ihr die Kleider in Fetzen, nahm sie, dumpf, böse, gewalttätig, ohne Genuß.

Noch in der Nacht verließ sie die Galiana. Ging ins Castillo Ibn Esra.

Alfonso hörte, wie sie das Haus verließ mit der Amme Sa’ad. Der Weg den Felsen von Toledo hinauf war kurz, doch bei Nacht nicht ungefährlich. Er zögerte, dann schickte er ihr einen Bewaffneten nach, sie zu begleiten. Der holte sie nicht ein. Soll sie es haben, wie sie es will, dachte er rachsüchtig. Sie hat es herausgefordert. Es ist gut so, wie es gekommen ist. Es ist der Himmel, der es so gefügt hat. Jetzt soll nichts mehr mich halten. Jetzt zieh ich gegen die Moslems. Sie allein ist schuld, daß ich die Unehre so lange auf mich genommen habe. Der Fant von Aragon hat sich verrechnet. Es wird nicht so kommen, daß ich auf dem Lotterbett liege, wenn er gegen die Moslems losschlägt.

Als es Morgen wurde, beschloß er, großzügig zu sein und noch einen Tag in der Galiana zu verziehen. Vielleicht kam sie zurück. Er wollte sich trotz seines berechtigten Zornes in Freundschaft von ihr trennen. Eine Zeit, die viel Schönes gebracht hatte, sollte nicht so dumm und häßlich zu Ende gehen.

Er strich in Haus und Park herum voll etwas krampfhafter Fröhlichkeit. Delila hatte ihn den Philistern ausliefern wollen, aber er war kein blöder Simson, er hatte sich seine Kraft nicht stehlen lassen. Das schöne Leben hier hatte sich als ein Espejismo erwiesen, als ein Trugbild, ein Spiegelbild der Wüste, aber jetzt hatte ein frischer Wind es zerweht, und um ihn war die gute Wirklichkeit.

Er stand vor der Mesusa, die sie hatte anbringen lassen. Es war eine kostbare Metallröhre, aus der verglasten Öffnung schaute drohend das Wort Schaddai. Es verlangte ihn, das heidnische Zeug abzureißen, aber er fürchtete, er werde den Zorn ihres Gottes auf sich herabziehen, und begnügte sich, mit der Faust das Glas zu zerschlagen. Die Splitter verletzten ihm die Hand, sie blutete stark, er wischte sie ab, sie blutete weiter, er beschaute sie, grimmig lachend. Die geglaubt haben, er werde sich verliegen, sollen Augen machen. Er wird kämpfen jetzt. Er wird dreinhauen mit seinem guten Schwert Fulmen Dei. Er wird sich die ganzen dummen Gedanken von der Seele wegkämpfen in frommem, gottgesegnetem Männerkampf, er wird sich die Sünden, die Zweifel, all das schwere, erschlaffende, heidnische Geträume aus dem Blut kämpfen.

Dem Belardo sagte er künstlich fröhlich: »Vielleicht wird es nicht mehr lange dauern, mein Guter, und deine schönsten Hoffnungen erfüllen sich. Such das Lederkoller deines Großvaters hervor und seine Lederkappe. Ich werde dir Gelegenheit geben, sie auszulüften.« Der Gärtner Belardo schien mehr bestürzt als erfreut. »Ich diene deiner Majestät mit allem, was ich habe«, sagte er, »auch mit dem Lederkoller meines Großvaters. Aber einige müssen wohl bleiben und hier weiterarbeiten mit dem Spaten. Willst du deinen Garten verkommen lassen, Herr König?« Das Zaudern des Gärtners gab Alfonso zu denken. »Morgen zieh ich ja noch nicht los«, antwortete er bösen Gesichtes. Und unversehens – man war nahe den verfallenen Zisternen, der zerstörten Zeitmessungsmaschine des Rabbi Chanan – befahl er: »Vorläufig schütten wir das da zu. Sonst fällt uns noch einer hinein des Nachts.«

Da Raquel auch am folgenden Tage nicht zurückkam, ritt er nach Toledo. Man schien in der Burg bereits zu wissen, daß er sich mit Raquel entzweit hatte, die Mienen waren fröhlich entspannt.

Er stürzte sich in die Arbeit.

Es war so, wie der Jude es vorhergesagt hatte: ein großes Blühen war im Land, Kastiliens Schatz war gefüllt. Vielleicht freilich hatte er auch damit recht, daß das Geld noch immer nicht genügte, Krieg zu führen gegen den Kalifen. Aber er irrte sich, der Jude, wenn er glaubte, er könne ihn durch solche Einwände noch länger von seiner heiligen Pflicht abhalten. Die Juden hatten sich lange genug gemästet am Fett des Landes; er brauchte ihnen nur wie sein Vetter Philipp August von Francien ihr Geld wieder abzunehmen, und er hatte seinen Kriegsschatz gegen den Kalifen.

Er sagte zu Manrique: »Ich halte es nicht mehr aus, hier der eques ad fornacem zu sein, der Ritter Ofenhocker, während die ganze Christenheit Krieg führt. Ich habe gerechnet und überlegt, und ich schätze: ich kann es wagen.« Don Manrique erwiderte: »Dein Escrivano, der ein guter Rechner ist, schätzt anders.« – »Unser Jude«, gab hochfahrend Alfonso zurück, »hat aus seiner Rechnung einen Posten ausgelassen: die Ehre. Was Ehre ist, davon versteht er so viel wie ich von seinem Talmud.« Manrique war besorgt. »Schließlich hast du ihn zum Hüter deiner Wirtschaft bestellt«, antwortete er, »und also ist es seine Pflicht, für deine Wirtschaft zu reden. Laß dich von Don Martíns Eifer nicht verleiten, Don Alfonso«, bat er. »Die Versuchung des Feldzugs ist groß, und es ist eine fromme Versuchung. Aber wenn wir nicht genug Geld haben, zwei Jahre durchzuhalten, dann kann das Reich zugrunde gehen in einem solchen Feldzug.«

Alfonso in seinem Innern mißtraute der Schätzung des Ibn Esra. Der suchte nach Gründen, den Heiligen Krieg zu verhindern, weil er nur im Frieden seine fränkischen Juden ins Land ziehen konnte. Aber einen so frechen Plan auch nur zu fassen, dazu hatte allein seine, des Königs, unheilige Leidenschaft den Juden ermutigt, und deshalb schämte sich Alfonso, dem alten Freunde Manrique von seinem Verdacht zu sprechen. Statt dessen grollte er: »Ihr unkt und unkt, und wer sich von der ganzen Christenheit am Barte zupfen lassen muß, bin ich.«

»Verhandle mit Aragon, Don Alfonso«, riet trocken und empfindlich Manrique. »Sprich dich aus mit Don Pedro. Schließ ein ehrliches Bündnis.«

Verdrossen entließ der König den Freund und Berater. Immer wieder riß an ihm die alte Kette. Natürlich hatte Manrique recht, natürlich war der Krieg nur möglich nach einer aufrichtigen Aussprache mit Aragon. Ein klares Abkommen mußte getroffen, ein Bündnis geschlossen werden. Aber nur ein Mensch konnte das zustande bringen, Leonor.

Er wird nach Burgos gehen.

Wie lange war er nicht mit Leonor zusammen gewesen? Eine Ewigkeit. Sie hatte kurze, höfliche Briefe geschrieben, er hatte, immer in langen Abständen, kurz und höflich erwidert. Er konnte sich gut vorstellen, wie es sein wird, wenn sie sich wiedersehen. Er wird den Muntern spielen, sie ihm ein freundliches, etwas verzerrtes Lächeln zurückgeben. Es wird kein erfreuliches Wiedersehen sein.

Er wird sich bemühen, ihr zu erklären, was geschehen ist. Aber wo sind die Worte, einem andern klarzumachen, wie herrlich und grauenhaft es ist, wenn eine solche ungeheure Welle über einen herbricht und einen hinunterreißt und wieder hoch und wieder hinunter?

Damals, vor Rodrigue, hat er sich stolz und trotzig zu Raquel und seiner Leidenschaft bekannt, und der Priester in all seiner Frommheit hatte ihn verstanden. Aber Leonor kann ihn nicht verstehen, sie, die Ruhige, Freundliche, Damenhafte. Vor ihr wird er stammeln, und was immer er sagt, wird armselig klingen wie der Versuch eines dummen Knaben, sich zu rechtfertigen. Es wird die schlimmste Erniedrigung seines Lebens sein.

Es gibt niemand in der Welt, vor dem sich ein König so erniedrigen darf. Es gibt nichts in der Welt, das eine solche Erniedrigung wert wäre.

Doch. Eines gibt es. Ein Herrliches, das jede Erniedrigung wert ist und die ewige Verdammnis dazu.

Und mit einemmal ist alles wieder da, die Galiana und all ihr unchristliches Leuchten. Er spürt, wie sich Raquel an ihn schmiegt, er spürt ihre Haut, weich, unendlich wohltuend, er spürt ihr Blut, ihr schlagendes Herz. Seine Finger gleiten durch ihre Haare, zerren ihr die Haare, bis sie lachend sagt: »Nicht, Alfonso, es tut weh, Alfonso.« Wer kann so fremdartig komisch und dringlich »Alfonso« sagen wie sie, daß es einen lächert und einem ins Blut geht? Er sieht ihre taubenfarbigen Augen, sieht sie verlöschen, sieht die Lider sich darüber senken, langsam, schwer, und sich wieder auftun.

Arabische Verse kamen ihm in den Sinn, die zu lesen sie ihm einmal gegeben hatte: »Oft hörte ich Pfeile um meinen Kopf schwirren und zuckte nicht; aber wenn ich ihr Kleid rascheln höre, zittere ich am ganzen Leib. Oft hörte ich Trompeten des anrückenden Feindes, und Herz und Haut blieben mir kalt; aber wenn ich ihre Stimme höre, überrieselt mich Hitze.« Die Verse hatten ihn geärgert; so knechtisch durfte sich ein Ritter nicht verlieren. Aber sie waren wahr, die süßen und knechtischen Verse, wahr wie das Evangelium. Ihn überrieselte Hitze, auch wenn er sich Raquel nur vorstellte. Wie hatte er daran denken können, sie aufzugeben, diese Raquel, seine Raquel, den herrlichen, frevelhaften Sinn seines Lebens?

Er mußte Raquel wieder haben, er mußte sie versöhnen.

Da war nur ein Weg. Er atmete hart. Aber es war nur dieser eine Weg.

Er schickte nach Jehuda. Don Jehuda, einen mutigen Mann, hatte Angst gepackt, als mitten in der Nacht eine verstörte Raquel zu ihm kam. Sie sagte: »Er hat mich beschimpft, wie niemals eine Frau beschimpft worden ist.« Es drängte Jehuda, Einzelheiten zu erfragen. Er unterließ es. Weckte Musa, bat ihn, ihr einen starken Beruhigungstrank zu mischen, sagte: »Ruh aus, meine Tochter, und schlaf dich gesund.«

Allein, überlegte er fieberisch, was vorgefallen sein mochte. Sicher hatte sie den Mann gebeten, die fränkischen Juden aufzunehmen. Jehuda wußte aus Erfahrung, wie tückisch und brutal der Mann Menschen erniedrigte, wenn er aufgebracht war. Und nun hatte Raquel das nicht ertragen, sie war ihm entlaufen, und der Mann war rachsüchtig, er wird seine Bosheit an ihm auslassen und an der ganzen Judenheit. Raquels und sein eigenes Opfer war umsonst gebracht.

Er suchte sich zur Ruhe zu zwingen, aber er fand keinen Schlaf. Es durfte nicht sein, daß alles hin war, irgend etwas mußte es geben, woran eine Hoffnung ranken konnte. Er suchte und grübelte. Dieser Christenkönig, wiewohl er immerzu von Ehre sprach, kannte keine Würde. Zweimal, nachdem er ihn, Jehuda, beschimpft und bespien, hatte er eingesehen, daß er ihn brauchte, und sich von neuem an ihn herangemacht. Er liebte Raquel, er konnte ohne sie nicht leben, er wird sich auch an sie wieder heranmachen, er wird betteln, sie möge zurückkehren.

Es war der Morgen des fünften Tischri. In weniger als drei Wochen war die Frist seines Gelübdes um. Jehuda, in dieser ersten schlaflosen Nacht, wußte, er wird noch viele schlaflose Nächte haben, er wird noch oft in Verzweiflung stürzen und wieder hochklettern an Hoffnungen und Geklügel.

So stand es um Jehuda Ibn Esra. Wie aber steht es um dich, Raquel? Blaß, wortkarg schleichst du umher, vergeblich wartend auf eine Botschaft. Du spürst die besorgten, zärtlichen Blicke des Vaters, aber sie geben dir nicht Wärme noch Trost. Du hörst das ängstliche Geplapper der Amme – ach, ihr Geschenk, die »Hand der Fátima«, war ohne Kraft – und ihr Geschwatz gleitet von dir ab. Du rufst dir Gesicht, Gestalt und Gebärde des Mannes zurück, wie er war in jenen guten, glühenden Stunden, da sich Seelen und Leiber mischten. Aber das Bild wird dir weggewischt durch jenes andere, das des wüsten, gierigen, gewalttätigen Gesichtes. Schaut so die Ritterschaft aus, die ihn begeistert? Und trotzdem sehnst du dich nach ihm und weißt, er braucht nur zu rufen, und du gehst zurück, du rennst zurück zu ihm.

Die Tage vergingen. Don Alfonso war in Toledo, aber er schickte nicht nach Raquel noch nach Jehuda. Nur Don Manrique kam, um Auskünfte in Staatsgeschäften einzuholen.

Der heiligste Tag der Juden war da, der Versöhnungstag, der Jom Kippur. Jehuda, der merkwürdige, vielschalige Mann, war ein anderer Jehuda an diesem Tage. Er tat allen kleinen Ehrgeiz ab, er gestand sich ein, daß seine »Sendung« nur eine Verkleidung seiner Machtgier war, er war in Wahrheit zerknirscht, ein elendes, sündiges Nichts vor Gott, und war er früher hochmütiger gewesen als die andern, so war er nun demütiger. Er schlug sich die Brust und betete mit heißer Scham: »Ich habe gesündigt mit meinem Kopfe, den ich frech und stolz erhob. Ich habe gesündigt mit meinen Augen, die dreist und hochfahrend blickten. Ich habe gesündigt mit meinem Herzen, das überheblich schwoll. Ich erkenne, ich bekenne, ich bereue. Verzeih mir, mein Gott, und gewähre mir Sühne.«

Er war jetzt nicht nur mit dem Verstand, sondern mit seinem ganzen Wesen bereit, hinzunehmen, was immer kommen wird.

Als zwei Tage später der König ihn vor sich rief, hoffte er nichts und fürchtete er nichts. »Willkommen, Gut und Bös«, sagte er auf dem Weg zur Burg vor sich hin, und so dachte er.

Alfonso war hochmütig und verlegen. Er sprach lang und breit von geringfügigen Geschäften, von den Schwierigkeiten etwa, welche die Barone de Arenas machten, und daß er nicht gesonnen sei, noch länger zuzuwarten. Vielmehr solle Jehuda den Arenas eine viel kürzere Frist setzen, als er vorgeschlagen habe, und wenn die Herren dann nicht zahlten, werde er, Alfonso, das strittige Dorf mit Gewalt nehmen. Jehuda verneigte sich und sagte: »Ich werde tun, wie deine Majestät befiehlt.«

Alfonso legte sich auf sein Spannbett, verschränkte die Hände hinterm Nacken und sagte: »Und wie ist das mit meinem Krieg? Hast du noch immer nicht genug Geld gescheffelt?« Jehuda antwortete sachlich: »Einige dich mit Aragon, Herr König, und du kannst losschlagen.« – »Immer das gleiche«, knurrte Alfonso. Er richtete sich hoch und fragte ohne Übergang: »Und wie ist das mit den Juden, die du mir ins Land setzen willst? Versuche, ehrlich zu sein, und sprich nicht als ihr Bruder, sondern als mein Ratgeber. Werden nicht alle meine Untertanen mir vorwerfen: In währendem Heiligem Krieg läßt dieser König Tausende von jüdischen Bettlern ins Land?«

Im Nu schlug Jehudas trübe, entsagende Gefaßtheit um in wilde Freude. »Niemand wird dergleichen sagen, Herr König«, antwortete er, nun ganz der alte Jehuda, ehrerbietig, seiner Sache sicher, voll inneren Übermutes. »Ich hätte es nicht gewagt, dich um die Zulassung von Bettlern zu bitten. Ich möchte dir vielmehr untertänig vorschlagen, von jedem der Flüchtlinge beim Grenzübergang den Nachweis eines gewissen Vermögens zu verlangen, sagen wir von nicht weniger als vier Goldmaravedí. Die neuen Siedler werden keine Bettler sein, sondern gesetzte Leute, erfahren in Handwerk und Geschäft, und fette Steuern zahlen.«

Alfonso, fest gewillt, sich überzeugen zu lassen, fragte: »Glaubst du, man kann das meinen Granden und meinem Volke klarmachen?« Jehuda erwiderte: »Deinen Granden vielleicht nicht, deinem Volke bestimmt. Deine Kastilier werden den Zufluß daran merken, daß sie behaglicher leben.« Der König lachte. »Du übertreibst, wie ich’s an dir gewöhnt bin«, sagte er. Dann, immer beiläufig, befahl er: »Also laß das Edikt ausarbeiten.« Jehuda neigte sich tief und berührte mit einer Hand die Erde.

Noch ehe er sich wieder hochgerichtet hatte, fuhr der König fort: »Schick mir die Dokumente in die Galiana. Ich gehe heute dorthin zurück. Und sage, bitte, deiner Tochter: Wenn sie der Unterzeichnung beiwohnen will, wird es mir eine Freude sein.«

Am fünften Tag vor Ablauf der Frist, die er sich gesetzt hatte, teilte Don Jehuda dem Párnas Ephraim mit, der König Unser Herr habe die Ansiedlung von sechstausend fränkischen Juden genehmigt. Und: »Nun kann ich dir’s ersparen«, meinte er schalkhaft und stolz bescheiden, »den Bann über mich auszusprechen. Die zwölftausend Maravedí für unsere fränkischen Juden kann ich dir freilich nicht ersparen.« Und großmütig fügte er hinzu: »Es bleibt dein Verdienst, wenn sie ins Land kommen. Ohne die Zusage deiner Hilfe hätte ich’s nicht durchgesetzt.« Don Ephraim sagte mit blassen Lippen den Segensspruch, der bei Erhalt einer Glücksnachricht zu sprechen war: »Gelobt seist du, Adonai Unser Gott, der du gut bist und Gutes gewährst.« Nun aber brach Jehudas ganzer Triumph durch: »Naphtule elohim niphtalti – Die Siege Gottes habe ich gesiegt«, jubelte er.

Er ging umher, strahlenden Gesichtes, den Schritt beschwingt, als spürte er die Erde nicht. War das der gleiche Mann, der vor kaum zwei Wochen noch zermahlen worden war von dem Bewußtsein seiner Nichtigkeit? Seine Hoffart wuchs in den Himmel. Seine Brust war voll von Gelächter über die andern, die Narren, die ihren Heiligen Krieg führen wollten um das Land, das ihnen nie gehören wird. Den echten Heiligen Krieg, den Krieg Gottes, führte er, Jehuda. Während die andern schlugen und wüsteten, siedelte er sechstausend Gerettete im Frieden an. Er sah sie, wie sie mit geschickten Köpfen und geschickten Händen arbeiteten, Werkstätten errichteten, Wein anbauten, nützliche Dinge erzeugten und austauschten.

Mit seinem Freunde Musa feierte er seinen Triumph. Mit ihm, der Leckerbissen und gute Weine zu schätzen wußte, hielt er ein Dununisches Mahl, ein Festmahl auf die Art der Brüder Dunun, der berühmtesten Schlemmer der moslemischen Welt. Vor Musa freute er sich seines Glückes. War er nicht ein Liebling Gottes? Wenn ihm Gott zuweilen Unglück sandte, dann nur, damit er sein Glück um so besser schmecken könne.

»Ich weiß, mein Freund«, antwortete liebevoll spöttisch Musa, »du bist der Nachfahr König Davids, und Gott trägt dich auf der Fläche seiner Hand über alle Fährnisse weg. Und darum brauchst du auch nicht immer deine gute Vernunft zu Rate zu ziehen, sondern darfst ›tun‹ und drauflosschlagen nach dem Behagen deines ungestümen Herzens, genau wie jene Ritter, die du so abgründig verachtest. Dein Verstand durchschaut sie, aber in deinen Geschäften handelst du nach ihrem Leitspruch: Nur nicht stillesitzen, immer was tun, und besser was Falsches als gar nichts.«

Sie tranken von den köstlichen Weinen, und Jehuda seinesteils hänselte freundschaftlich seinen Musa: »Ja, der Weise muß gleichmütig sein in jeder Lebenslage und sich eher totschlagen lassen, als daß er selber dreinschlüge. Du hast es so gehalten, ich kann es bezeugen. Und wenn nicht ich mich darum gekümmert hätte, dann wärst du jetzt zwei- oder dreimal totgeschlagen worden und könntest nicht diesen Wein vom Flusse Rhone trinken.« Und sie tranken.

»Ich bin froh«, sagte Musa, »daß du wenigstens für heute abend deinem Ibn Omar verboten hast, dir den schnellen Entwurf eines Staatsvertrags abzuverlangen oder die Order für die Ausfahrt einer Handelsflotte. Schade, daß die Stunden, da ich deine Freundschaft in Ruhe genießen kann, so selten sind. Du preisest immerzu den Frieden, aber dir selber gönnst du davon wenig.« – »Gönnte ich mir mehr«, antwortete Jehuda, »dann hätten die andern keinen.«

Musa, mit stillen, lächelnden, prüfenden Augen, beschaute den Freund. »Du läufst schnell, mein Jehuda«, meinte er, »und du läufst immerzu. Ich fürchte, du läufst deiner Seele davon, sie kann dich nicht einholen. Oft bist du mit deinem Gerenne ans Ziel gelangt, aber vergiß nicht, manchmal auch ist dir der Atem ausgegangen.« Und später sagte er: »Nur wenige begreifen: wir leben nicht, wir werden gelebt. Ich habe längst gelernt, daß ich nicht die Hand bin, die den Würfel wirft, sondern der Würfel. Du, fürchte ich, wirst das nie begreifen. Aber gerade darum liebe ich dich und bin dein Freund.«

Lange saßen sie zusammen, aßen, schwatzten, tranken. Dann freuten sie sich der Tänzerinnen, die Jehuda hatte kommen lassen.

Wenn in den folgenden Wochen Don Jehuda die Reden seines Musa bedachte, lächelte er freundlich überlegen. Alles fügte sich, wie er’s wollte. Zwei riesige Warentransporte, die er auf gut Glück aus dem Fernen Osten herbeordert hatte, waren durch die Gefahren des Meeres und des Krieges gegangen und im sichern Hafen. Ein schwieriger Vertrag mit den Behörden des Sultans Saladin war mitten im Heiligen Krieg unterzeichnet worden, Jehuda und dem Lande Kastilien zum Vorteil. Mit innigem Erstaunen sah Jehuda, wie die Wirklichkeit Toledos den Traum wahrmachte, den er damals geträumt hatte an der verfallenen Fontäne. Sein Stolz umschien ihn wie eine mattleuchtende Wolke.

Er ließ sich ein Wappen entwerfen und vom König genehmigen. Da war die Menora, der siebenarmige Leuchter des Jahve-Tempels, und ringsum lief eine hebräische Inschrift, die Jehudas Namen aussagte und sein Amt. Er ließ sich ein Siegel schneiden mit diesem seinem Wappen, und dieses Siegel trug er auf der Brust, wie es Sitte gewesen war bei seinen Vorvätern, den Männern, von denen das Große Buch erzählte.

Der Saladins-Zehnte, den die Aljama zahlte, war außerordentlich hoch, und so war die Kommission, welche Jehuda daraus bezog. Er wollte dieses Geld nicht behalten. Nun hatten die Juden von Paris bei ihrer Vertreibung eine Thora-Rolle retten können, die als die älteste vorhandene Niederschrift der Fünf Bücher Mose galt, das Sefer Hillali. Jehuda erwarb das Buch für dreitausend Maravedí; es gab keinen andern, der den Flüchtlingen auf so vornehme Art eine so ungeheure Summe gespendet hätte.

Er saß mit Musa vor der kostbaren, gebrechlichen Pergamentrolle, welche das Wort Gottes und das edle, erhabene Schrifttum des jüdischen Volkes weitergegeben hatte von Geschlecht zu Geschlecht. Sie beschauten mit gierigen und ehrfürchtigen Augen, sie betasteten mit behutsamen Händen das wunderbare Buch.

Jehuda hatte daran gedacht, die Pergamentrolle der Aljama zu übergeben. Aber von jeher hatte es ihn verdrossen, daß die Synagogen Toledos so unscheinbar waren. Er wird den rechten Rahmen um sein wunderbares Buch bauen, ein Tempelhaus, welches dieser kostbaren Handschrift würdig ist, welches Israels würdig ist und der uralten Aljama von Toledo und auch seiner selbst, Jehuda Ibn Esras.

Musa gab zu bedenken: »Wirst du nicht den Zorn des Erzbischofs und der Barone noch mehr steigern?« Jehuda hatte dafür nur ein abschätziges Lächeln. »Ich werde dem Gotte Israels ein würdiges Haus bauen«, sagte er. Musa, freundlich, doch vielleicht ein wenig ernster als sonst, mahnte: »Zäume dein Roß nicht zu prächtig auf, Jehuda, mein Freund. Sonst hast du am Ende nur das Geschirr und die Schabracke, und das Pferd ist davon.«

Jehuda klopfte ihm freundschaftlich die Schulter und ging seinen vermessenen Weg weiter.

Viertes Kapitel

Doña Leonor, in Burgos, hatte die ersten Gerüchte über Alfonsos Liebeshandel nicht ernst genommen. Noch als feststand, daß Alfonso lange Wochen mit der Jüdin allein in La Galiana lebte, machte sie sich vor, es sei ein vorübergehendes Abenteuer. Wohl hatte Alfonso in den fünfzehn Jahren ihrer Ehe dann und wann eine Liebelei gehabt, doch immer war er sehr bald voll jungenhafter Befangenheit zu ihr zurückgekehrt. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sich ernsthaft sollte verliebt haben – und gar in diese Jüdin! Als er sie das erstemal sah, hatte er sich kaum um sie gekümmert, sie selber hatte ihn ermahnen müssen, ihr ein paar Höflichkeiten zu sagen. Vorwitzig war sie auch, die Jüdin, und sie kleidete sich fremdartig und übertrieben, lauter Dinge, die Alfonso abstoßen mußten.

Nein, Doña Leonor war nicht eifersüchtig. Drohend stand vor ihr die Geschichte ihrer Mutter Ellinor de Guienne, die den Vater, den engelländischen Heinrich, gequält hatte mit wilder Eifersucht und nun seit Jahren von ihm gefangengehalten wurde. Sie wird es ihr nicht nachtun. Alfonsos Liebschaft mit der Jüdin wird vorbeigehen wie seine früheren Abenteuer.

Wochen vergingen, Monate vergingen, Alfonso hielt fest an dieser Doña Raquel. Und mit einemmal nützte Leonor kein Klügeln und Vernünfteln mehr. Da hatte sie immer geglaubt, die schönen Versromane, welche ihre Schwester von Troyes ihr schickte und welche die fränkischen Ritter und Sänger ihr vortrugen, seien Phantasien. Sie hatte sich selber hineingeträumt in jene schönen, geistvollen Frauen, in diese Genièvre und Ysault, um derentwillen die herrlichsten Ritter, ein Lanzelot, ein Tristan, Ehre und Leben preisgaben. Und nun waren diese wilden, wahnsinnigen Geschichten nicht Einbildungen von Versemachern, sondern das Leben um sie herum. Waren die furchtbare Wirklichkeit ihres Mannes, ihres Ritters, ihres Liebsten, ihres Alfonso!

Zorn faßte sie gegen diesen Alfonso, der ihre Liebe, ihren damenhaft heitern Gleichmut, die Geburt des Infanten auf solche Art vergalt, und ein maßloser Haß gegen das Mädchen, die Jüdin, die Hure, die ihr den Mann, der durch eine christliche Ehe von fünfzehn Jahren ihr gehörte, auf gemeine Art wegbuhlte und wegstahl.

Doch sie durfte sich nicht hinreißen lassen wie die Mutter. Sie mußte klug sein, sie hatte zum Gegner den gescheitesten Mann des Reiches, den Ibn Esra, den sie selber, sie Närrin, sie unselige, hergerufen hatte.

Sie war klug. Sie zwang den Zorn nieder. Sie nahm nicht zur Kenntnis, was da geschah, verleugnete es, sogar vor ihren Vertrautesten. Der Erzbischof von Burgos, ein naher und ehrlicher Freund, kam bekümmert und hub an, von dem Übel zu reden. Sie setzte ihr Königinnengesicht auf und schaute ihn fremd, verständnislos an; der fromme Herr mußte ablassen.

Nein, Doña Leonor wußte nichts von der Galiana, sie unternahm nichts gegen Alfonso, nichts gegen seine Liebste, sie beklagte sich vor niemand.

Wohl aber wechselte sie ihre Politik. Zur Verblüffung der Herren ihres Hofes erklärte sie plötzlich die Neutralität Kastiliens für ruchlos und töricht. Jedermann sah, daß das Reich jetzt die Mittel hatte, teilzunehmen an dem Heiligen Krieg. Man mußte endlich den Feldzug beginnen.

Sie wußte: Alfonso wird aus seiner Besessenheit erwachen, sowie er zu Felde zieht; das war sicher wie das Amen in der Kirche.

Und sie wird es erreichen, daß er zu Felde zieht. Sie wird die Allianz mit Aragon erreichen. Sie lächelte tief und böse. Diesen Vorteil wenigstens brachte die närrische Leidenschaft Alfonsos, daß man Don Pedro wird umstimmen können. Der mußte jetzt einsehen, daß Alfonso von jähen, verrückten Anwandlungen heimgesucht wurde; mußte jene unselige Kränkung als Handlung eines zeitweise Wahnsinnigen vergessen und vergeben.

Sie schickte Don Pedro ein vertrauliches Schreiben und gab ihm in damenhaften und dennoch zärtlichen Wendungen zu verstehen, sie sehne sich nach seinem Besuch. Den Brief ließ sie durch Don Luís bestellen, den Sekretär ihres Freundes, des Erzbischofs von Burgos.

Den jungen König hatte das Liebesabenteuer Alfonsos erschüttert. Bei all seinem Haß sah er in ihm noch immer den Spiegel des Rittertums, und Alfonsos rücksichtslose Leidenschaft schien ihm dafür ein neuer Beweis. Wie ein Lanzelot, ein Tristan alles für ihre Dame opferten, so setzte dieser Alfonso seinen Ritter- und Königsnamen aufs Spiel um der Frau willen, für die er entflammte. Daß diese Frau eine Jüdin war, gab dem Abenteuer sein besonderes, dunkles Geleuchte. Viele wilde Erzählungen gingen um von Rittern, die sich im Morgenland in moslemische Frauen verliebt hatten. Don Pedro spürte Schauder vor dem königlichen Vetter, der sein Christentum verleugnete und seine Seele verspielte, und gleichzeitig Bewunderung vor seinem Wagemut.

Von solchen Gefühlen hin und her gerissen, las er Doña Leonors Schreiben. Im Geist hörte er ihre Stimme, er sah die liebenswerte Dame vor sich, er fühlte tiefes Mitleid mit der edeln Frau, die gekettet war an den mit Tollheit geschlagenen, vom Teufel besessenen Alfonso. Sie war die Dame in Not, es war seine Pflicht, ihr beizustehen.

Überdies hatte auch ihn von Beginn des Kreuzzuges an seine Untätigkeit heiß gequält. Er hatte gerüstet, um über das moslemische Valencia herzufallen; ja, er hatte dem Emir von Valencia Gesandte geschickt, die, sich auf alte Verträge berufend, auf freche Art Tribut von ihm forderten, und Don Joseph Ibn Esra hatte schwere Mühe gehabt, die Beziehungen zu dem Emir wieder einzulenken. Der Minister mußte immer neue Listen anwenden, seinen ungebärdigen Herrn in dem »schimpflichen« Frieden festzuhalten.

Die Botschaft Doña Leonors fand also einen bereitwilligen Don Pedro. Aber er brachte es nicht über sich, nach Burgos zu kommen und als erster um Versöhnung zu bitten. In Burgos hatte man das vorhergesehen, und Doña Leonors Gesandter, der fromme und listenreiche Sekretär Don Luís, schlug einen Ausweg vor. Stand es in dieser schweren Zeit einem christlichen König nicht an, zum Santiago de Compostela zu wallfahren? Wenn Don Pedro auf einer solchen Pilgerfahrt über Burgos reist, wird Doña Leonor glücklich sein.

Don Pedro reiste über Burgos.

Befriedigt sah Doña Leonor, daß der junge Herr sie noch ebenso ritterlich verschwärmt bewunderte wie früher. Er sprach ein paar ungeschickte Worte über ihre Not. Sie wollte ihn nicht verstehen, verbarg aber nicht ihren Kummer. Ihn bedeutsam anschauend, meinte sie, wenn er durch eine Allianz mit Kastilien den hispanischen Reichen den Kreuzzug ermögliche, erweise er nicht nur aller Christenheit einen Dienst, sondern auch ihr, Leonor, persönlich; denn er befreie dadurch einen großen Fürsten und Herrn, dem sie sehr nahestehe, aus den Klauen der bösen Geister und helfe ihm, sein früheres, edles Selbst zu werden. Er saß befangen da, spielte mit seinem Handschuh, wußte nichts zu sagen. Sie begreife es, fuhr sie fort, wenn Don Pedro Bedenken trage, mit einem Manne, von dem er sich beleidigt glaube, ein Bündnis einzugehen. Aber vielleicht lasse sich Alfonso bewegen, Pedros Mißtrauen durch Taten zu zerstreuen.

Wie sie erwartete, fragte Don Pedro, was für Taten denn das sein könnten. Sie hatte sich aber einen Plan ausgedacht. Alfonso, meinte sie, könnte etwa die Lehenshoheit Aragons über den Baron de Castro anerkennen und, um seinen guten Willen zu beweisen, dem regierenden Baron Gutierre de Castro hohe Buße zahlen für den getöteten Bruder; vielleicht sogar ließe Alfonso sich dazu bewegen, dem Baron Gutierre das Castillo in Toledo zurückzugeben.

Sie rechnete damit, daß Alfonso unmöglich den Kreuzzug an der Verweigerung einer solchen Buße werde scheitern lassen; nahm er aber dem Jehuda das Castillo wieder fort, dann war bei der maßlosen Arroganz des Juden ein Bruch mit den Ibn Esras unvermeidlich.

Don Pedro war verwirrt. Ein solches Zugeständnis würde in der Tat viel Unrecht gutmachen. Er spürte auf sich die flehenden Augen der edeln Frau. Tief in ihn eingesenkt hatte sich ihre Andeutung, er tue ihr einen Ritter- und Minnedienst, wenn er Alfonso aus den Klauen der Teufelin befreie. Der Ernst und die Milde der süß und traurigen Königin bewegten ihn mächtig. Er küßte ihre Hand und sagte, er werde ihren Vorschlag in Freundschaft bedenken; kein schöneres Los könne er sich wünschen, als zu Felde zu ziehen für Christus und für sie, Doña Leonor.

Nun Raquel in die Galiana zurückgekehrt war, liebte Don Alfonso sie mehr als je. Manchmal, wenn er ihr edles Gesicht sah, schämte er sich, daß er sie so gemein angefallen hatte; sie war eine Dame, sie war die Dame seines Herzens, und er hatte ihr Gewalt und Unehre angetan. Dann wieder verschaffte ihm gerade die Erinnerung, wie er sie damals gegen ihr verzweifeltes Wehren übermannt hatte, eine böse Lust. Er verspürte eine wüste Sehnsucht, sie von neuem zu demütigen, und wenn sie sich in der Umarmung tiefer vergaß als er, war ihm das ein grimmiger Sieg.

Bei alledem war er ihr dankbar, daß sie jener schlimmen Stunde mit keinem Wort und mit keiner kleinsten Geste gedachte. Gleich nach ihrer Rückkehr hatte sie ihn ängstlich gefragt, was das für eine Wunde an seiner Hand sei; denn die Narben der Risse und Schnitte, welche ihm das splitternde Glas der Mesusa beigebracht hatte, verheilten nur langsam. Er hatte ausweichend geantwortet, und es war ihm eine Erleichterung, daß sie nicht weitergefragt hatte; sie fragte auch nicht, warum die Zisternen des Rabbi Chanan zugeschüttet waren.

Es war nicht so, daß sie jene Stunde wirklich vergessen hätte. Aber wie sie es ersehnt und gefürchtet hatte, war es gekommen: der Schimpf war nicht mehr schimpflich, das Gemeine nicht mehr gemein in seiner leibhaften Gegenwart. Zuweilen sogar, in seiner Umarmung, sehnte sie sich nach dem verwilderten Gesicht, das der Alfonso jener wüsten Minuten getragen hatte.

Ihr Bestreben, ihn zu ändern, ihn aus einem Ritter zum Menschen zu machen, war eitel gewesen wie Wellenschlag gegen einen Felsen. Sie grämte sich nicht darum: sie liebte den Ritter. Sein sinnloses Heldentum, sein mageres, knochiges, holzgeschnittenes, männliches Gesicht, die Mischung von Eleganz und Brutalität erregte sie immer neu.

Von allen Büchern des Großen Buches liebte sie jetzt am meisten das Hohelied. Verse daraus ließ sie an der Wand ihres Schlafzimmers anbringen. »Unbesieglich wie der Tod ist die Liebe. Sie hält fest wie das Grab. Ihre Gluten sind wildes Feuer gleich Blitzen Jahves. Fluten löschen sie nicht, Ströme ersticken sie nicht.« Sie übersetzte Alfonso die Verse, er hörte zu, ernsten Gesichtes. Sie mußte ihm die Verse wiederholen, mußte ihm die hebräischen Worte sagen. »Das klingt nicht schlecht«, meinte er, »das ist gut.«

Seitdem sie ihm die arabische Rüstung geschenkt hatte, wußte er, daß sie den Krieger Alfonso liebte. Aber seine Eifersucht auf ihren Vater und den alten Musa ließ ihn spüren, daß ihr Verstand nach wie vor nicht anerkennen wollte, was an ihm gut und heldisch war. Beflissen, fast leidenschaftlich suchte er sich ihr zu erklären. Krieg war göttliches Gebot, der Ruhm des Kriegers das Höchste, was ein Mann erringen konnte. Erst im Kriege kam heraus, was an einem Manne, was an einem Volke gut war. Hatten nicht auch die Juden ihre Simson und Gideon gehabt, ihre David und Juda Makkabäus? Und wie sollte ein König herrschen ohne Krieg? Ein König brauchte treue Gefolgsmänner, sie erwarteten Lohn von ihm, und mit Recht. Er mußte also immer neues Land haben, um ihre Treue zu belohnen, und wo sollte er dieses Land hernehmen, wenn nicht vom Feind? Ein König ist von Gott eingesetzt, um Beute zu machen und sein Land zu mehren. Er, Alfonso, war maßvoll, er war nicht habgierig wie sein Schwiegervater Heinrich von Engelland oder der römische Kaiser Friedrich, er wollte nicht die ganze Welt erobern. Was jenseits der Pyrenäen lag, darauf verzichtete er. Er wollte nur Hispanien, aber das wollte er ganz, das christliche und das moslemische.

Verwegen und verhängnisvoll schien er Raquel. Lockung ging aus und ungeheure Drohung von diesem Abkömmling fränkischer und gotischer Barbaren, der überzeugt war, ihm habe und ihm allein Gott die Herrschaft über die Halbinsel bestimmt.

Er erzählte ihr von der großen, edeln Kunst der Kriegführung. Er hatte sie gründlich und genau erlernt, und wenn er auch bis jetzt kein Alexander oder Cäsar war, zum Feldherrn war er geboren. Er hatte es im Blut, wann man die leichten Reiter einsetzen mußte und wann die schweren, er konnte den Wert des Geländes mit dem ersten Blick abschätzen, er konnte wie kein Zweiter den rechten Hinterhalt finden, dem Gegner aufzulauern. Wenn er nicht immer gesiegt hatte, dann nur, weil ihm eine langweilige Feldherrntugend fehlte: die Geduld.

Wenn er ihr so erzählte, wie viele blutige Gefechte er durchgekämpft hatte und wie viele Feinde er hatte in die Erde beißen machen, dann antwortete sie selten so, wie er’s erwartete. Vielmehr fragte sie etwa: »Wie viele, sagst du? Dreitausend von den andern und zweitausend von den deinen?« Es lag in ihrer Frage nicht eben ein Vorwurf, eher Befremdung, ein schmerzhaftes Staunen. Dann wieder sperrte sie sich zu und versank in eine Einsamkeit, der er sie nicht zu entreißen vermochte. Am schlimmsten war es, wenn sie ihn nur anschaute und schwieg. Es war ein beredtes Schweigen, es kratzte ihn übler als zorniger Widerspruch.

Einmal, da sie so schwieg, sagte er plötzlich feindselig: »Weißt du, wer das Glas deines Amuletts, deiner Mesusa, zerschlagen hat? Ich. Hier mit dieser Hand. Auch die Zisternen deines Rabbi Chanan hab ich zuschütten lassen. Gerade.« Sie erwiderte nichts. Er atmete stark, stand auf, ging ein paar Schritte, kam zurück, setzte sich wieder zu ihr, sprach von anderm. Unterbrach sich. Wollte sich entschuldigen. Sie legte ihm sacht die Hand auf den Mund.

Sosehr Alfonso das Fremde an ihr haßte, er wußte, er war ihr verhaftet, und für immer. »Et nunc et semper et in saecula saeculorum, amen«, sagte er vor sich hin, lästerlich. Er hatte das Heil seiner Seele verspielt; denn er war sich jetzt klar, daß er sie niemals werde bekehren können. Er war es zufrieden. Er gab es auf, aus dem Kreise auszubrechen, in den er sich selber gebannt hatte, er sperrte sich trotzig in seine Sünde ein.

Der Domherr Don Rodrigue sprach nicht mehr mit ihm über die Galiana. Es hätte keinen Sinn gehabt; sie hatten einander gesagt, was ein Mensch einem andern über dergleichen Dinge sagen konnte. Allein wenn auch Alfonso seine Sünde als ein königliches Privileg betrachtete, das kein Priester ihm abstreiten durfte, so bedrückte ihn doch die stumme Trauer des Mannes, der sein Freund war, und er dachte nach, wie er ihm ein Zeichen seiner Liebe und seines Dankes geben könnte.

Über den Kopf des Erzbischofs hinweg erließ er ein Edikt, welches für seine Länder die hispanische Zeitrechnung abschaffte und die römische des übrigen Abendlandes an ihre Stelle setzte.

Don Rodrigue, dankbar und vergnügt inmitten seiner vorwurfsvollen Trübsal, anerkannte: »Das hast du gut gemacht, Don Alfonso.«

Der Erzbischof, da er’s nicht wagte, dem König wegen seines verworfenen Wandels ins Gewissen zu reden, rügte mit um so heftigeren Worten das Edikt über die Briefausfertigung. Er hielt Alfonso vor, er habe ohne Not, lediglich um ein paar Ausländern ein wenig Nachdenken zu sparen, eines der wichtigsten Privilegien der hispanischen Kirche preisgegeben. Keiner seiner Vorfahren hätte ein so edles Gut so leichter Hand weggeworfen. Alfonso wußte, es war nicht das Edikt; es war die Galiana, welche den Erzbischof so heiß eifern machte, und er wies den Tadler streng zurück. Nachdem er, Alfonso, manche unbillige Forderung des Papstes habe ablehnen müssen, freue er sich, wenn er dem Heiligen Vater in einer geringfügigen Sache entgegenkommen könne. Überdies habe Rom recht. Es sei in Wahrheit unchristlicher Stolz, wenn die Spanier die Zeit nach dem größten Ereignis ihrer eigenen Geschichte berechneten; so wichtig es gewesen sei, daß der Kaiser Augustus ihnen das Bürgerrecht verliehen habe, man müsse zugeben, die Geburt Christi sei für die Welt und also auch für die Halbinsel noch bedeutsamer gewesen.

Die Freude Alfonsos über die Genugtuung, die er dem bekümmerten Rodrigue verschafft hatte, hielt nicht lange vor. Die eingesperrte Sünde kratzte. Eines Tages nach der Frühmesse fragte er den überraschten Kaplan der Königsburg: »Sage mir, hochwürdiger Bruder, was ist denn nun eigentlich Sünde?« Der Priester, ein jüngerer Herr, durch die außergewöhnliche Frage Don Alfonsos geschmeichelt, erwiderte: »Erlaube mir, Herr König, dir die Meinung des Heiligen Augustin zu zitieren. Sünde, sagt er, ist das Begehen von Handlungen, von denen der Mensch weiß, daß sie verboten sind, und deren sich zu enthalten ihm frei steht.« – »Ich danke dir, hochwürdiger Bruder«, antwortete der König. Er bedachte lange den Ausspruch des großen Kirchenvaters, dann zuckte er die Achseln und sagte sich, daß er zuletzt ja doch durch den Kreuzzug seiner Sünde ledig sein werde, wenn sie eine Sünde sein sollte.

Wiewohl man den König nicht öffentlich zu beschimpfen wagte, so ging doch viel böses Gerede um. Der Gärtner Belardo erzählte Alfonso, schlechte Leute hießen Unsere Herrin Doña Raquel eine Teufelin und erklärten, sie habe den Herrn König behext.

Das Gerede versteifte nur Alfonsos Willen, für seine Liebe zu Doña Raquel einzustehen. Nun gerade hielt er darauf, daß sie den kurzen Weg von der Galiana ins Castillo Ibn Esra in offener Sänfte zurücklegte. Etliche dann grinsten ihr frech ins Gesicht, und der oder jener rief ihr wohl auch zu: »Du Teufelin, du Hexe.« Aber Raquel sah keineswegs aus wie ein Sendling der Hölle; sie war jetzt weniger knabenhaft, es eignete ihr eine neue, wissende, schicksalsvolle Schönheit, welche alles Volk wahrnahm. Die Schmäher blieben vereinzelt; die meisten fanden es nicht verwunderlich, daß sich der König diese ausnehmend Schöne zur Freundin erlesen hatte, sie fanden es richtig. »Ah, du Schöne«, riefen sie ihr zu, sie hatten ihre Freude an ihr, sie nannten sie nicht anders als La Fermosa, die Schöne, und sie sangen freundliche, gefühlvolle, bewundernde Romanzen über ihre und des Königs Liebe.

Alfonso ließ es sich nicht nehmen, Raquel zuweilen in die Stadt zu begleiten. Er ritt neben ihrer Sänfte, und es mischten sich die Rufe: »Es lebe Alfonso der Edle!« und: »Es lebe die Schöne!«

Gerade die Hochrufe des Volkes machten Raquel bewußt, daß sie die Barragana des Königs war, sein Kebsweib. Sie schämte sich dessen nicht.

Alfonso spann sich immer tiefer in das Leben in der Galiana ein. Er war überzeugt, Gott habe ihn in seine besondere Hut genommen, und jeder Umweg, den die Vorsehung ihn machen lasse, werde ihn zuletzt zum rechten Ziele führen.

Er scheute sich nun nicht mehr, Staatsgeschäfte in der Galiana zu erledigen. Die meisten seiner Granden hielten es für einen Gnadenbeweis und für eine Auszeichnung, wenn er sie in die Galiana berief. Es kam wohl vor, daß einer leise befremdet vor der Mesusa stehenblieb. Alfonso gab dann lächelnd Bescheid: »Das ist ein gutes Amulett. Es hilft gegen den bösen Blick und verhindert, daß man mich übers Ohr haut.«

Etliche der Herren erfanden aber eine durchsichtige Ausrede und blieben der Galiana fern. Alfonso merkte sich ihre Namen.

In einem sachlich freundlichen Schreiben teilte Doña Leonor dem König mit, Don Pedro habe sie besucht, und sie glaube, daß allen Hindernissen zum Trotz eine Allianz mit Aragon und also der Feldzug gegen die Ungläubigen möglich sei. Sie käme gerne selber nach Toledo, mit Alfonso zu beraten; doch verbiete ihr eine Erkrankung des Infanten Enrique ihre Entfernung von Burgos. Sie bitte deshalb Alfonso, unverzüglich zu ihr zu kommen.

Der König erkannte sogleich, daß nun die Begegnung mit Doña Leonor nicht länger aufgeschoben werden konnte. Doch tröstete er sich damit, daß vor so wichtigen Staatsgeschäften persönliche Zwistigkeiten ihre Bedeutung verlören, so also, daß das Wiedersehen mit Leonor weniger peinlich sein werde.

Er teilte Don Jehuda mit, er werde in zwei Tagen nach Burgos reiten.

Er war jetzt oft mit seinem Escrivano zusammen, die beiden fühlten sich seltsam verknüpft. Der König brauchte die Schlauheit seines Juden. Er sehnte sich danach, seinen Heiligen Krieg zu beginnen, doch wollte er sich nicht zu neuen Voreiligkeiten verleiten lassen und hörte gerne die Einwände seines Juden. Jehuda seinesteils kannte den König besser als dieser sich selber. Er wußte, Alfonso konnte sich nicht losreißen von der Galiana und hieß es in seinem Innern wissentlich unwissentlich willkommen, wenn Jehuda das Bündnis mit Aragon und den Feldzug vereitelte. Er, Jehuda, war, seitdem er von Alfonso die Zulassung der fränkischen Flüchtlinge erreicht hatte, gewiß, ihn fest in der Hand zu halten, und freute sich seiner Macht, diesem barbarischen Fürsten Atem und Sinn einzublasen wie Gott dem Adam.

Es überraschte ihn nicht, als er jetzt von der bevorstehenden Abreise Alfonsos hörte. Er war von seinem Vetter Don Joseph unterrichtet über die Verhandlungen der Königin mit Aragon. Die Dame war klug, aber er fühlte sich ihr gewachsen und hatte Gegenzüge vorbereitet.

Er fürchte, antwortete er Alfonso, die Frau Königin könnte, verführt von ihren Wünschen, die Schwierigkeiten der Allianz mit Aragon unterschätzen. Es möge deshalb der Herr König den edeln Don Manrique und ihn selber mit nach Burgos nehmen, so daß sie mit ihren bescheidenen Kräften die Bestrebungen Doña Leonors unterstützen könnten.

Alfonso war verwirrt. Die Begleitung seiner Herren war ihm willkommen. Wenn er mit Räten und großem Gefolge in Burgos erschien, verlor die Zusammenkunft mit Doña Leonor vollends den Charakter einer ehelichen Auseinandersetzung; auch war es ihm lieb, ihre Ansichten an den Meinungen seiner Räte prüfen zu können. Aber wie wird Leonor es aufnehmen, wenn er den Vater seiner Liebsten mitbringt?

»Sollen wir Doña Raquel ganz allein hier lassen?« fragte er ungeschickt. Diese Rücksicht erfreute Jehuda und brachte ihm den König viel näher. Doña Raquel, erwiderte er mit ehrerbietiger Vertraulichkeit, könne die Zeit im Castillo Ibn Esra verbringen. Dort habe sie die Gesellschaft des weisen Musa Ibn Da’ud; auch dürfte wohl der ehrwürdige Don Rodrigue mehrmals vorsprechen.

Doña Leonor empfing den König so freundlich unbefangen, als hätte er sich gestern von ihr verabschiedet. Er umarmte und küßte sie, wie die Courtoisie es verlangte. Er begrüßte seine Kinder. Streichelte den blassen, kleinen Infanten, an dessen Krankheit er nicht glaubte. Sprach munter zärtlich mit der zurückhaltenden Prinzessin Berengaria, die offenbar um sein Leben in der Galiana wußte und es mißbilligte. Sie gab sich stolz und zeremoniös. Der Besuch Don Pedros hatte neue Hoffnungen in ihr angefacht, wiewohl sie wußte, daß sie ohne Anwartschaft auf die Krone Kastiliens keine begehrenswerte Königin Aragons war.

Doña Leonor hatte auch Don Pedro nach Burgos eingeladen. Aber der junge König konnte seine Erbitterung gegen Alfonso nicht besiegen; statt selber zu kommen, hatte er seinen Minister Don Joseph Ibn Esra geschickt.

Die beiden Ibn Esras trafen sich noch vor dem Kronrat, der bei Doña Leonor stattfinden sollte. Don Josephs Abneigung gegen den überheblichen Verwandten war gewachsen. Er hatte Zorn und Trauer verspürt, als dieser Don Jehuda die Tochter preisgab, um sich den König enger zu verknüpfen. Er selber hatte gottesfürchtig und mildtätig einer kleinen Anzahl fränkischer Juden Zulaß in seinem Aragon verschafft; sie in Massen im Sepharad anzusiedeln, wie Don Jehuda es wollte, hielt er aus den gleichen Gründen wie Don Ephraim für bedenklich, und daß Jehuda die Neigung Alfonsos zu seiner Tochter benutzte, um die Geschicke des Landes und der Judenheit zu lenken, schien ihm ein vermessenes, gotteslästerliches Spiel. Nach wie vor aber einigte ihn mit Jehuda das Bestreben, der Halbinsel und ihren Juden den Krieg fernzuhalten. Darum hatte er den Vetter vor den Kabalen Doña Leonors gewarnt, und darum kam er jetzt mit ihm zusammen.

»Laß mich dir auch mündlich danken, Don Joseph«, begann Jehuda, »für deine Briefe. Ich habe daraus ersehen, daß ihr eine Formel gefunden habt, die Allianz und einen einheitlichen Oberbefehl zu ermöglichen.« – »Ja«, antwortete Don Joseph trocken, »der Krieg gegen die Moslems ist in furchtbar nahe Nähe gerückt. Deine Doña Leonor hat erstaunlich viel List und Energie aufgewandt, um meinem jungen Herrn ihre Versöhnungsvorschläge schmackhaft zu machen.« Er sah ihm streng ins Gesicht und fuhr mit Bedeutung fort: »Es ist wohl nicht die Lust am Krieg allein, Don Jehuda, welche deine Königin zu so großmütigen Angeboten treibt.« Und nun, nicht ohne Genugtuung, eröffnete er ihm, was er ihm brieflich nicht mitgeteilt hatte: »Doña Leonor will dem Castro zur Buße für die Tötung seines Bruders dein Castillo zurückgeben.«

Jehuda konnte nicht verhindern, daß er erblaßte. Die Vorstellung, daß er das Haus der Väter wieder sollte verlassen müssen, zerdrückte ihm das Herz. Aber sogleich tröstete er sich stolz; er hatte sich in Toledo ein schöneres, stärkeres, freilich unsichtbares Schloß errichtet, als irgendein noch so prächtiger Bau aus Stein es war. Ruhig erwiderte er: »Ich verzichte nicht gerne auf dieses Haus aus Gründen, die du kennst, Don Joseph. Aber wenn meine Königin es Aragon zugesagt hat, dann soll an meinem Widerspruch das Bündnis nicht scheitern.«

Don Joseph war überrascht; Jehuda war offenbar gewiß, daß er das Castillo nicht werde hergeben müssen, sonst spräche er nicht mit solcher Gelassenheit.

Jehuda hatte denn auch sein ganzes Selbstvertrauen wiedergefunden, jenes Gefühl frecher Sicherheit, welches ihn alle diese Tage her erfüllt hatte. Gerade jetzt, während er sprach, hatte er einen Einfall, der List Doña Leonors mit besserer List zu begegnen. Noch sah er seinen Plan nur in vagen Umrissen, aber er war überzeugt, daß er zur rechten Zeit feste Form haben werde.

Sogleich legte er das Fundament. Sachlich, mit der Bedenklichkeit des Geschäftsmannes, meinte er: »Ich hoffe nur, daß eure Einigungsformel auch einer scharfen Prüfung standhält, wie wir, du und ich, sie wohl vornehmen müssen. Ich sehe da, offen gestanden, noch manche Schwierigkeiten«, und er zählte die vielen wirtschaftlichen Fragen auf, über welche sich Aragon und Kastilien seit Jahrzehnten nicht hatten einigen können. Da waren strittige Steuerrechte an gewissen Städten, strittige Einfuhr- und Ausfuhrzölle, strittige Marktgerechtsame. »Wenn ich dir in allen diesen Fragen nachgeben soll, Don Joseph«, sagte er schlau und jovial, »dann würde ja dein Aragon mein Kastilien in kürzester Zeit überflügeln.«

Don Joseph begriff sofort, wohinaus Jehuda wollte. Die wirtschaftlichen Streitfragen waren unübersichtlich; an ihnen konnte man mit einigem Geschick die Allianz scheitern lassen. Nicht ohne innere Anerkennung der Schlauheit Jehudas ging er auf seine Absicht ein und erklärte mit der gleichen geschäftsmännisch zwinkernden Munterkeit: »Nachdem mein König die Kränkung vergessen will, die ihr ihm damals angetan habt, könntet ihr ihm eigentlich in Fragen der Wirtschaft entgegenkommen.« – »Du würdest also auf allen euern Forderungen bestehen?« stellte Jehuda fest. »Das müßte ich doch wohl«, entgegnete Don Joseph, und: »Gewiß werde ich das«, erklärte er mit gespielter Festigkeit. Don Jehuda, ernst und betrübt, gab zurück: »Mein König wünscht sicherlich nicht weniger herzlich als der deine, den Krieg gegen die Moslems zu beginnen, aber wenn ihr so unnachgiebig seid, dann, fürchte ich, wird aus der Allianz nichts werden.«

»Es täte mir leid, Don Jehuda«, sagte Joseph, »wenn wir uns wirklich nicht sollten einigen können.« Und die beiden Herren schauten einander an, ohne zu lächeln.

Die Curia, in welcher über die Allianz mit Aragon beraten werden sollte, fand in dem großen Empfangssaal der Burg statt. Der Saal war geschmückt mit den Fahnen Kastiliens und Toledos, Wachen standen am Eingang, erhöhte Stühle waren bereit für Don Alfonso und Doña Leonor. Der Erzbischof hatte sich’s nicht nehmen lassen, aus Toledo herzukommen. Von den Mitgliedern der Curia fehlte nur Don Rodrigue.

Königlich in ihrem schweren, prunkenden Staatskleid und dennoch anmutig saß Doña Leonor auf dem erhöhten Stuhl. Freundlich, damenhaft gelassen schaute sie über den Kreis der Herren. Sie war voll inneren Triumphes. Alle, die hier saßen, waren fest entschlossen, Don Alfonso aus der verpesteten Galiana in die freie Luft des Heiligen Krieges zu retten. Alfonso selber wollte es. Der einzige Feind war der Jude. Es war eine Unverschämtheit gewesen, daß er Alfonso seine Begleitung aufgedrängt hatte; aber sie hatte sich vorgesehen, er wird nicht gegen sie aufkommen.

Don Manrique berichtete. Die Verhandlungen waren weit gediehen, sogar der Heilige Vater wußte darum, und ein Legat, Kardinal Gregor von Sant’ Angelo, war unterwegs, damit er helfe, den Zwist der Könige beizulegen. »Wer hat den Papst von den Verhandlungen unterrichtet?« fragte finster Don Alfonso. »Don Pedro?« – »Ich habe ihn benachrichtigt«, sagte freundlich Doña Leonor.

Don Manrique legte die Klauseln des Pakt-Entwurfes dar. Die Armeen der beiden Länder sollten einer einheitlichen Führung unterstellt werden. Kastilische Ritter sollten in den Stab des aragonischen Heeres eingereiht werden, aragonische in den Stab des kastilischen. Don Pedro verpflichtete sich, den Rat Don Alfonsos mit der Aufmerksamkeit anzuhören, die der jüngere Ritter dem älteren schulde. »Anzuhören?« fragte Don Alfonso. »Anzuhören«, bestätigte Don Manrique. »Eine deutlichere Formulierung habt ihr nicht durchsetzen können?« fragte Alfonso. »Nein«, antwortete Doña Leonor.

Niemand sprach. »Welche weiteren Klauseln sieht der Vertrag vor?« fragte der König. Aragon stelle, erklärte Don Manrique, drei Hauptbedingungen. Zum ersten solle Kastilien auf die Lehnsherrschaft über Aragon verzichten. Wiewohl Alfonso von dieser Bedingung wußte, konnte er einen Laut des Unmuts nicht unterdrücken. »Zum zweiten«, fuhr Manrique fort, »verlangt Aragon, daß die Ansprüche seines Vasallen Gutierre de Castro auf Wiedergutmachung erfüllt werden.« Von dieser Forderung hatte man Alfonso nicht gesprochen. Er richtete sich halb hoch und schaute von Manrique auf Leonor. »Ich soll dem Castro Buße zahlen?« fragte er leise, gefährlich. »Von Buße ist nicht die Rede«, beschwichtigte Manrique. »Das Wort Buße ist vermieden.« – »Er weiß meine Notlage auszunützen, dieser Fant Pedro«, sagte bitter der König. »Er steckt sich hinter den Castro, um mich zu demütigen. Und Rom schickt seinen Kardinal, daß er Zeuge meiner Schande sei.« – »Es ist keine Schande«, sagte freundlich mit ihrer hellen Stimme Doña Leonor, »Opfer zu bringen, um den Heiligen Krieg zu ermöglichen. Eine Schande wäre es, wenn wir den Kardinal unverrichteterdinge zurückschickten. Dann würde, und mit Recht, die ganze Christenheit dem tatenlosen Don Alfonso ihr Hui und Pfui nachrufen.«

Die Herren saßen erschreckt. Schlaff hingen von ihren Stangen die Banner Kastiliens und Toledos. Blaß, voll maßlosen Zornes, starrte Alfonso auf Doña Leonor. Mit keinem Worte hatte sie ihm, solange sie mit ihm allein war, die Galiana vorgeworfen; kalt und rechenhaft hatte sie bis zu diesem Kronrat gewartet, um ihm hier vor seinen Räten, vor seinen nächsten Freunden, vor seinen Fahnen ins Gesicht zu schmeißen, was sie Schimpfliches von ihm dachte, hier, jetzt, ausgeklügelt rachsüchtig, in Wahrheit ihrer wilden Mutter Kind.

Aber Doña Leonor senkte nicht die großen, grünen Augen vor dem gewittrigen Schein, der von ihm ausging, nicht einmal das leise, unbestimmte Lächeln wich von ihrem stillen Gesicht. Mit Mühe zwang er seinen Zorn nieder. Er konnte nicht vor seinen Herren mit ihr hadern, und er wußte, da war niemand, der ihm recht gab – nicht einmal der Jude.

»Welche Buße verlangt der Castro von mir?« fragte er heiser. An Stelle Manriques antwortete Doña Leonor. »Die Forderungen sind peinlich«, sagte sie, »doch im Grunde nicht unbillig. Wir sollen ihm das verlangte Lösegeld zahlen für die Gefangenen von Cuenca, und wir sollen ihm sein Castillo in Toledo zurückgeben.« Wiederum war tiefes Schweigen, man hörte nur das starke Atmen Don Alfonsos. Es war vielleicht nicht ziemlich, aber alle schauten, gierig fast, auf Don Jehuda.

Der Erzbischof – er saß dem Juden so fern wie möglich und hatte ihn auch nicht begrüßt – nahm jetzt das Wort, seine Stimme hallte in dem weiten Raum wider. »Er tritt deiner Ehre sehr nahe, Herr König«, sagte er, »aber der Heilige Krieg wird viele Erniedrigungen fortwischen.«

Doña Leonor wandte sich freundlich an Jehuda. »Was ist dein Rat, Herr Escrivano?« fragte sie. »Mich dünkt«, antwortete Jehuda, »der rebellische Baron mutet der Majestät des Königs sehr viel zu. Aber ich bin nicht bewandert in Dingen der Ehre, und der hochwürdige Herr Erzbischof versichert, daß das große Ziel des Heiligen Krieges die Demütigung wert ist. Was mich selber anlangt, so verliere ich nur mit Schmerz das Haus meiner Väter, das ich durch die Gnade Gottes und die des Herrn Königs und um einen zureichenden Preis zurückerwarb und das meinem Herzen große Freude ist. Aber meine eigenen Wünsche und Eitelkeiten und meine Würde müssen wohl zurückstehen, wenn es um das hohe Ziel des Königs Unseres Herrn geht. Bereitwillig, Herr König, gebe ich, wenn dadurch die Allianz und der Kreuzzug ermöglicht wird, das Castillo Ibn Esra in deine Hände zurück mit allem, was ich zugebaut und eingebaut habe, und zur Hälfte des Preises, den ich deinem Schatze zahlte.« Er hatte diese Rede gut vorbereitet, doch konnte er ein leises Lispeln nicht verhindern.

Keiner hatte erwartet, daß der Mann seinen kostbarsten Besitz so kurzerhand aufgeben werde. Alfonso schaute erstaunt auf seinen Escrivano, selbst Doña Leonor konnte die freundlich damenhafte Miene nur schwer festhalten. Welche Tücke verbarg der Mensch hinter so viel Verzicht?

Der junge Garcerán de Lara riß sich als erster aus der Verblüffung. »Nun also«, sagte er fröhlich, »dann können wir ja übermorgen zu Felde ziehen.«

Aber: »Sprachst du nicht noch von einer dritten Bedingung Aragons, edler Don Manrique?« fragte bescheiden Jehuda. »Ja«, antwortete Manrique, »doch ist das wohl ein Punkt ohne viel Belang. Aragon wünscht noch Konzessionen in jenen alten Streitigkeiten um die gewissen Zölle, Marktrechte, verpfändeten Städte und ähnlichen Kleinkram.«

Jehuda hatte mit innerem Jubel wahrgenommen, welch tiefe Wirkung sein schneller Verzicht auf das Castillo getan hatte. Da saßen sie rings um ihn, die Feinde, die ihren Krieg haben und alles niederreißen wollten, was er mit so viel Klugheit und mit dem Segen Gottes aufgebaut hatte. Aber sie werden ihren Krieg nicht haben, diese da, die Ritter, die Dummköpfe, und er wird sein Castillo behalten. Er hatte seinen Plan mittlerweile gut ausgebaut in allen Einzelheiten, er fühlte sich sicher, Glück war eine Eigenschaft, und ihm hatte Gott diese Eigenschaft verliehen. Wie ein Jäger, der seine Hunde neckt, fühlte er sich den andern überlegen.

»Hast du ein Verzeichnis der verlangten Konzessionen, Don Manrique?« fragte er. Manrique reichte ihm das Schriftstück, Jehuda überflog es. »So harmlos, wie sie ausschauen«, meinte er, »sind sie wohl nicht, diese neunzehn Punkte. Da sollen wir zum Beispiel auf die Einkünfte der Stadt Logroño verzichten. Logroño ist zum Zentrum unseres Weinhandels geworden, wir haben der Stadt Logroño und der Landschaft Rioja die Steuern von drei Jahren erlassen, um diesen Weinhandel zu fördern.« – »Wenn ich den Juden recht verstehe«, sagte verächtlich der Erzbischof, »dann jammert er, daß während des Heiligen Krieges die Einnahmen des Kronschatzes vielleicht etwas magerer ausfallen. Wahrscheinlich hat er damit recht. Aber wer das Gelobte Land erobern will, darf die Wanderung durch die Wüste nicht scheuen und darf nicht jammern nach den Fleischtöpfen Ägyptens.«

Jehuda erwiderte nichts. Er wandte sich an den König: »Deine Wirtschaft, Herr König, hat in diesen letzten Jahren die Wirtschaft Aragons eingeholt. Viele der Unternehmungen, die wir in dieser Zeit gegründet haben, versprechen höchste Blüte. Die Nutznießung gerade dieser Unternehmungen aber spricht der schlaue Pakt, den die Räte des erlauchten Don Pedro ausgeheckt haben, dem Königreich Aragon zu. Es ist ein gefährlicher Handel, den man dir vorschlägt, Herr König. Gibst du in diesen neunzehn Punkten nach, dann wird in wenigen Jahren Aragon einen entscheidenden Vorsprung vor Kastilien haben. König Pedro hat einen sehr fähigen Schatzmeister. Wir werden Aragon auf die Dauer nicht gewachsen sein, wenn du diese Bedingungen annimmst.«

Keiner wußte was Rechtes zu erwidern. Don Martín grollte: »Sollen wir wegen des Weinhandels von Logroño Christus verraten?« – »Don Pedro ist nicht geldgierig«, sagte Doña Leonor. »Da wir ihm die Forderungen zugestanden haben, die ihm am Herzen liegen, wird er nicht um kleinen Gewinn feilschen.« – »Verzeih, Frau Königin«, antwortete ehrerbietig Don Jehuda, »es geht nicht um kleinen Gewinn, es geht um die Vormacht auf dieser Halbinsel. Die beiden Länder haben sich nicht aus purer Zanksucht Jahrzehnte hindurch um diese Rechte gestritten. Ich fürchte, man wird sich nicht von heute auf morgen mit Aragon verständigen können.«

Hilflos saßen die Herren. Die Streitfragen, um die es ging, waren undurchsichtig, vielleicht wollte man in der Tat Kastilien um bedeutsame Privilegien bringen; mehr wahrscheinlich war, daß die beiden jüdischen Minister zettelten, um den guten Krieg zu hintertreiben.

Alfonso war ebenso überrascht und verwirrt wie die andern. Es war ihm lieb, daß er einen Grund hatte, den Demütigungen auszuweichen, die Doña Leonor und der Fant Pedro ihm aufzwingen wollten. Und beglückend war die Aussicht, noch eine lange Zeit mit Raquel zusammenzubleiben. Vermutlich auch hatte der Jude recht, und er gäbe, wenn er dem Fant Pedro diese Zölle und das andere läppische Zeug zugestand, wirklich die Vormacht in Hispanien preis, das Erbe seines Sohnes. Aber in seinem Heimlichsten argwöhnte er wie die andern, Jehuda wolle ihn um seinen Krieg betrügen.

Da sich ihm Freude und Schuldgefühl so wunderlich mischten, fuhr er Jehuda barsch an: »Sollen wir weitere Monate, vielleicht Jahre verhandeln, weil ihr euch nicht einigen könnt, du und dein Vetter?« Und: »Was schlägst du vor?« fragte er grob.

Jehuda, der die Antwort auf eine solche Frage durchgedacht hatte, erwiderte. »Der Handel ist schwierig und eine billige Lösung hart zu finden. Wie wäre es, wenn man einen unparteiischen Schiedsrichter von unbestreitbarem Ansehen anriefe?« Niemand wußte, wohinaus der Jude wollte. Der Erzbischof indes rief plötzlich begeistert: »Ja! Wenden wir uns an den Heiligen Vater! Der Kardinallegat ist ohnehin auf dem Wege.« – »In diesen sehr weltlichen Fragen«, wandte bescheiden der Jude ein, »sollte vielleicht eine weltliche Autorität entscheiden. Die Fürsten könnten den erlauchten Vater der Frau Königin um einen Schiedsspruch angehen. Es ist eine heikle Aufgabe, aber der Herr König von Engelland wird in Ansehung des Heiligen Krieges und des Gottesfriedens schwerlich ablehnen.«

Der Vorschlag Jehudas schien Hand und Fuß zu haben. König Heinrich war verwandt mit dem Hause Aragon und mit dem Hause Kastilien, er kannte genau die Verhältnisse, er war berühmt um seiner Staatsklugheit willen, von ihm war ein billiges Urteil zu erwarten. Trotzdem waren, da der Vorschlag von Jehuda kam, alle mißtrauisch.

Doña Leonor war sicher: was der Jude da vorbrachte, hatte mit seinen wahren, verzwickten und tückischen Überlegungen so wenig zu tun wie die gekräuselte Oberfläche des Meeres mit seinem ewig stillen Grund. Schnell und argwöhnisch versuchte sie, seine wirkliche Absicht zu entdecken. Ihr Vater Heinrich, der seine eigene Teilnahme am Kreuzzug immer weiter hinausschob, begriff bestimmt die Vorteile, die Hispanien aus der Neutralität zog. Auch erwog er bestimmt, daß die spanischen Könige, wenn sie den frommen Krieg gegen ihre Moslems begännen, ihn um militärische Hilfe angehen würden, und er war kein Mann, der gerne gab. König Heinrich hatte also keine Ursache, eine Versöhnung Kastiliens mit Aragon zu beschleunigen, er wird sich vielmehr lang und länger bedenken und seinen Schiedsspruch schließlich so halten, daß er niemand befriedigt. Es war eine böse List, die sich der Jude ausgedacht hatte. In rasender Schnelligkeit überlegte sie, wie sie seinen Plan vereiteln könnte. Sie wird nach Saragossa reisen und Don Pedro bereden, sich von seinem Juden nicht beschwatzen zu lassen. Sie wird ihrem Vater in einem vertraulichen Schreiben ihre ganze Not dartun und ihn anflehen, seinen Spruch zu beschleunigen. Aber ach, die Majestät von Engelland hatte ja selber so manche unheilige Leidenschaft gespürt und genossen; wenn irgend jemand, dann hatte ihr Vater Heinrich Verständnis für die wüsten Freuden und Sorgen Alfonsos. Voll von Bitterkeit sah Leonor ein, daß sie gegen die Schlauheit des Ibn Esra nicht aufkam.

Auch Alfonso mit seiner raschen Vernunft durchschaute seinen Don Jehuda. Es war so, wie er’s von Anfang an geargwöhnt hatte: der Jude wollte den Heiligen Krieg hintertreiben, schon um der Flüchtlinge willen, die er ins Land zog. Aber er soll sich verrechnet haben, dachte Alfonso. Ich werde nicht mit Pedro um den Kleinkram herumfeilschen. Ich werde nicht Vater Heinrich anrufen, daß er mir zuzwinkert: Gönnen wir dem Jungen sein Bettspiel und Vergnügen. Ich werde mich von dem Juden nicht hereinlegen lassen. Ich werde nicht die Liebe Raquels bezahlen mit faulem Verhandeln und Verhindern.

So fühlte und dachte Alfonso in der kurzen Stummheit, die der Rede des Juden folgte.

Dann, vor sich selber erschauernd, hörte er sich sagen: »Was meinst du, Doña Leonor, und ihr, Herren? Mir scheint, da hat unser Escrivano einen guten Ausweg gefunden. Schwerlich gibt es in aller Christenheit für einen so verflochtenen Handel einen besseren Richter als den weisen und erlauchten Vater Unserer Königin. Ich denke, Don Jehuda, wir werden es machen, wie du es vorschlägst.«

Fünftes Kapitel

Um sicherzugehen, setzte Jehuda seinem Geschäftsfreund Aaron von Lincoln, dem Finanzberater König Heinrichs von Engelland, in einem vertraulichen Schreiben auseinander, worum es sich bei den Zwistigkeiten der beiden hispanischen Könige handelte, und bat ihn um seine Hilfe.

Dann, vor seiner Rückkehr nach Toledo, schickte er, wie es guter Anstand erforderte, der Königin Geschenke. Unverschämt kostbare Geschenke, edle Parfums, einen großen, elfenbeinernen Toilettekasten mit Kämmen, Haarfibeln und Schminken, dazu eine wunderbar gearbeitete Truhe mit Broschen, Ringen, Agraffen, Edelsteinen; auch Schuhe, auf denen kleine Spiegel angebracht waren, so daß die Trägerin jederzeit ihr Aussehen nachprüfen konnte. Doña Leonor war empört über die Dreistigkeit des Menschen, der ihr zum Trost für die Niederlage, die er ihr bereitet hatte, so kostbaren Tand übersandte; sie hatte Lust, die Geschenke zurückzuschicken. Aber sie hatte sich bis jetzt damenhaft bewährt, sie wird auch weiter Dame bleiben. Überdies gefielen ihr die Geschenke. Sie behielt sie und schrieb einen Dankbrief.

Mittlerweile waren in Kastilien die ersten jüdischen Flüchtlinge aus Francien angekommen, und wie es Don Ephraim vorausgesagt hatte, bot ihre Ankunft dem Erzbischof und den feindlichen Granden willkommenen Anlaß zu neuen Hetzreden. Der Jude, erklärten sie, rüste mit den Erträgnissen des Saladins-Zehnten nicht den Heiligen Krieg, er verwende die Gelder, neue Scharen von Ungläubigen und Betrügern im Lande anzusiedeln.

Die Schmähreden verfingen nicht. Konnte man doch die Erfolge der neuen Verwaltung mit Händen greifen. Der Reichtum des Landes wuchs und kam einem jeden zugute. Man hatte mehr Geld als vorher, Waren strömten ein, die man bisher nicht gekannt hatte; neue Pflanzungen, Werkstätten, Kaufläden entstanden. Was Jehuda anrührte, gedieh.

Um diese Zeit kam zu ihm ein Gelehrter aus der navarresischen Stadt Tudela, ein gewisser Rabbi Benjamín, ein Mann von hohem Ansehen. Dieser Benjamín von Tudela hatte sein Leben der Wissenschaft gewidmet, der Länderkunde und Erdbeschreibung. Er hatte soeben erst eine zweite große Forschungsreise beendet, die ihn aus diesem westlichsten Teil der Welt bis an ihre östliche Grenze geführt hatte, bis nach China und Tibet. Er hatte vor allem die Verhältnisse der Juden in ihrer Zerstreuung studiert, doch hatte er darüber hinaus nützliche Kenntnisse aller Art gesammelt und war überall mit den führenden Männern zusammengekommen, auch mit Sultan Saladin und mit dem Papst. Nun hatte er sich darangemacht, die Ergebnisse seiner Reisen in einem Buch niederzulegen. Masseot Benjamín, die Reisen des Benjamín, sollte das Buch heißen, und mehrere junge Gelehrte aus der Akademie des Don Rodrigue hatten ihm zugesagt, es auch ins Lateinische und ins Arabische zu übersetzen.

Nun also machte dieser Benjamín von Tudela Unserm Herrn und Lehrer Jehuda Ibn Esra seine Aufwartung; er wollte es nicht versäumen, den Mann kennenzulernen, der in den Jahren seiner Abwesenheit das Gesicht der Halbinsel so segensreich verändert hatte. Jehuda erwies dem berühmten Forscher viel Ehre. Er zeigte ihm die Bibliothek mit ihren kostbaren Büchern und Rollen, er zeigte ihm die Synagoge, die im Bau war, und führte ihn in Fabriken, die er gegründet hatte. Rabbi Benjamín sah und hörte mit kennerischer Teilnahme.

Bei Tische, in Gegenwart Musas, berichtete Rabbi Benjamín von seinen Reisen. Auf Fragen Don Jehudas erzählte er von den Juden des Ostens. Im griechischen Kaiserreich und im Heiligen Land hatten die Juden unter den Kreuzzügen zu leiden, aber in Kairo und in Bagdad lebten sie in Frieden und hohem Wohlstand. Er erzählte von dem Resch-Galuta, dem Exilarchen, dem Fürsten der östlichen Judenheit. Er residierte in Bagdad und war von dem Kalifen anerkannt als Führer der Juden. Er war befugt, seine Glaubensbrüder »mit Stock und Geißel« zu regieren, er hatte Steuerhoheit, Gerichtsbarkeit und jegliche Macht über die Juden von Babel, Persien, Jemen, Armenien, über die Juden des Zwischenstromlandes und des Kaukasus; bis zur Grenze von Tibet und Indien hatte er Macht. Als der Kalif den jetzt regierenden Resch-Galuta, Unsern Herrn und Lehrer Daniel Ben Chasdai, in sein Amt einsetzte, hatte er vor allem Volk mit lauter Stimme erklärt: »Ich bin Nachfolger des Propheten Mohammed, dieser mein großer Freund ist Nachfolger des Königs David.« Der Resch-Galuta genoß höchstes Ansehen auch unter den Moslems. Wenn er ausfuhr, riefen Läufer vor ihm her: »Macht Platz Unserm Herrn, dem Sohne Davids!«, und alles Volk warf sich nieder wie vor dem Kalifen selber.

Die farbige Schilderung machte Jehuda Eindruck. Benjamín aber fuhr fort: »Der Resch-Galuta hat übrigens auch von dir gesprochen, Don Jehuda. Man weiß auch im Osten, daß du deine hohe Stellung in Sevilla aufgegeben hast, um von Toledo aus deinen Brüdern zu helfen.« Und er schloß: »Da reise ich dreizehn Jahre durch die ganze Welt, und zurückgekehrt finde ich ihre beste Sehenswürdigkeit in nächster Nähe.« Und diese Worte Rabbi Benjamíns, der unabhängig war und keine Ursache hatte zu schmeicheln, durchrieselten Jehuda warm, und daß sie in Gegenwart seines Freundes Musa gesprochen wurden, erhöhte seine Freude.

Er fühlte sich jetzt als ein Oker Harim, als ein Mann, der Berge entwurzeln konnte, und scheute sich nicht, seine Macht bedenkenlos zu gebrauchen. Er traf, da der König länger in Burgos blieb, als man erwartet hatte, selbstherrlich gefährliche Verfügungen. Zum Ärger der feindlichen Prälaten und Barone betraute er mehrere der fränkischen Flüchtlinge mit einträglichen Posten; einen gewissen Nathan aus Nemours, der früher schon Kastilien bereist hatte, ernannte er zum Baile, zum Vogt von Zurita.

Das Purimfest kam heran, der Tag, an welchem die Juden die Errettung aus schwerster Not durch die Königin Esther feierten. Es hatte nämlich der Bösewicht Haman, der Günstling des Königs Ahasver, sämtliche Juden der Stadt Susa und des persischen Reiches ausrotten wollen, weil der Jude Mardochai seine Eitelkeit verletzt hatte. Des Mardochai Nichte und Mündel aber, das Mädchen Hadassa, genannt Esther, hatte Gnade gefunden in den Augen des Königs, er hatte sie zu seiner Königin gemacht, und angeleitet von ihrem Oheim Mardochai, unternahm sie es, die Pläne des Haman zu vereiteln. Wiewohl bei Strafe des Todes niemand ungerufen vor das Angesicht des Herrschers treten durfte, trat sie vor Ahasver hin und bat für ihr Volk. Und der König, gerührt von ihrer Schönheit und Klugheit, senkte das Zepter, begnadigte sie und ihr Volk und gab den Bösewicht Haman in die Hand der Juden. Die aber hängten ihn an eben den Galgen, an den er Mardochai hatte hängen wollen, sie hängten auch seine zehn Söhne und erschlugen alle ihre Feinde in den hundertsiebenundzwanzig Ländern, welche dem König Ahasver untertan waren.

Es gibt im jüdischen Festkalender Tage, die an größere Ereignisse erinnern, aber keinen feiern die rechtgläubigen Juden mit so ausgelassener Freude wie diesen Gedächtnistag. Sie halten üppige Festmähler, schicken einander Geschenke, spenden reichlich den Armen, veranstalten Schaustellungen, Tänze und Glücksspiele. Vor allem aber verlesen sie mit Gesten des Triumphs und mit lustigem Lärm das Buch, in welchem die Ereignisse dieser wunderbaren Errettung aufgezeichnet sind, das Buch Esther.

Auch Don Jehuda, der festfreudige, versammelte in diesen Tagen in seinem Castillo viele Gäste, um mit ihnen die farbige Geschichte des Buches Esther zu hören, mit ihnen zu essen und zu trinken, Spiele anzuschauen und sich an gescheiten und närrischen Reden zu ergötzen.

Stattgefunden haben mochten die märchenhaften Ereignisse, von denen das Buch Esther berichtet, um 3400 nach Erschaffung der Welt, man zählte jetzt das Jahr 4950, und Jahr um Jahr hatten sich Zehntausende, Hunderttausende von Juden an der Geschichte erbaut. Aber in all dieser Zeit hatten wohl nur wenige eine so stolze Freude daran gehabt wie jetzt Don Jehuda. Die Prüfungen und die Siege Mardochais und Esthers waren die seinen und die seiner Raquel. Wer konnte so innig wie er mitspüren den Mut und die Todesnot der Esther, da sie vor den König tritt? Wer wie er mitgenießen den Herzensjubel des Mardochai, da ihn der Feind Haman auf dem Rosse des Königs durch die Stadt führen muß, ausrufend: »So geschieht dem Manne, den der König ehren will!«? Und als man am Ende des Buches angelangt war, da der König den Mardochai zu seinem Siegelbewahrer macht, spürte Jehuda voll von Triumph das Wappensiegel auf seiner Brust und schaute befriedigt auf die drei fränkischen Flüchtlinge, die er zur Feier dieses Tages in sein Haus geladen hatte.

Die Studenten der Jeschiwa, der Bibel- und Talmudschule, unter ihnen Don Benjamín Bar Abba, parodierten jetzt, wie es der Brauch dieses Tages war, ihre Lehrer und fragten einander allerlei spitzfindige Fragen.

Der junge Don Benjamín fand, Mardochai und Esther hätten bei all ihren Verdiensten zwei Sünden auf sich geladen. Zum ersten waren sie ohne Mitleid. »Am Passah-Feste«, sagte er, »nehmen wir aus dem Becher der Freude zehn Tropfen Weines fort, weil wir der Qualen unserer Feinde gedenken. Mardochai und Esther aber hängten mit ungeschmälertem Jubel den Haman und seine Söhne und erschlugen mit ungemischtem Triumph alle ihre Gegner.« Die andern widersprachen heftig. Haman war von so abgründiger Bosheit, daß es auch dem Frömmsten ungeteilte Herzenslust sein mußte, ihn und die Seinen von der Erde zu tilgen. Überliefert war, daß Mardochai ihn vorher einmal aus Todesnot gerettet hatte, Haman aber hatte es ihm mit schwärzestem Undank gelohnt. So höllisch war seine Bosheit, daß die unschuldigen Bäume der Erde vor Gottes Thron wetteiferten um die Auszeichnung, das Holz für seinen Galgen zu liefern. Doch ausersehen wurde das Holz der Arche Noah; es war schon am Tage der Weltschöpfung für diesen Zweck bestimmt worden.

Don Jehuda fragte sich, ob er selber wohl grausam sei. Er war es und war stolz darauf. Er gäbe die zweiundzwanzig Schiffe seiner Flotte um die Lust, den Erzbischof vom Ast eines hohen Baumes hängen zu sehen. Er gäbe seine Anteile an den Unternehmungen in der Provence und in Flandern, wenn er zuschauen könnte, wie man den Castro, der ihn einen schmutzigen Hund genannt hatte, geißelte und vierteilte. Ein Mann mußte so fühlen, es sei denn, er wäre ein Weiser wie Musa oder ein Prophet. Er, Jehuda, war das nicht und wollte es nicht sein.

Aus seinem Denken und Wägen rissen ihn Worte des Don Benjamín. Der nämlich sprach jetzt von der zweiten Sünde des Mardochai, von seinem Stolz. »Seht ihn doch«, ereiferte er sich, »wie er prunkend durch die Stadt Susa reitet, von Haman geführt! Und warum, da es nun einmal der Befehl des Königs war, hat er nicht das Knie vor Haman gebeugt? Die Gesetze des Landes sind eure Gesetze, lehren die Doktoren. Es ist diese seine Weigerung, es ist Mardochais Stolz, der das ganze Unheil über die Juden herabgerufen hat. So steht es ausdrücklich im Buche. Mardochai kannte die Menschen, er kannte Haman, er wußte, welche Folgen seine Weigerung haben werde: warum überwand er nicht seinen Stolz und wahrte sein Volk vor der Gefahr?«

Es fiel Jehuda schwer, sein Gesicht ausdruckslos zu halten. Er wußte, er selber galt als hochfahrend, und keinem seiner Gäste konnte entgangen sein, wie bedeutsam sein und Doña Raquels Geschick dem des Mardochai und der Esther ähnelte. Sicher maßen sie ihn an Mardochai. Und während Don Benjamín auf Mardochais Stolz schalt, überkam Jehuda ein bitterer Verdacht. Es war ihm vergönnt gewesen, den Juden Toledos Segen zu bringen. Aber schauten sie nicht vielleicht trotzdem noch immer mit den Augen des Rabbi Tobia auf ihn, voll Abscheu? Dem Mardochai verdachte es keiner, daß er die Pflegetochter dem heidnischen König in seine Burg und ins Bett schickte. Aber Mardochai hatte vor vielen hundert Jahren gelebt in der Stadt Susa, die fern war. Er, Jehuda, lebte heute, und die Galiana war keine zwei Meilen entfernt. Argwöhnisch prüfte er die Gesichter seiner Gäste, argwöhnisch vor allem den jungen Don Benjamín. Er konnte ihn nicht leiden; seine Blicke waren kühl und wagend und ohne die Ehrerbietung, auf die ein Jehuda Ibn Esra Anspruch hatte.

Aber nein, sie hatten keine bösen Nebengedanken, seine Gäste. Mit welcher Hitze führten sie den jungen Benjamín ab. Sie verteidigten ihn, Jehuda, wenn sie Mardochai verteidigten. Mit Genugtuung nahm er wahr: sie verübelten es ihm nicht, daß er ihnen Segen brachte.

Es waren in der Tat feurige Argumente, mit denen sie ihren Mardochai in Schutz nahmen. Wenn Mardochai stolz gewesen wäre, hätte er dann verheimlicht, daß er der Pflegevater und Oheim der Königin war? Und hätte ein stolzer Mann demütig wie ein Bettler vor dem Königsschloß herumgehockt? Und er hatte auch Esther zu jeglicher Demut erzogen. Nicht voll falscher Zuversicht trat sie den schweren Gang vor den König an, der ihr Todesgang werden konnte, sondern in tiefster Demut. Im Wortlaut überliefert war ihr Gebet: »Du weißt es, o Herr, ich habe den Glanz dieses Königsschlosses nicht begehrt. Nein und nochmals nein. So wie sich die Frau vor dem Kleide ekelt, welches sie in den Tagen ihrer Unreinheit trägt, so ekelt es mich vor meinen Prunkgewändern und vor der Krone, die ich tragen muß. Keine Freude habe ich, seitdem ich hier bin, als allein die Freude an dir, mein Gott. Und nun, o Herr, Tröster der Beladenen, steh mir bei in meinem Elend und lasse mich Gnade finden vor diesem heidnischen König, vor dem ich mich fürchte wie das Lamm vor dem Wolfe.«

Jehudas Mißtrauen war verweht. Die Juden von Toledo wollten ihm nicht übel. Sie sahen in ihm einen Mann wie Mardochai, einen Mann, der groß war unter den Juden und angenehm unter der Menge seiner Brüder, der bedacht war auf das Beste seines Volkes und der das Heil suchte für sein ganzes Geschlecht.

Musa sagte zu ihm: »Schwillt dir das Herz, lieber Jehuda? Kommst du dir so recht als ein Mardochai vor?« Jehuda antwortete halb im Scherz, halb im Ernst: »Du sagst es.«

Er war glücklich und müde, als er zu Bett ging.

Sein Geist aber arbeitete weiter, als er schlief, und als er des andern Morgens erwachte, war dem merkwürdigen, vielfältigen Mann aus den Eindrücken und Spürungen des vergangenen Tages eine Idee für seine Geschäfte aufgestiegen.

Haman hatte das Los geworfen, um den rechten Tag für die Vernichtung der Juden zu erlosen, aber er hatte den Tag ihrer Rettung und Erhöhung erlost, und Los-Fest, Purim, nannten die Juden das Esther-Fest. Lose werfen, das Glück herausfordern, herausfinden, wem Gott gnädig war und wem nicht, das machte den Menschen Spaß. Wie wäre es, wenn er, Jehuda, diese Neigung ausnützte? Er wird im Namen des Königs ein großes Spiel ausschreiben, er wird einen ungeheuren Glückstopf aufstellen, aus dem ein jeder für billiges Geld ein Los ziehen kann. Wenn auch das einzelne Los dem Schatz des Königs nur kleinen Gewinn bringt, so wird doch der breite Umsatz riesigen Nutzen abwerfen.

Noch am gleichen Tag machte sich Jehuda an die Berechnungen für den großen kastilischen Glückstopf.

Nachdem sich in jenem Kronrat herausgestellt hatte, die Verhandlungen mit Aragon würden noch lange Monate erfordern, drängte es Alfonso, nach Toledo zurückzukehren. Aber er wußte, Doña Leonor hatte sein unehrliches Spiel durchschaut. Wohl war sie von gelassener Freundlichkeit wie immer, aber er konnte nicht und wird niemals vergessen können, wie sie ihm ins Gesicht gesagt hatte: Die ganze Christenheit wird dir ihr Hui und Pfui nachrufen. Er las auf ihrem klaren Antlitz ihre Verachtung, er wollte nicht davonlaufen. Er verbrachte peinvolle Wochen in Burgos, er sehnte sich heiß nach Raquel und der Galiana. Aber er blieb.

Zu Beginn des dritten Monats sagte er sich, nun habe er seiner Pflicht genügt, und rüstete zur Abreise.

Er wurde auf bittere Art zurückgehalten.

Es war richtig gewesen, was ihm Leonor damals mitgeteilt hatte: der kleine Infant Enrique kränkelte. Nun, sehr plötzlich, verschlimmerte sich die Krankheit. Die Ärzte waren hilflos.

Der verzweifelte Alfonso sah in diesem Unglück die Strafe Gottes. Er erinnerte sich, wie er einmal den Rodrigue böse gehänselt hatte, Gott scheine mit ihm, Alfonso, zufrieden; er lasse ihn alles, was er anfasse, glücklich hinausführen. Rodrigue aber hatte erwidert, in solchen Fällen sei die Strafe des Sünders im Jenseits um so schrecklicher; Gnade sei es, wenn Gott schon in diesem Leben strafe. Wenn es Gnade war, dann war es furchtbare Gnade. Aber Alfonso hatte die Strafe verdient. Er hatte geheuchelt im Kronrat, er hatte die falschen, listigen Argumente des Juden gelten lassen und sich feige vor seiner heiligsten Pflicht gedrückt, vor dem Kriege. Daß ihm Gott den Erben niederwarf, zeigte, wie furchtbar er gesündigt hatte.

Auch Doña Leonor machte sich abergläubische Vorwürfe. Sie hatte die Schwächlichkeit des Infanten zu einer Krankheit umgelogen, um Alfonso von der Jüdin fort nach Burgos zu locken. Jetzt machte ein rächender Himmel ihre selbstische Lüge zur Wahrheit. Hilflos und verzweifelt saß sie an der Seite des fieberheißen, um Atem ringenden Kindes.

Da traf aus Toledo der alte Musa Ibn Da’ud ein, den Ärzten in Burgos seine Hilfe anzubieten.

Don Jehuda war, als er von der Erkrankung des Kindes erfuhr, tief erschrocken. Wenn dem Infanten etwas zustieß, dann wird Doña Leonor das Verlöbnis der Prinzessin Berengaria mit Don Pedro durchsetzen, dann konnte kein noch so fein ausgeklügelter Plan die Allianz und den Krieg länger aufhalten. Don Jehuda hatte sogleich die Aljama aufgefordert, Gottesdienste für die Gesundung des Infanten zu veranstalten; die toledanischen Juden beteten mit Inbrunst, sie wußten, worum es ging. Und sogleich auch hatte Jehuda Musa gebeten, nach Burgos zu reisen. Der alte Arzt hatte sich gesträubt. Er hatte erklärt, er wolle erst den Ruf des Königs abwarten. Jehuda indes hatte auf seinem sofortigen Aufbruch bestanden.

Da war er nun. Der König, trotz seines Widerwillens gegen den alten Uhu, atmete auf und teilte Leonor erfreut mit, nun sei der beste Arzt der Halbinsel zur Stelle, dieser Musa Ibn Da’ud, und er werde das Kind bestimmt retten können.

Da aber verzerrte sich Doña Leonors klares, stilles Gesicht, all ihr Wesen veränderte sich erschreckend, und ausbrach ihr ganzer Haß. »Habt ihr noch nicht genug Unheil angerichtet, du und deine Jüdin?« fuhr sie auf ihn los, ihre sonst so hübsche Stimme klang häßlich und schrill. »Wollt ihr auch noch meinen Sohn aus der Welt schaffen?« Sie fiel zurück in das Französisch ihrer Kindheit. »Bei den Augen Gottes!« schwur sie den Lieblingsfluch ihres Vaters. »Eher bring ich diesen Menschen mit meinen eigenen Händen um, eh daß ich ihn an mein Kind heranlasse!«

Alfonso wich zurück. Das war eine andere Leonor als die, welche er die fünfzehn Jahre hindurch gekannt hatte. Sogar in jenem Kronrat, als sie ihn demütigte, hatte sie sich in Ton und Geste gezähmt; jetzt zum erstenmal schlug aus ihr heraus jene Leidenschaft, die ihren Vater und ihre Mutter in so maßlose Taten getrieben hatte. Und er, Alfonso, war schuld, er hatte aus der Dame und Königin diese Rasende gemacht.

Der Infant Enrique starb unter Qualen.

Stumm und verhärtet saß Leonor. Aber mitten aus ihrem grenzenlosen Elend wuchs wild und bitter-lustig die Erkenntnis, daß gerade ihr Verlust sie zum Ziele brachte. Jetzt, nach dem Tode des Infanten, war Berengaria wieder die Erbin Kastiliens, jetzt war ihr Verlöbnis mit Don Pedro Verpflichtung vor der ganzen Christenheit. Jetzt konnte kein Jud und Teufel mehr den Krieg verhindern. Jetzt mußte Don Alfonso ins Feld ziehen, seine Trennung von der Jüdin war besiegelt. Noch während sie aber voll grimmigen Selbstspottes den Gewinn bedachte, für den sie den ungeheuren Preis gezahlt hatte, sah sie Alfonso vor sich, gerüstet, um ins Feld zu reiten; er neigte sich vom Pferd zu ihr herunter voll fröhlicher, ritterlicher Zuversicht. Und während sie alle die Monate hindurch nichts gespürt hatte als unbändige Lust, ihn zu strafen, schlug mit einemmal die alte Liebe über ihr zusammen.

Alfonso selber war zerstört. Er hockte da, grauen Gesichtes, das Haar versträhnt, die Augen stier, erloschen. Wüste Reue plagte ihn. Da hatte er sich vorgemacht, er könne Raquel bekehren, und hatte doch von Anfang an gewußt, daß er’s nicht konnte. Die Frau war ihm angeflogen wie eine Krankheit, er hat es gewußt, aber er hat es nicht wissen wollen. Er hat die Augen zugemacht und sich blind gestellt. Jetzt aber hat ihm Gott die Augen in ein furchtbares Licht aufgerissen.

In dieser Nacht, während, umweht von Weihrauch, umleuchtet von Kerzen, umsummt von Gebeten Wache haltender Priester, der tote Infant aufgebahrt in der Kapelle der Burg lag, sprachen Alfonso und Leonor sich aus. Ohne Umschweife fragte er, wie lange sie wohl brauchen werde, um das Verlöbnis Berengarias mit Don Pedro zustande zu bringen. Sie antwortete, die Verträge könnten wohl schon in wenigen Wochen unterzeichnet sein. »Dann werde ich also in zwei Monaten ins Feld ziehen«, erklärte Don Alfonso. »Und das ist gut so«, brach er aus.

Sie saß gefaßt da, sanft, traurig und würdevoll. Sie dachte daran, wieviel Not über sie beide hatte kommen müssen, ehe er sich aus dem Schlamme riß. Ein Wort klang in ihr auf, das ihre Mutter aus ihrem Gefängnis an den Heiligen Vater geschrieben hatte: »Von Gottes Zorne Königin von Engelland«; sie tauschte vernünftige, gleichmütige Worte mit Alfonso, doch in ihr klang es: in ira dei regina Castiliae.

Gelassen mit ihrer hellen Stimme sagte sie, er werde gut tun, sich, bevor er in den Krieg ziehe, von aller Schuld zu lösen. Er verstand sogleich. In ihm brannte die Erinnerung, wie sie ihm vor den andern seinen Schimpf ins Gesicht geworfen hatte und wie noch vor zwei Tagen ihr Haß in Fluch und Schwur ausgebrochen war. Aber jetzt war sie ruhig von Gesicht und Stimme, es war fast, als ob sie Mitleid mit ihm habe, es war keine Zürnende, Strafende, es war eine Liebende, die zu ihm sprach.

»Ich werde sie wegschicken!« gelobte er stürmisch. Als der König auf das Tor der Galiana zuritt, als ihn die Inschrift Alafia, Heil, Segen, begrüßte, noch als er die Mesusa erblickte, deren Glas er zerschlagen hatte, freute er sich trotzig darauf, Raquel zu sagen: »Ich geh in den Krieg, wir trennen uns, Gott will es.« Und nachdem er ihr das gesagt hat, sogleich, wird er nach Toledo zurückkehren.

Aber dann stand sie vor ihm, ihre blaugrauen Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht leuchtete, und seine Entschlossenheit war hin. Wohl trachtete er noch, sein Gelöbnis nicht aus dem Sinn zu verlieren. Er wird es auch halten, er wird ihr von der Trennung sprechen. Aber nicht jetzt, nicht heute.

Er umarmte sie, er aß mit ihr, er schwatzte mit ihr, sie gingen durch den Garten. Sie war ganz anders, diese Frau, als er sie in der Erinnerung hatte, viel schöner, und wie hatte er sich einbilden können, an ihr sei ein Hexenhaftes?

Die Dämmerung kam, vergessen war der Tod des Infanten, vergessen der Heilige Krieg. Die Nacht fiel ein, es war eine selige Nacht.

Sie frühstückten zusammen, wie sie es früher getan hatten. Aber jetzt war er einsilbig. Er mußte sprechen, er durfte es nicht länger hinausschieben, jede Minute Aufschub war töricht, war sündhaft.

Sie schwatzte unbefangen von kleinen Ereignissen der Zwischenzeit. Da hatte Onkel Musa ein langes und ein breites von den Baulichkeiten in Burgos gesprochen. Er hatte erklärt, er fühle sich in moslemischen Städten und Häusern wohl: aber Stil habe auch die simple, ragende Kahlheit der christlichen Städte und Burgen. Sie habe Größe.

Was Raquel da und wie sie es sagte, verdroß Alfonso. Wach wurde ihm die Erinnerung an Burgos, an die Krankheit des Kindes und an die Raserei Doña Leonors; auch an sein erstes Gespräch mit Raquel mußte er denken, wie sie ihm sein Schloß in Burgos schlechtgemacht hatte. Es überkam ihn die trotzige Stimmung seiner Ankunft, und rauh und böse sagte er: »Da ist ihm eine Wahrheit aufgegangen, deinem Musa. Man wird der moslemischen Pracht schnell überdrüssig. Auch ich habe die Galiana satt. In ein paar Wochen bin ich im Feld. Die Galiana betrete ich nicht wieder.«

Sie sah ihn an, als habe sie ihn nicht verstanden. Dann fiel sie ohnmächtig hintenüber. Er hockte da, blöde. Er war darauf gefaßt gewesen, ihren Jammer abzuweisen und ihr in derben, kräftigen Worten auseinanderzusetzen, daß es so sein mußte. Jetzt kam er sich wie ein Lümmel vor, nicht wie ein Ritter. Er hatte Freunde sterben sehen und ein Vaterunser gebetet und weitergekämpft; vor dieser Ohnmächtigen stand er hilflos. Er nahm sie in die Arme, streichelte sie, drückte sie sacht, feuchtete ihr die Stirn.

Nach einer Ewigkeit schlug sie die Augen auf. Fand sich nicht zurecht. Fand sich zurecht. »Verzeih, daß ich so schwach bin«, sagte sie. »Ich habe ja gewußt, daß es nicht ewig dauern kann, und man hat mir gesagt, was in Burgos geschehen ist, die Amme Sa’ad hat’s mir gesagt, und ich hätte es wissen sollen, und ich hätte dich nicht an Burgos erinnern sollen. Verzeih, daß es mich umgeworfen hat. Aber ich bin jetzt empfindlich, weil ich schwanger bin.«

Er starrte sie an, den Mund töricht halb offen. Dann lachte er, eine ungeheure, schmetternde, glückliche Lache. »Das ist ja großartig!« jubelte er. »Ich bin wahrhaftig ein Sohn des Glücks.« Er lief herum, stampfte, machte Tanzschritte, nahm sie in die Arme, drückte sie wild. »Nur gut«, sagte er, »daß ich nicht in Rüstung bin. Sonst würde ich deine arme Brust ganz wund reiben.«

Er dachte: Da bin ich dieser holdesten Frau rauh und grob gekommen wie ein Bauer. Und hab doch gewußt, daß ich lüge, noch während ich sprach. Diese verlassen!

Dergleichen sagte er auch. Er hielt sie und redete auf sie ein, er stammelte kastilisch und arabisch durcheinander, er klagte sich stürmisch an, schwatzte Wirres, sinnlos Verliebtes.

Er dachte: Ich bin wahrhaftig ein Lieblingskind Gottes. Er spielt mit mir wie ein Vater mit seinem kleinen Sohn. Er neckt mich mit schalkhafter Bosheit und bereitet mir dann um so größere Freude. Er hat mir damals den dümmsten Krieg auf den Hals geschickt – und dann den alten Onkel Raimundez aufs Herz geschlagen. Er hat mir den kleinen Enrique genommen – und gibt mir jetzt einen Sohn von dieser Frau, der sehr geliebten, der einzig geliebten. Ich hab es für Strafe gehalten, und es war Gnade.

Er mußte sich zurückhalten, Raquel nicht auch das zu sagen. So glücklich stolze Dinge durfte ein König denken, aber sie sagen durfte auch ein König nicht.

Er dachte an das Versprechen, das er Doña Leonor gegeben hatte. Es galt nicht mehr. Unter diesen Umständen galt es nicht. Daß ihm Raquel jetzt einen Sohn gebären wird, bedeutete, daß Gott ihm verziehen hatte und mit ihm einverstanden war. Er dachte: Der König hat die innere Stimme, und nur auf die darf er hören. Gott will nicht, daß ich jetzt schon ins Feld soll, das spür ich deutlich. Ich werde ins Feld ziehen, aber ich muß warten, bis Gott mir die rechte Zeit sagt.

Er dachte: Diese verlassen! Eher sterb ich tausend Tode! Er war ungeheuer beglückt. Und ungeheuer beglückt war sie.

Und das Leben in der Galiana ging weiter wie vorher.

Kardinal Gregor von Sant’ Angelo, der Sondergesandte, überbrachte dem König ein Handschreiben des Heiligen Vaters. Der Papst erinnerte seinen lieben Sohn, den König von Kastilien, an jenen Beschluß des Lateranischen Konzils, der es den Fürsten der Christenheit verbot, Juden Macht über Christen anzuvertrauen, und ermahnte ihn mit väterlicher Strenge, den berüchtigten Ibn Esra endlich seines Amtes zu entkleiden. Wenn nicht der Satan die erlauchten Fürsten Hispaniens, schrieb der Papst, durch die Ränke ihrer jüdischen Minister immer neu entzweite, dann hätten sie sich längst geeinigt.

Alfonso argwöhnte, daß hinter diesem Schreiben Doña Leonor stecke oder der Erzbischof. Aber er wurde nicht zornig, er fühlte sich leicht und überlegen. Er hatte seine innere Stimme, und sie befahl ihm: »Schick den Juden noch nicht weg. Vielleicht später einmal.«

Ehrerbietig antwortete er dem Kardinal, es bedrücke ihn, daß er sich so lange eines Ratgebers bediene, der dem Heiligen Vater mißfällig sei. Aber erst die Hilfe dieses Ibn Esra habe ihn instand gesetzt, den Kreuzzug gegen die Moslems zu rüsten. Sowie er Siege errungen habe und also die Künste des Juden nicht mehr benötige, werde er, wie es einem treuen Sohne zieme, dem Willen des Heiligen Vaters gehorchen.

Kardinal Gregor, ein großer Redner, predigte in der Kathedrale. Vor Jahrhunderten schon, lange vor der übrigen Christenheit, hätten die Bewohner dieser Halbinsel den Krieg gegen die Moslems aufgenommen. Der Satan aber habe Zwist gesät zwischen die Könige, so daß sie ihre Schwerter gegeneinander brauchten statt gegen den gemeinen Feind der Christenheit. Nun aber habe der Allmächtige ihre Herzen erschüttert, und nun werde Hispanien seinen alten Kampf gegen die Ungläubigen mit neuer Inbrunst aufnehmen. Gott will es!

Die Kastilier, durch den Tod des kleinen Infanten darauf vorbereitet, daß der Krieg nun endlich beginnen werde, ließen sich die Predigt des Kardinals ins Innere dringen. Die erhabene Allgegenwart der Kirche hatte ihnen von Kindheit an die Vergänglichkeit des Diesseits ins Bewußtsein getrieben; jetzt verlor das Irdische vollends seinen Wert vor der Seligkeit des Ewigen, das sich so nah und wirklich vor ihnen auftat. Denn wer an dem Feldzug teilnahm, war aller Sünde ledig; er wird entweder rein wie ein Kind zurückkehren oder, selbst wenn ihm Gefangenschaft oder Tod bestimmt sein sollten, sichern Lohn im Himmel finden. Auch diejenigen, welche die Fülle und Behaglichkeit der guten letzten Jahre genossen und gewürdigt hatten, trauerten nicht um den bevorstehenden Verlust dieser Güter, sondern suchten sich das Unvermeidliche schmackhaft zu machen, indem sie sich die größeren Freuden des Paradieses vorstellten.

Waffenfähige Männer suchten ihren Besitz loszuwerden; man konnte kleine Güter, Werkstätten und dergleichen billig erstehen. Dafür stieg im Preis, was immer man für einen Kriegszug benötigte; Waffenschmiede, Lederhändler, Reliquienhändler hatten gute Zeit. Der Gärtner Belardo holte das Koller und die Kappe seines Großvaters hervor und rieb das Leder mit Öl und Fett ein.

Den Erzbischof Don Martín belebte die greifbare Nähe des Krieges. Ständig nun unter dem geistlichen Gewand trug er sichtbar die Rüstung. Er vergaß seinen Zorn gegen Alfonso und die Galiana, er pries Gott, der den Sünder mit so kräftiger Hand auf den Weg ritterlicher Tugend zurückgeholt hatte.

Da er sah, daß sein Rodrigue an dem Enthusiasmus der andern nicht teilzunehmen schien, redete er ihm freundschaftlich zu. Der Domherr gestand, daß sich in seine Lust an dem frommen Unternehmen immer wieder, wie ein Tropfen Blutes in einen Becher Wein, der Gedanke mische an die vielen Toten, welche der Krieg nun auch der Halbinsel abfordern werde. Don Martín hielt ihm entgegen, Gott habe den Menschen nun einmal zu Streit und Kampf geschaffen. »Wohl hat er ihm«, führte er aus, »die Herrschaft verliehen über alles Getier, er hat es aber so gefügt, daß sich der Mensch diese Herrschaft erst hat erkämpfen müssen. Oder glaubst du, daß sich der wilde Stier ohne Kampf vor den Pflug hat spannen lassen? Sicher hat Gott noch heute Wohlgefallen an dem Ritter, der den Stier bekämpft. Mir ist, ich bekenne es gerne, von allen Sätzen, die der Heiland sprach, am liebsten jener, den Matthäus überliefert: ›Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.‹« Er wiederholte den Vers im Urtext. »Allà máchairan!« rief er fröhlich, und die griechischen Worte des Evangeliums klangen viel heller und streitbarer als die gewohnten lateinischen: sed gladium.

Die schmetternde Botschaft vom Schwert drang Don Rodrigue schmerzhaft ins Innere, und es bekümmerte ihn, daß sich der nicht eben gelehrte Erzbischof aus dem Urtext gerade dieser Worte erinnerte. Es wäre dem Domherrn ein leichtes gewesen, dem einen Satze, in dem das Evangelium den Krieg rühmte, viele andere entgegenzustellen, in welchen es mild und herrlich den Frieden pries. Aber Gott hatte nun einmal dem Erzbischof Eisen ums Herz gelegt, so daß er nur hören konnte, was er hören wollte. Don Rodrigue schwieg kummervoll.

Don Martín redete ihm weiter zu: »Wenn der Frühling kommt, dann ziehen die Könige in den Krieg. So heißt es im Zweiten Buche Samuel. So ist es bestimmt. Lies nach, lieber Bruder! Lies auch in den Richtern nach und in den Königen über die Kriege des Herrn! Tu dein Jeremia-Gesicht ab und lies, wie Gott teilnimmt am Kriege und wie der Krieg die Frommen einigt und das Reich einigt und die Ungläubigen vernichtet! Sie zogen ins Feld, die gottesfürchtigen Hebräer, sie stießen ihr Kriegsgeschrei aus und machten ihre Feinde nieder. Sie hatten ihren Kriegsruf: Hedád, du selber hast ihn mir gesagt. Hedád! das klingt hell und gut. Aber unser: Deus vult – Gott will es, klingt auch nicht schlecht, und es läßt sich kräftig dazu dreinschlagen. Stimm ein, lieber Bruder! Reiß dich heraus aus deiner Trübsal und erhebe dein Herz!«

Vertraulich, da der Domherr in seinem unglücklichen Schweigen verharrte, fügte er hinzu: »Und vergiß nicht jene andern Segnungen des Feldzugs, daß er nun endlich unsern teuern Alfonso aus dem faulen Frieden und aus dem Pfuhle reißt.«

Allein Don Rodrigue war nicht so zuversichtlich wie der Erzbischof. Ein leiser Zweifel war in ihm, ob der Tod des Kindes den König wirklich aus seinem Sündenschlaf geweckt habe, eine leise Furcht, Alfonso werde auch weiter einen Mittelweg suchen zwischen seiner Sünde und seiner Pflicht.

Er überwand sich und faßte sein Beichtkind hart an. »Nun du in den Krieg ziehst, mein Sohn und König«, mahnte er, »sei dir bewußt: es genügt nicht, mit dem Schwerte dreinzuschlagen. Vergebung deiner Sünden wird dir auch im Kriege nur, wenn du sie ehrlichen Herzens und tätig bereust. Hör auf mich, mein Sohn Alfonso, und lüge nicht weiter, wie du bisher dich und mich und die andern belogen hast. Es ist uns nicht bestimmt, die Seele dieser Frau zu retten, du weißt es. Deiner liebenden Mühe ist es nicht geglückt, in ihr Gemüt zu dringen, und auch meinem Worte hat der Herr die Kraft versagt. Es ist dir nicht erlaubt, mit ihr zu leben. Reiß die Sünde aus deiner Brust. Zieh nicht in Sünde in den Krieg. Gott hat deinen Sohn erschlagen, wie er den Sohn des Pharao schlug, da dieser sich nicht von seiner Sünde trennen wollte. Achte die Mahnung. Scheide dich von dieser Frau. Jetzt. Sogleich.«

Alfonso unterbrach den Domherrn nicht. Er fühlte sich leicht und schwebend, die bösen Worte erzürnten ihn nicht. Heiter beinahe antwortete er: »Ich muß dir was sagen, mein Vater und Freund, ich hätte es dir vielleicht schon früher sagen sollen: Raquel ist schwanger.« Er ließ die Worte in den andern einsinken und fuhr fort, freudig, vertraulich: »Ja, Gott hat mich abermals begnadet. Wenn er’s mir bisher versagt hat, Raquels Seele zu retten, so war das wiederum nur einer seiner Umwege, eine kleine, gnädige Schalkheit.« Und: »Ich werde nicht nur eine Seele dem Christentum gewinnen!« jubelte er heraus. »Ich werde ein Kind von Raquel haben, und zweifelst du, daß die Mutter folgen wird, wenn wir dieses Kind taufen? Ich bin sehr glücklich, mein Vater und Freund Don Rodrigue.«

Der Domherr war tief angerührt. Da hatte er sich überwunden und hart zu seinem lieben Sohne gesprochen, und der hatte bereits das Licht gesehen. »Meine Gedanken sind nicht die euern, und meine Wege sind nicht die euern«, spricht der Herr; das hatte Alfonso besser begriffen als er selber.

Der König mittlerweile sprach weiter: »Jetzt wirst du nicht mehr verlangen, daß ich mich von ihr scheiden soll.« Er lächelte, sein ganzes Gesicht strahlte. Er bat und schmeichelte: »Lassen wir es, wie es ist, bis ich ins Feld ziehe. Oder willst du, daß ich die Mutter meines Kindes wegschicke? Gott hat mir manche Schuld verziehen. Nun ich für ihn streite, wird er mir’s nachsehen, wenn ich nicht grausam bin zu dieser liebsten Frau.«

Später tadelte sich Rodrigue, daß er sich gefügt hatte. Aber ach, er hatte Don Alfonso so gut verstanden. Alfonso liebte Raquel, und sang nicht Virgil, der Frömmste unter den Heiden, der dem Christentum Nächste, von der Magie der Liebe? Wie sie Sinne und Seele verzaubert, die Freiheit der Entschließung raubt und den Menschen mit übermenschlicher Kunst bindet? Und Doña Raquel war der Liebe wert, sie war schön, das Volk hatte recht, sie war La Fermosa, ihre Schönheit rührte sogar ihn, Rodrigue, und weckte ein frommes Gefühl in ihm. Er wollte den König nicht verteidigen, auch vor sich selber nicht. Aber wenn Gott diese Frau diesem Manne in den Weg schickte, dann vielleicht nur, um ihn härter zu prüfen als andere und strahlender zu erlösen.

Wenn Alfonso an die Unterredung mit seinem Beichtvater dachte, spürte er Scham und Reue. In der gleichen Stunde, da der väterliche Priester und Freund ihm seine Lügen vorhielt, hatte er ihn neu und stärker belogen. Er hatte getan, als stehe der Feldzug unmittelbar bevor, und daraus das Recht hergeleitet, noch die kurze Zeit zu sündigen. Und er wußte doch, der Feldzug stand nicht unmittelbar bevor. Er selbst half mit, ihn hinauszuschieben.

Die gleichen wirtschaftlichen Streitfragen nämlich, die der Allianz im Wege gestanden hatten, behinderten jetzt den Vertrag über das Heiratsgut der Infantin Berengaria und damit den Abschluß der Allianz. Don Joseph in Saragossa hatte immer neue Fragen und Rückfragen, ebenso König Heinrich von Engelland, und bald war dies nicht geklärt, bald jenes nicht. Alfonso wußte genau, es war Jehuda, der alle Schwierigkeiten heraufbeschwor, und er spielte den Zornigen und Ungeduldigen, aber er wollte, daß Jehuda Einwände erhob, er forderte sie heraus. Sie durchschauten einander, jeder der beiden wußte um des andern geheime Wünsche, aber sie gestanden sich’s nicht ein, sie spielten ein umständliches, augenzwinkerndes Spiel, eine stumme Verschwörung war zwischen ihnen, sie wurden Spießgesellen, der König und sein Escrivano.

Dabei war Don Alfonso eifersüchtig auf den Juden, weil Raquel an ihm hing, und Jehuda eifersüchtig auf Alfonso, weil Raquel ihn liebte. Und Jehuda spähte in den Zügen Raquels und freute sich, daß sie Ähnlichkeit hatten mit den seinen, und Alfonso spähte in den Zügen Raquels und entdeckte mit Grimm Züge ihres Vaters. Aber beide spielten ihr seltsames Spiel weiter, beflissen, nicht ohne einen kleinen, grimmigen Spaß. Beide, selbst unter vier Augen, taten, als betrieben sie eifrigst das Verlöbnis und die Allianz, und beide machten sie immer wieder zunichte, was sie geschäftig aufbauten.

Als Don Martín gewahr wurde, wie der König nach wie vor einen großen Teil seiner Zeit in der Galiana verbrachte und wie er mittels verächtlicher Mätzchen den Heiligen Krieg abermals hinausschob, brach seine Empörung offen aus. Er predigte gegen den König, der auf den Rat jüdischer Betrüger höre, der Christen dem Urteil und Gutdünken von Beschnittenen unterstelle und auf diese Art Gottes Kirche bedrücke und des Satans Synagoge fördere. Ein großer, tugendhafter Schriftsteller der Alten habe gesagt: »Sicut titulis primi fuere, sic et vitiis – Wie die Ersten an Rang, so waren sie es auch an Lastern.« So geschehe es jetzt in dem betrübten Kastilien. Und er predigte von dem König Salomo, der sich von seinen Huren zur Abgötterei hatte verführen lassen.

Überall im Land taten es die Geistlichen dem Erzbischof nach. Öffentlich erklärten sie, der Jude habe, ein rechter Botschafter der Hölle, aus dem Saladins-Zehnten das Zauberschloß La Galiana gebaut und seine Tochter hineingesetzt, damit die den König behexe. Einen Sturmvogel des Satans nannten sie Raquel.

Die Kastilier fühlten sich genarrt. Ihr König hatte sie um die Segnungen des Heiligen Krieges betrogen. Die Studenten sangen Spottlieder auf Don Alfonso, nannten ihn den equitem ad fornacem – den Ritter Ofenhocker, fragten, wann er sich wohl werde beschneiden lassen. Das Land war bestürzt, empört.

Trotz des heiligen Zornes aber waren manche froh, daß es mit dem Krieg nun doch seine Weile haben werde. »Ein gekochtes Ei im Frieden ist besser als ein gebratener Ochs im Krieg«, führten sie wohl das alte Sprichwort an. Allein Kastilien war ein gottesfürchtiges Land, und das Verharren im Frieden war nicht wohlgefällig in den Augen Gottes, und auch diejenigen, die damit im Grunde einverstanden waren, zeigten ihre Genugtuung nur in der Sicherheit ihrer Wände. Auf der Straße und in den Schenken ersehnten sie nach wie vor den Heiligen Krieg und wünschten, daß Gott den verblendeten Don Alfonso erleuchten möge. Das ganze Land nahm teil an dem Heuchelspiel des Königs und seines Juden.

Der Pfarrer eines kleinen Ortes kam zu Don Rodrigue und fragte ihn um Rat. Einer aus seiner Gemeinde, ein Seiler, ein tüchtiger, frommer Mann, hatte ihn gefragt: »In diesem letzten Jahr hat der Herr mein Geschäft fett gemacht und gesegnet, und ich habe beinahe zwei Goldmaravedí zurückgelegt; warum schickt er mich gerade jetzt gegen die Ungläubigen ins Feld und macht mir meine gute Werkstatt wieder hin?«

Der Domherr hatte die ganze Verlogenheit Don Alfonsos durchschaut, aber in all seiner Entrüstung war er froh, daß der Friede erhalten blieb; er war also genauso sündig wie der Seiler. Diese Einsicht brachte ihn um seinen Gleichmut, und er antwortete dem Pfarrer, wie es geistreich leichtfertiger sein Freund Musa nicht hätte tun können. Er erzählte ihm eine Geschichte von dem heiligen Augustin. Den fragte einmal einer: »Womit hat sich Gott wohl beschäftigt, bevor er Himmel und Erde schuf?« Augustin aber erwiderte: »Da hat er die Hölle erschaffen, um Leute hinzuschicken, die solche Fragen stellen.«

Die Kunde von Raquels Schwangerschaft steigerte die Empörung der feindseligen Granden und Prälaten. Das Volk aber nahm die Nachricht gutmütig auf. Die Leute hatten sich damit abgefunden, daß vorläufig Friede blieb, es war ihnen recht, daß der Friede jetzt nun sicher bis zur Entbindung der Barragana, des Kebsweibes, dauern würde und daß sie sich nicht von neuem umstellen mußten. Sie sprachen gerührt und zärtlich von der schwangeren Raquel und hatten jetzt auch schmunzelndes Verständnis für die menschlichen Schwächen Don Alfonsos. Sie gönnten dem ritterlichen König einen Sohn von der Schönen, sie sahen in Raquels Schwangerschaft ein freundliches Zeichen Gottes, der dem gesalbten Herrscher, bevor er in den Krieg zog, Ersatz schenken wollte für den toten Sohn.

Das hatte die Schöne gut gemacht. Die Amulette, welche sie an den Toren der Galiana hatte anbringen lassen, waren offenbar ein kräftiger Zauber. Und manch einer suchte sich ein solches Amulett, eine Mesusa, zu verschaffen.

Prälaten und Barone waren ergrimmt über so viel sündige Torheit. Gerüchte kamen auf von übeln Vorzeichen. Es hieß, Raquel habe, als sie mit dem König im Tajo angelte, einen Totenkopf gefischt; man wollte das vom Gärtner der Galiana gehört haben.

Aber auch dieses Gerede verfing nicht und beeinträchtigte nicht die zärtliche Anteilnahme der Kastilier an dem von Gott gesegneten Liebeshandel des edeln Alfonso und der Fermosa. Den Bemühungen des Erzbischofs zum Trotz wurde Doña Raquel nicht der »Sturmvogel des Satans«, sie blieb »Die Schöne«.

Sechstes Kapitel

Alfonsos schwieriges Geschäft, die Allianz zu fördern und gleichzeitig zu sabotieren, zwang ihn, viel Zeit in Toledo zu verbringen, und Doña Raquel war oft allein. Aber sie ahnte, daß es ihrethalb geschah, wenn Alfonso in seiner Burg mit ihrem Vater verwickelte Pläne spann, und ihre Einsamkeit war frei von jener brennenden Sehnsucht, die sie früher gequält hatte.

Oft ging sie ins Castillo Ibn Esra. Dort setzte sie sich gern in einen Winkel im Arbeitszimmer des Musa, bat ihn, sie nicht zu beachten, und schaute zu, wie er, mit seinen Gedanken beschäftigt, hin und her ging oder an seinem Pulte schrieb oder in seinen Büchern las.

Wenn in diesen letzten Wochen der Domherr die Gegenwart Raquels mied, so stellte sich um so häufiger der junge Don Benjamín ein. Daß die Frau, die ihm teuer war, diese Ibn Esra, Prinzessin aus dem Hause David, dem König von Kastilien ein Kind trug, gab ihm viel zu denken und erregte ihn. Er hatte Angst um sie, er sah die Kämpfe voraus, die um sie und um ihr Kind geführt werden würden, und es trieb ihn, sie für diesen Kampf zu stärken.

Wenn er aber jetzt von der Erhabenheit des jüdischen Glaubens sprach, dann zwang er sich nicht mehr – wie damals in der Gegenwart des Domherrn – zu wissenschaftlicher Gelassenheit; vielmehr durchwärmte er mit eigenem Gefühl die Sätze, mit welchen die jüdischen Gelehrten und Dichter zu erweisen suchten, daß die Weltanschauung Israels der Weisheit der Heiden und der Botschaft des Jesus von Nazareth überlegen sei. Während nämlich die Erkenntnis des großen Heiden Aristoteles nur den Verstand nähre, befriedige die Lehre Israels nicht nur die Bedürfnisse der Vernunft, sondern auch die des Gefühls, sie lenke nicht nur das Denken des Menschen in die rechte Bahn, sondern auch sein Handeln. Und wenn der Stifter des Christentums verkünde, daß Leiden die höchste Tugend und heiligste Bestimmung des Menschen sei, dann habe mehr als jede andere Nation das Volk Israel diese Lehre in Leben und Wirklichkeit umgesetzt; Israel trage die edle Krone des Leidens nun durch so viele Jahrhunderte, ein Vorbild der Menschheit.

Don Benjamín schwärmte Raquel vor von dem Manne, der – es waren noch keine fünfzig Jahre her – diese Lehren in edeln Sätzen verkündet hatte, von dem letzten großen Propheten Israels, Jehuda Halevi. Er erzählte ihr ausführlich von Jehudas Apologie des Judentums, und er sprach ihr vor aus seinen Zions-Liedern: »O Zion, du königliches Heim. Hätte ich Flügel, ich flöge zu dir. Ehrfürchtig und beglückt küßte ich deinen Staub; denn noch dein Staub duftet wie Balsam. Wie kann ich leben, da Hunde deine toten Löwen zerreißen? Du glorreiche Wohnung des Herrn, wie macht sich jetzt sklavisches Gesindel breit auf deinem Prunksessel!« Und er war, Jehuda Halevi, gegen Ende seines Lebens gebrechlich und unter Mühsalen ins Heilige Land gezogen und angesichts der Heiligen Stadt erschlagen worden von einem moslemischen Ritter.

Wenn sich Benjamín von seinem schwärmenden Gefühl hatte hinreißen lassen, dann wurde er wohl verlegen und versuchte, mit einem halben Scherz in den Alltag zurückzukehren. Oder er nahm sein Merkbuch heraus und bat Raquel, ob er sie zeichnen dürfe. Lächelnd meinte sie: »Wie fromm du bist – und wie ketzerisch.« Drei Zeichnungen machte er von ihr. Sie bat ihn, sie ihr zu schenken; sie hatte Angst, es könnte, wer ein Bild von ihr zu eigen habe, Gewalt haben über sie selber.

Einmal, da er sich ihr besonders nahe fühlte, offenbarte er ihr seine letzte, heimliche Erkenntnis. »Wir sehnen uns nach dem Heiligen Land«, sagte er, »wir beten um die Ankunft des Messias: aber« – und er sprach so leise, daß sie ihn kaum verstand – »in Wahrheit wollen wir gar nicht, daß der Messias kommt. Er würde unsere unmittelbare Verknüpfung mit Gott stören, er würde uns einen Teil Gottes wegnehmen. Die andern haben Staat und Land und Gott, und alles das verehren sie, und alles das ist ihnen vermischt, und Gott ist nur ein Teil dessen, was sie verehren. Wir Juden haben nur Gott, und dadurch haben wir ihn rein und ganz. Wir sind nicht arm im Geiste, wir brauchen keinen Mittler zwischen Gott und uns, keinen Christus und keinen Mohammed, wir wagen es, Gott ohne Mittler zu schauen und zu verehren. Auf Zion zu hoffen, ist besser und macht das Leben reicher, als Zion zu haben. Daß der Messias einmal kommen wird, ist uns ein Ansporn, die Erde für ihn bereitzumachen, es ist ein Traum, keine Wirklichkeit, und das ist gut so. Wir wollen nicht träg und faul werden im Besitz des Guten, wir wollen das Streben, wir wollen den Kampf um das Gute.«

So hohe Achtung Raquel vor dem Wissen und dem Geiste Don Benjamíns hatte, das, was er da vom Messias sagte, gefiel ihr nicht. So weit durfte die Ketzerei nicht gehen. Daß es keinen Messias gebe, daß er nicht so bald oder überhaupt nicht kommen werde, das zu glauben sträubte sie sich, das glaubte sie nicht.

Das wußte sie besser.

Es waren viele Voraussagungen gemacht worden über die Zeit, wann der Messias kommen sollte. Tausend Jahre, hatte es geheißen, werde das Leiden Israels dauern, Exil und Zerstreuung. Die tausend Jahre waren lange um. Von neuem zogen die Feinde gegen Jerusalem, die Zeit war da, zu der, wie der Prophet Jesaja es verhieß, das junge Weib den Sohn gebären werde, Immanuel, den Messias. Es wurden denn auch in diesen Jahrzehnten jüdische Frauen während ihrer Schwangerschaft mit besonderer Achtung angesehen; denn es konnte nach den Worten der Doktoren eine jede auserwählt sein, den Immanuel zu gebären.

Raquels höchst merkwürdiges Schicksal machte sie glauben, sie trage den Messias. Aus dem Hause David sollte er kommen, und war nicht sie, die Ibn Esra, eine Prinzessin aus dem Hause David? Und das große, gefährliche Glück, daß der christliche König sie zu seiner Gefährtin erlesen hatte, deutete nicht auch das auf eine außergewöhnliche Bestimmung? Sie betastete ihren Leib, sie horchte in sich hinein, sie lächelte tief, immer mehr festigte sich ihr der Glaube, sie trage den Fürsten des Friedens, den Messias. Doch sprach sie niemand davon.

Die Amme Sa’ad betreute sie und sagte ihr, was sie essen dürfe und was nicht, und wann sie ruhen müsse und wann sich bewegen. Raquel machte ein freundliches Gesicht, aber sie hörte kaum hin. Sie merkte, daß der höchst servile Belardo ihren Rücken mit bösartigen Blicken betrachtete, doch fürchtete sie nicht seinen bösen Blick. Sie war geborgen in der Ruhe ihres Glückes. Sie dachte an ihre Freundin Layla in Sevilla, die gesagt hatte: »Du Arme«, und sie lachte hellauf.

Sie las in den Psalmen. Da war ein Lied, das ihr mehr ans Herz ging als die andern; sie verstand nicht alle die großen, verschollenen Worte, aber sie reimte sich den Sinn zusammen. »Laß den König Lust an deiner Schönheit haben«, hieß es da, »er ist ja dein Herr. Tyrus wird dir Gaben senden, große Völker dir huldigen. Prächtig einher geht des Königs Braut, in Korallen, Edelgestein und Gold. Du Glückliche! Deine Söhne werden Fürsten im Lande sein, deinen Namen kündet Geschlecht auf Geschlecht, Nationen preisen dich in Ewigkeit.«

Und Raquel war stolz wie ihr Vater.

Oft, wenn Alfonso Raquel beschaute, überkam ihn eine fast schmerzhafte Zärtlichkeit. Ihr Gesicht war wieder hagerer geworden, es schien ihm kindlicher und dennoch wissender, ihre Bewegungen waren seltsam weich; die weiten Kleider verbargen die Rundung ihres Leibes. Sichtlich war sie frei von jeder Angst; zuweilen schien ihm, es strahle ein wildes Glück von ihr aus.

Es war ihm leid, daß seine Geschäfte ihn immer wieder von ihr fortrissen. Einmal sagte er ihr: daß er sie viel allein lasse, geschehe nicht, weil er sie zuwenig liebe. »Im Gegenteil«, versicherte er.

Auf dem Weg in die Königsburg dachte er nach, was er mit diesem »im Gegenteil« habe sagen wollen. Ganz klar mit einemmal wurde ihm, daß er, um länger seiner Sünde zu frönen, heimlich immer von neuem das heilige Werk zunichte machte, das er geschäftig vor der Welt betrieb. Sehr deutlich sah er das üble Komplott, welches er mit Jehuda zettelte. Der Papst hatte recht. Er hatte ein Bündnis mit dem Satan geschlossen, um den Heiligen Krieg zu verhindern. Er spürte, wie seine Seele verrottete.

Er kannte das Heilmittel. Er wird Raquel zum wahren Glauben bekehren. Wenn es sein muß, mit Gewalt. Jetzt, sogleich, vor ihrer Entbindung. Sie soll Christin sein, wenn sie ihm sein Kind gebiert. Er will es.

Als er indes in der Galiana zurück war, sah er, wie zart die schwangere Frau war und daß nur die Sicherheit ihres Glückes ihr Stärke gab, und er brachte es nicht über sich, ein Gespräch zu führen, das sie gefährden konnte.

Unverrichteterdinge kehrte er zurück in die Trägheit seines Glückes.

Wie früher waren sie den ganzen Tag müßig und den ganzen Tag beschäftigt. Wieder erzählte ihm Raquel Märchen, und er staunte, wie leicht ihr die Worte zuflossen und wie sich ihr die Geschichten ineinanderschlangen und wie sie fabulierte und an ihre Fabeln glaubte und ihn daran glauben machte.

Ja, Raquel war beredt. Sie vermochte Worte zu finden für alles, was sie bewegte.

Nicht für alles. Sie konnte Alfonso nicht sagen, wie sehr sie ihn liebte, niemand konnte das, nur die alten Lieder des Großen Buches. Und sie sprach ihm vor die klingenden, jauchzenden, brünstigen Verse des Hohenliedes. Sie versuchte, sie ihm zu übersetzen in ihr Arabisch und in sein niedriges Latein und in ihrer beider Geheimsprache. So konnte sie ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte. Auch die dunklen Verse jenes Psalms sprach sie ihm vor, welche die Schönheit der Königsbraut und den Glanz und die Glorie des Königs überschwenglich verkündeten. Er aber war hoch verwundert, daß diese alten hebräischen Könige noch stolzer waren als die ritterlichen der Christenheit.

Dann, eines Morgens, in einer jähen Anwandlung, nahm er sich ein Herz und bat sie, endlich doch die letzte Schranke einzureißen, die sie von ihm trenne, und den wahren Glauben anzunehmen, so daß sie ihm als Christin einen christlichen Sohn gebäre. Raquel schaute ihn groß an, mehr verwundert als klagend oder empört. Still, doch entschieden sagte sie: »Ich werde das nicht tun, Alfonso, und sprich mir nicht wieder davon.«

Den Tag darauf zeigte sie Alfonso die drei Bilder, welche Don Benjamín von ihr gemacht hatte. Er schaute die Zeichnungen an, lange, bemüht. Raquel erzählte ihm, es habe Mut dazu gehört, daß Don Benjamín sie gezeichnet habe; Bilder zu machen, verstoße gegen das Gebot des Mose ebenso wie gegen das Gebot des Mohammed. Nun sah es Alfonso nicht gern, daß sich Raquel mit diesem Don Benjamín abgab, er nahm an, Benjamín bestärke sie in ihrer Verstocktheit. »Wenn ihm das Zeichnen verboten ist«, sagte er unwirsch, »dann soll er’s doch lassen. Ich mag keine Ketzer. Meine Untertanen sollen die Gesetze ihrer Religion halten.« Raquel war verblüfft. Verlangte er nicht von ihr die schlimmste Ketzerei? Daß sie ihren Glauben abschwöre? Er merkte ihr Staunen. »Es muß Leute geben«, setzte er ihr auseinander, »welche die Gesetze machen; das sind die Könige und die Priester. Die Untern haben nicht an den Gesetzen herumzudeuteln, sie haben sie zu befolgen.«

Aber als sie die Zeichnungen zurücknehmen wollte, bat er: »Laß sie mir noch.« Und als er allein war, beschaute er die Bilder von neuem, lange, kopfschüttelnd. Was er sah, war seine Raquel und trotzdem eine andere. Er entdeckte an ihr Züge, die er nie gesehen hatte; dabei kannte er sie doch besser, als irgendwer sonst sie kennen konnte. Aber sie war unerschöpflich an Schönheit und vielfältig von Wesen wie Wolken am Himmel und die Wellen des Tajo.

Moslemische Musikanten waren nach Toledo gekommen. Man hatte Bedenken getragen, sie jetzt in währendem Kreuzzug ins Land zu lassen, doch Alfonso hatte leichtsinnig erklärt, das werde ja nun vor dem großen Krieg das letztemal sein, daß man sich an der Kunst moslemischer Sänger erfreuen könne. Da waren sie also, und diejenigen, die auf Bildung und verfeinerte Sitten hielten, ließen sie in ihren Häusern singen und spielen.

Alfonso ließ sie in die Galiana kommen. Es waren zwei Männer und zwei junge Mädchen; die Männer, wie die meisten Musikanten, waren blind, weil die Frauen in der Langeweile des Harems Musik nicht entbehren wollten und sich im Harem vor Männern nicht zeigen durften. Die Spielleute hatten Guitarre, Flöte, Laute und eine Art Klavier, das Kánun. Sie sangen und spielten, langsame, eintönige und dennoch aufreizende Weisen. Zuerst sangen sie Heldenlieder, darunter jenes uralte vom Cid Compeador; der im moslemischen Andalús lebende Jude Aben-Alfanche hatte es gedichtet zum Lob des feindlichen Ritters. Später sangen sie die neuen Weisen, die jetzt in Granada, Córdova und Sevilla umgingen. Sie sangen von der Schönheit dieser Städte, von ihren Gärten, ihren Brunnen, ihren Mädchen, ihren Rittern. Die Amme Sa’ad konnte sich nicht halten, sie weinte. Auch Raquel verspürte Sehnsucht nach Sevilla; doch war es eine linde Sehnsucht, sie störte nicht das Glück der Galiana, sie erhöhte es.

Zuletzt sangen die blinden Sänger noch Romanzen und Balladen, welche von Geschehnissen des Gestern und des Heute erzählten; sie hatten aber die Farbe des Märchens, genommen war ihnen der genaue Umriß der Zeit, sie hätten sich vor fünfhundert Jahren so gut ereignen können wie jetzt. Sie sangen auch eine Romanze, die handelte von einem ungläubigen König, einem Christen, der sich in eine andere Ungläubige verliebt, eine Jüdin indes, und der in seinem Schlosse Tage, Monate, Jahre mit ihr verlebt, er in seinem Unglauben und sie in dem ihren, und wird Allah es fügen, daß das glücklich ausgeht? Die Blinden sangen mit Gefühl, das eine Mädchen rührte ihre Laute, das andere schlug ihr Kánun. Raquel hörte zu, sie lächelte, sie war gewiß, Allah wird es zum guten Ende führen. Alfonso spürte eine leise Befangenheit, aber er lachte sie fort.

Die jüdischen Flüchtlinge aus Francien waren nun, fast alle die sechstausend, angesiedelt und fügten sich ein in das Leben und Weben des Landes. Die Haßreden der Prälaten und Barone verklangen in dem fröhlichen Lärm des allgemeinen Wohlstandes.

Dieser allgemeine Wohlstand machte auch Jehudas »Glückstopf«, die Lotterie, deren Plan ihm das Buch Esther eingegeben hatte, zu einem märchenhaften Erfolg. Man kaufte ein Los für wenige Sueldos und konnte zehn Goldmaravedí gewinnen. Alle spielten, die Granden, die Bürger, die hörigen Bauersleute. Sie freuten sich und hielten es für ihr persönliches Verdienst, wenn sie gewannen; und wenn sie verloren, hatten sie wochenlang in einer glücklichen Spannung gelebt und hofften auf das nächste Mal.

Auch Jehudas Geschäfte mit dem Ausland blühten, wie er sich’s schöner nicht wünschen konnte, und sein Name hatte Klang von London bis Bagdad.

Erschien also Jehuda der Welt und sich selber als ein Oker Harim, als ein Mann, der Berge versetzen konnte, so kam ihn doch manchmal des Nachts Angst an: wie lange noch wird mein Glück dauern? Er hatte die abgründige Verzweiflung nicht vergessen, die ihn packte, als er die Nachricht vom Tode des Infanten erhalten hatte. Er war damals überzeugt gewesen, Alfonso werde sogleich zu Feld ziehen, und sein und seiner Raquel Glück werde zerbrechen. Dann hatte er erleben dürfen, wie Raquels Schwangerschaft den König noch enger an sie knüpfte, und er hatte sich geschämt, daß er an seinem Glück irre geworden war. Ganz los aber ließ ihn die Erinnerung an jene Stunden der Verzweiflung nicht mehr, und des Nachts vor allem stellte seine starke Phantasie Bilder der Angst vor ihn hin. Einmal, all seinen Künsten zum Trotz, wird der Krieg kommen, es wird ein langer und harter Krieg sein, es wird Rückschläge geben, und die Schuld der ersten Niederlage wird man ihm, Jehuda, und der Aljama von Toledo zuschreiben. Großes Leid wird die Judenheit Kastiliens heimsuchen, und die volle Wut Edoms wird ihn treffen und seine Tochter.

Auch die nähere Zukunft war unsicher. Was wird werden, wenn Raquel ihr Kind zur Welt bringt? Manchmal hatte Jehuda freche, irrsinnige Träume von dem Glanz, der um dieses sein Enkelkind sein wird. Die Barragana, das Kebsweib, die Uxor inferioris conditionis, genoß viele Rechte auch in der christlichen Gesellschaft, und das Kind, das sie gebar, stand rechtlich den legitimen Kindern kaum hintan. Hispanische Könige hatten ihre Bastarde zu großen Herren gemacht. Der Traum, ein Enkel von ihm könnte Prinz von Kastilien werden, umtanzte den Jehuda.

Allein sein guter Verstand zerriß schnell den Traum und zeigte ihm die Gefahr, welche die Geburt dieses Enkelkindes ihm und Raquel bringen mußte. Don Alfonso wird es für selbstverständlich halten, daß sein Kind getauft wird; es war aberwitzig, dem König von Kastilien vorschreiben zu wollen, er solle sein Kind »im Unglauben« heranwachsen lassen. Und doch mußte Jehuda dieses Aberwitzige von ihm verlangen.

Gott narrte ihn, Adonai narrte ihn. Gott hatte es ihm nicht vergessen, daß er so lange Meschummad geblieben war. Gott hatte ihn geprüft, und er hatte versagt und seinen Sohn Alazar verloren. Nun sollte er ein zweites Mal geprüft werden.

Nicht nur der enge, strenge Rabbi Tobia, auch der freieste jüdische Denker, der heute lebte, Unser Herr und Lehrer Mose Ben Maimon, stellte die Forderung, selbst in der äußersten Not müsse der Jude fest bleiben und dürfe sein Kind nicht dem Untergang im Christentum preisgeben. Zum zehntenmal las Jehuda das »Sendschreiben über den Abfall«. Wer sich unter Todesdrohung zum Propheten Mohammed bekenne, lehrte da Ben Maimon, sei noch nicht verloren. Verloren aber sei, wer sein Haupt dem Wasser der Taufe darbiete; denn das Bekenntnis zur Dreifaltigkeit sei schlechthin und eindeutig Götzendienst, Verstoß gegen das Zweite Gebot. Und Ben Maimon führte an die Verse der Schrift: »Welcher eines seiner Kinder den Götzen gibt, der soll des Todes sterben. Und wo das Volk im Lande durch die Finger sehen sollte, daß es ihn nicht tötet, so will doch ich mein Antlitz wider denselben Menschen setzen und wider sein Geschlecht und will ihn und alle ausrotten aus ihrem Volke.«

Jehuda eröffnete sich seinem Freunde Musa. Musa konnte es verstehen, daß Jehuda die Taufe seines Enkelkindes unter keinen Umständen dulden wollte. »Aber wie willst du«, fragte er, »den König von Toledo und Kastilien verhindern, sein Kind zum Christen zu machen?« Jehuda meinte schwunglos, er könne mit Raquel fliehen, ehe das Kind zur Welt komme. Musa ging darauf nicht ein. Jehuda, leidenschaftlich, beschwor ihn: »Du mußt mich verstehen. Du selber in all deiner Abgeklärtheit läßt nicht von deinem Islam. Du weißt, daß ich schwach war und meinen Sohn Alazar nicht gehalten habe und schuld bin an seinem geistigen Untergang. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dieser König mir den Enkel mit dem Wasser seiner Götter bespülte.«

Musa, beinahe lächelnd, antwortete: »Du sagst ›den Enkel‹, und damit sagst du heraus, daß du immer nur an einen Knaben denkst. Vielleicht aber ist das Kind ein Mädchen. Und wenn du zusiehst, wie Alfonso deine Tochter christlich erzieht, dünkt dir auch das eine Sünde, die deine Seele verkümmern macht?« Jehuda grollte: »Ich laß ihm das Kind nicht. Unter keinen Umständen lasse ich es ihm.« Doch schien es ihm in der Tat eine geringere Schuld, wenn er’s unterlassen sollte, sich für die geistige Rettung eines Mädchens aufzuopfern.

Vorläufig, um seine Sorgen zu übertäuben, wurde er in seinem Spiel mit dem König immer kühner. Voll bösartigen Ergötzens prüfte er, wie weit seine Macht über Alfonso ging.

Der Bau der Synagoge, die er der Aljama gestiftet hatte, war vollendet. Jehuda wollte sie prunkvoll einweihen. Don Ephraim widersprach; er fand, eine solche Feier in dieser Zeit müsse als Herausforderung wirken. Jehuda bestand. »Fürchte dich nicht, mein Herr und Lehrer Ephraim«, sagte er, und er verbürgte sich: »Ich werde machen, daß unsere Feinde, die Frevler, ihre Zunge verschlucken.«

Schon am nächsten Tag ging er daran, sein Versprechen zu erfüllen. Er bat den König, das neue Bethaus durch seinen Besuch zu ehren. Don Alfonso war verblüfft über die Unverschämtheit. Sein Zögern im Heiligen Krieg wurde überall auf der Halbinsel mißbilligt; wenn er jetzt auch noch das Haus des jüdischen Gottes besuchte, würden das die Prälaten bestimmt als dreiste Provokation auffassen. Er überlegte, ob er die Bitte seines Escrivanos mit einer zornigen Ablehnung oder einem hochmütigen Spaß abtun sollte. Jehuda stand in demütiger und frech vertraulicher Haltung vor ihm. »Deine Vorväter haben mehrmals Tempel ihrer Juden mit ihrem Besuch begnadet«, gab er zu bedenken. »Aber nicht, während die Christenheit einen Heiligen Krieg führte«, antwortete Don Alfonso, und da Jehuda schwieg, fuhr er fort: »Es wird sicherlich böses Blut machen.« – »Einige deiner Untertanen«, erwiderte Jehuda, »sind so geartet, daß sie alles bemäkeln, was deine Majestät zu tun geruht.«

Der König kam.

Meister Meïr Abdelí, ein Schüler der großen moslemischen und griechischen Architekten, hatte das Haus in edeln Maßen gehalten, Arkaden und Balkone gliederten mit weiser Kunst den Raum, organisch ging die Erfahrung der byzantinischen und die der arabischen Meister ineinander. Und alles lenkte hin auf den Schrein, den zu rahmen und den zu wahren das Haus gebaut war, auf die Heilige Lade, den Schrein mit den Thora-Rollen. Aus mattglänzendem Silber war er geschmiedet. Öffnete man ihn, dann zeigte sich ein schwerer, brokatener Vorhang; zog man diesen zurück, dann gleißte heraus der Schmuck der heiligen Rollen, der Thora-Rollen. Nicht viele barg der Schrein, aber unter ihnen war jene uralte Handschrift des Fünf-Buches, die älteste, die noch auf der Welt war, das Sefer Hillali. Gekleidet in einen bestickten Mantel aus erlesenem Stoff stand die gebrechliche Pergamentrolle, geschmückt war sie mit einer juwelenbesetzten, goldenen Platte; die Holzstege aber, an denen ihr Pergament befestigt war, trugen eine goldene Krone.

Die Wände der Synagoge waren bedeckt mit Friesen. Inschriften mischten sich da, Arabesken und Ornamente. Wieder und wieder kehrte der Pinienzapfen, das Symbol der ewigen Fruchtbarkeit, der Unsterblichkeit, und der Schild mit den drei Türmen – war es das Wappen Kastiliens oder das Siegel Don Jehudas? Eine verwirrende Fülle hebräischer Spruchbänder deckte die Wände. Es waren Sprüche, die Gott rühmten, Israel, Kastilien, den König und Jehuda Ibn Esra; junge Gelehrte und Dichter hatten sie mit kluger Kunst ausgesucht und verbunden. Gereimte Prosa war mit Versen aus der Bibel untermischt dergestalt, daß man manchmal nicht recht erkannte, ob das Spruchband bestimmt war, den König zu rühmen oder seinen Minister. Da wurde etwa berichtet von dem Pharao, der den Joseph erhöhte, und es verkündeten die Worte der Schrift: »Ohne deinen Willen soll niemand seine Hand oder seinen Fuß regen im ganzen Reich, und du sollst mein heimlicher Rat sein.«

Dieses Haus, welches Jehuda zu Gottes und seiner Ehre errichtet hatte, zu besichtigen, kam also nun Don Alfonso, König von Toledo und Kastilien.

Ehrfürchtig am Tore begrüßten ihn der Párnas Ephraim und die angesehensten Männer der Aljama. Dann führten sie ihn ins Innere. Aufrecht standen die jüdischen Männer, bedeckten Hauptes, und sie sprachen den Segensspruch, den zu sprechen das Gesetz vorschrieb beim Anblick eines Fürsten dieser Erde: »Gelobt seist du, Adonai, Unser Gott, der du von deiner Glorie abgibst an Fleisch und Blut.«

Bewegt, stolz hörte Don Jehuda die Worte. Bewegt, angeschauert hörte sie Don Alfonso. Er verstand nicht den Sinn, doch klangen ihm die Laute vertraut, da er viele solche Laute gehört hatte aus dem Munde seiner lieben Liebsten.

Nach der Lehre der Moslems nimmt das Geschöpf, das im Leib der Mutter heranwächst, am einhundertunddreißigsten Tage nach der Empfängnis eigenes Wesen an. Raquel, als diese Zeit gekommen war, fragte Musa, ob das Geschöpf in ihrem Leib nun in der Tat ein richtiger Mensch sei. Musa erwiderte: »›So oder doch so ähnlich verhält es sich‹, pflegte mein großer Lehrer Hippokrates dergleichen Fragen zu beantworten.«

Als die Entbindung herannahte, mehrten sich die Ratschläge und Vorbereitungen derer, die sie betreuten. Die Amme Sa’ad wollte, daß während des ganzen letzten Monats das Schlafzimmer Raquels durch Räucherwerk vor gewissen Dschinns, bösen Geistern, geschützt werde, und war gekränkt, als Musa es untersagte. Jehuda ließ eine Thora-Rolle in Raquels Zimmer bringen und an den Wänden gewisse Amulette befestigen, »Kindbettbriefe«, um der Hexe und Verführerin Lilith, Adams erster Frau, und ihrer bösen Gefolgschaft den Eintritt ins Haus zu verwehren. Don Alfonso sah es mit Unmut und ließ seinesteils, auf Anraten Belardos, allerlei Heiligenbilder und Reliquien in die Galiana schaffen. Auch bat er, eine kleine Verlegenheit überwindend, den Kaplan der Königsburg, Doña Raquel in sein Gebet einzuschließen. Don Jehuda wiederum ließ täglich von zehn Männern Gebete sprechen für die glückliche Entbindung seiner Tochter.

Er hatte die Galiana nicht betreten, seitdem Raquel dort lebte. Er versagte sich’s auch jetzt in der entscheidenden Stunde, sosehr es ihn drängte, Raquel nahe zu sein. Wohl aber schickte er Musa, und Alfonso war froh, Raquel in der Sorge des alten Arztes zu wissen.

Die Wehen waren langwierig, und es entstanden Zwistigkeiten zwischen Musa und der Amme Sa’ad über die Maßnahmen, die man treffen sollte. Dann aber kam das Kind glücklich ans Licht. Die Amme bemächtigte sich seiner sogleich, rief ihm ins rechte Ohr den Aufruf zum Gebet, ins linke das Bekenntnis: »Allah ist Allah und Mohammed sein Prophet« und wußte nun triumphierend, das Kind gehörte dem Islam.

Jehuda in diesen Stunden wartete im Castillo und schwankte, was er hoffen sollte und was fürchten, daß das Kind ein Knabe oder daß es ein Mädchen sei. Neue Zweifel stiegen ihm auf, ob nicht das lange Verharren im falschen Glauben ihm die Seele vergiftet habe, ob er die Kraft haben werde, das Rechte zu tun, ob er ein wahrer Jude geworden, ob er nicht in seinem Heimlichsten ein Meschummad geblieben sei.

Mose Ben Maimon hatte das Grundbekenntnis der Judenheit in dreizehn Glaubenssätze zusammengefaßt. Peinlich erforschte sich Jehuda, ob er in Wahrheit und von innen her diese Sätze glaube. In der Fassung, die ihm vorlag, begann ein jeder Glaubensartikel mit den Worten: »Ich glaube mit ungeteiltem Glauben.« Langsam sprach Jehuda die Sätze vor sich hin: »Ich glaube mit ungeteiltem Glauben, daß es Recht ist, den Schöpfer, gepriesen sei sein Name, anzubeten, ihn allein, und Unrecht, irgendein anderes anzubeten. Ich glaube mit ungeteiltem Glauben, daß die Offenbarung des Mose Unseres Lehrers, Friede sei mit ihm, die reine Wahrheit ist, daß er der Vater der Propheten ist, derer vor ihm und derer nach ihm.« Ja, er glaubte das, er wußte das, es war so, und keines Christus und keines Mohammed Lehre verlöschte die Offenbarung Unseres Lehrers Mose. Mit Inbrunst betete Jehuda die Schlußworte des Bekenntnisses: »Auf deine Hilfe hoffe ich, Adonai. Ich hoffe, Adonai, auf deine Hilfe. Adonai, auf deine Hilfe hoffe ich.« Er betete, er bekannte, er war bereit, für diesen seinen Glauben und für dieses sein Wissen den Tod zu erleiden.

Aber alle Hingabe und Sammlung verhinderte nicht, daß seine Gedanken in die Galiana wanderten. Er wartete, wog, fürchtete, hoffte.

Endlich kam der Bote, und noch vor dem Gruß rief er Jehuda die glückhafte Formel zu: »Ein Knabe kam zur Welt, Segen kam in die Welt.«

Jubel ohne Maß war in Jehuda. Gott hatte ihn begnadet, Gott hatte ihm Ersatz gesandt für Alazar. Ein Knabe war zur Welt gekommen, ein neuer Ibn Esra, ein Nachfahr König Davids, sein, Jehuda Ibn Esras, Enkel.

Noch im gleichen Augenblick indes verschattete Angst seinen Jubel. Ein Nachfahr König Davids – doch auch ein Nachfahr der Herzöge von Burgund und Grafen von Kastilien. Don Alfonso hatte den gleichen Anspruch wie er selber, Don Alfonso konnte für sein Recht die ganze Macht der Christenheit einsetzen, und er, Jehuda, stand allein. Aber: »Ich glaube mit ungeteiltem Glauben«, glaubte er, und: »Ich will mit ungeteiltem Willen«, wollte er, und: »Es soll dem ungläubigen König nicht gelingen«, beschloß er. »Ich werde es schaffen mit der Hilfe Gottes und meines guten Verstandes.«

In der Galiana mittlerweile beschaute und betastete zärtlich Doña Raquel ihren Sohn. Unhörbar schmeichelte sie ihm und koste ihn und nannte ihn Immanuel und immer wieder Immanuel, mit dem Namen des Messias.

Alfonso aber – so verlangten die Courtoisie und sein Herz – ließ sich vor Raquel auf ein Knie nieder und küßte der unendlich Schwachen die Hand.

Entsetzt sah es die Amme Sa’ad. Raquel war unrein, die Wöchnerin war unrein auf lange Zeit, und nun berührte sie dieser Mann, der Dummkopf, der Herrscher der Ungläubigen, und rief alle bösen Geister auf gegen sie und gegen sich selber und gegen das Kind. Und schnell legte sie das Kind zurück in die Wiege, schnitt ein paar Härchen von seinem Kopf, sie zu opfern, und stellte um die Wiege Zucker, damit das Kind süß und gut, Gold, damit es reich, Brot, damit es langlebig werde.

Alfonso war glücklich. Gott hatte ihm den Lohn seines Feldzugs im voraus gegeben, hatte ihm einen andern Sohn geschenkt an Stelle des verlorenen. Er beschloß, das Kind solle am dritten Tag getauft werden, und Sancho solle es heißen; Sancho der Ersehnte war der Name seines Vaters gewesen. Er wollte Raquel das sagen, aber sie war sehr schwach, besser schob er’s auf für morgen oder für übermorgen.

Er mußte seine Freude mit andern teilen. Er ritt nach Toledo. Ließ seine Räte kommen und diejenigen der Barone, die er für Freunde hielt. Strahlte. Teilte Gnaden aus.

Er hatte auch Don Jehuda in die Burg beschieden, und er hielt ihn zurück, als die andern Urlaub nahmen. Beiläufig sagte er ihm: »Ich werde den Knaben Sancho heißen nach meinem Vater. Die Taufe soll Donnerstag sein. Du hast meine Galiana nicht gern, ich weiß es; aber vielleicht überwindest du dich und machst mir die Freude, an diesem Tage dort mein Gast zu sein.«

Jehuda, nun die Minute der Entscheidung da war, wurde ganz ruhig. Es wäre ihm lieb gewesen, er hätte Raquel sehen können vor dieser seiner Auseinandersetzung mit Don Alfonso. Sie liebte den Mann, es wird ihr schwer sein, dem Gewalttätigen nein zu sagen und immer wieder nein. Aber er wußte, sie war fest im Glauben, sie war seine Tochter, sie wird es können.

Er sagte nicht ohne Ehrerbietung: »Ich glaube, Herr König, du tätest besser, die Entscheidung aufzuschieben. Ich glaube, meine Tochter Raquel wird wünschen, daß ihr Sohn heranwachse nach den Gesetzen Israels und erzogen werde in den Bräuchen und Sitten der Ibn Esras.«

Die Idee, daß Raquel oder selbst der Alte dergleichen auch nur denken könnten, war dem König nicht gekommen. Er wollte auch jetzt nicht glauben, daß der Jude es ernst meinte. Es war ein närrischer Scherz, ein sehr unziemlicher Scherz. Er ging nah an Jehuda heran, spielte mit seiner Brustplatte. »Das wäre was, wie?« sagte er. »Ich schlage mich mit den Moslems, und mein Sohn läuft hier herum als Beschnittener!« Er lachte. Jehuda sagte still: »Ich bitte dich in Ehrfurcht, Herr König, nicht zu lachen. Oder hast du mit Doña Raquel gesprochen?« Alfonso zuckte die Achseln, unwirsch. Der Scherz ging zu weit. Aber er wollte sich den Tag nicht verderben lassen. Er lachte weiter, schallend. Jehuda sagte: »In Demut und ein zweites Mal bitte ich dich, nicht zu lachen. Du könntest uns aus dem Lande hinauslachen, wenn du uns verlachst.«

Alfonso wurde ungeduldig. »Du bist verrückt!« sagte er kurz. Jehuda, mit seiner sanften, eindringlichen Stimme, fuhr fort: »Ich war nicht in der Galiana, du weißt es, ich habe nicht mit Raquel gesprochen, und ich werde wohl auch in den nächsten Tagen nicht mit ihr sprechen. Aber ich sage dir: so gewiß heute abend die Sonne untergeht, so gewiß wird Raquel die Galiana und das Land verlassen, ehe sie den Kopf ihres Sohnes dem Wasser deines Glaubens preisgibt.« Und immer noch leise, doch wütig schloß er: »Viele von uns haben ihre Kinder umgebracht, ehe sie das Wasser des Unglaubens über ihre Köpfe haben gießen lassen.« Er lispelte.

Alfonso wollte etwas Stolzes, Verächtliches entgegnen. Aber die stillen, wilden Worte Jehudas waren noch im Raum, sie klangen nach, Jehudas Wille war im Raum und war so stark wie sein eigener Wille. Alfonso erkannte: Jehuda hatte recht. Er wird Raquel verlieren, wenn er den Sohn taufen läßt. Er stand vor der Wahl: Sollte er das Kind preisgeben oder Raquel?

Voll hilflosen Zornes, höhnisch, warf er dem Jehuda hin: »Und dein Alazar?« Jehuda, sehr blaß, sagte: »Das Kind soll nicht den Weg deines Schildknappen Alazar gehen.«

Der König schwieg. In ihm dachte es: Die Schlange im Wams, der Zunder im Ärmel. Er fürchtete, im nächsten Augenblick werde er den Juden niederschlagen. Brüsk ging er aus dem Saal.

Jehuda wartete lange. Alfonso kam nicht zurück. Schließlich verließ Jehuda die Burg.

Der König, nun er keinen innern Vorwand mehr hatte, den Kreuzzug weiter aufzuschieben, beschloß, nach Burgos zu reisen, die Allianz abzuschließen – und vorher natürlich das Kind zu taufen. Nur schwankte er noch, wann er aufbrechen sollte, in einer Woche oder in zweien oder längstens doch in der dritten.

Da erreichte ihn eine Nachricht, die sein Schwanken jäh beendete: König Heinrich von Engelland war gestorben in seiner festen Burg Chinon, noch nicht alt, ein Mann von sechsundfünfzig Jahren.

Alfonso sah ihn vor sich, den Vater seiner Doña Leonor, den mittelgroßen, untersetzten, ziemlich festen Mann mit seinem Stiernacken, seinen breiten Schultern, seinen krummen Reiterbeinen. Strotzend in Kraft war er vor ihm gestanden, den Falken auf der nackten Hand, so daß er sich in die Haut einkrallte. Alles, was dieser Heinrich begehrte, hatte er gepackt mit seinen nackten, roten, gewaltigen Händen, Länder und Frauen. Lachend hatte er Alfonso gesagt: »Bei den Augen Gottes, mein Sohn, für einen Fürsten, der Kopf und Faust hat, ist die ganze Welt recht klein.« Er hatte Kopf und Faust gehabt, dieser König von Engelland, Herzog von der Normandie, Herzog von Aquitanien, Graf von Anjou, Graf von Poitou, Herr von Tours, Herr von Berry, der mächtigste Fürst des westlichen Europa. Alfonso betrauerte ihn ehrlich, als er den Handschuh auszog und sich bekreuzte.

Aber schon während er den Handschuh wieder anzog, überdachte er mit seinem schnellen Verstand die Folgen, welche das Absterben dieses Mannes für ihn, Alfonso, und sein Land hatte. Nur dank der klugen Hilfe dieses Toten waren Allianz und Feldzug bisher verhindert worden. Heinrichs Sohn und Nachfolger Richard war kein Staatsmann, er war Ritter und Soldat, begierig, sich mit jedem Feinde zu schlagen. Er wird nicht wie Heinrich sich dem Kreuzzug unter Vorwänden fernhalten, er wird sogleich mit einem Heere ins Heilige Land aufbrechen und darauf drängen, daß auch die hispanischen Fürsten, seine Verwandten, endlich und sofort ihre Moslems bekämpften. Der Krieg war da.

Es war Alfonso recht. Er streckte sich, er lächelte, er lachte. »Ave, bellum – Sei gegrüßt, Krieg!« sagte er vor sich hin, laut, fröhlich, in den leeren Saal.

Er diktierte einen Brief an Doña Leonor. Sprach ihr seinen Schmerz aus über den Tod ihres Vaters. Teilte ihr mit, er werde sofort nach Burgos kommen, und schloß frech und unschuldig, nun, da kein Verbot König Heinrichs mehr im Wege stehe, könne man ja ohne Verzug den Ehevertrag Berengarias und das Bündnis mit Don Pedro unterschreiben und siegeln.

Ein Geschäft aber hatte er, bevor er reiste, noch zu erledigen. Wiewohl er sicher war, in der Hut Gottes zu stehen, so wollte er doch Vorsorge treffen für den Fall seines Ausgangs aus der Welt. Er wird Doña Raquel mit reichem Gut ausstatten und dem Kinde Sancho, seinem lieben, kleinen Bastard, die geziemenden Titel und Würden verleihen.

Er befahl Jehuda in die Burg. »Da hast du es, mein Freund«, begrüßte er ihn mit fröhlichem Spott. »Jetzt ist es aus mit deinen Mätzchen und Schlichen. Jetzt hab ich ihn, meinen Krieg!« Jehuda sagte: »Die Aljama von Toledo wird allen Segen des Himmels auf deine Majestät herabflehen. Und dir eine Streitmacht stellen, deren du dich vor der Christenheit nicht zu schämen haben wirst.« – »In längstens drei Tagen«, verkündete Alfonso, »reite ich nach Burgos. Ich werde dort wenig Zeit haben und gar keine auf meiner Rückkehr. Ich möchte jetzt schon Verfügungen treffen für den Fall, daß mich trotz eurer Gebete und eurer Soldaten der Herr in währender Schlacht einen christlichen Tod sterben läßt. Bereite du die Dokumente vor, so daß ich sie nur zu unterschreiben brauche.« – »Ich höre, Herr König«, sagte Jehuda. »Ich will«, verkündete der König, »Doña Raquel Güter verschreiben, welche ihr Jahreseinkünfte von mindestens dreitausend Goldmaravedí gewährleisten. Und die Titel und Rechte der frei gewordenen Grafschaft und Stadt Olmedo will ich unserem kleinen Sancho überschreiben.«

Jehuda verpreßte die Lippen, mühte sich um ruhigen Atem. Die Geste Don Alfonsos war kühn und königlich. Jehuda sah seinen Enkel heranwachsen als Grafen von Olmedo, sah, wie ihm der König andere Würden und Herrschaften übertrug, vielleicht den Titel eines Infanten von Kastilien. Absurd und großartig tanzte vor Jehuda der Traum, wie sein Enkel, ein Prinz aus dem Hause Ibn Esra, König von Kastilien sein wird.

Der Traum zerrann. Er hatte gewußt, von der Minute an, da er vom Tode König Heinrichs erfuhr, hatte er gewußt, jetzt erst stand vor ihm der schwerste Kampf. Er sagte: »Deine Großmut ist wahrhaft eines Königs Großmut. Aber das Gesetz verbietet, einen Nichtchristen zum Lehnsherrn der Grafschaft zu machen.« Alfonso erwiderte leichthin: »Hast du geglaubt, ich werde mit der Taufe meines Sohnes warten, bis ich aus dem Krieg zurück bin? Ich werde Sancho morgen taufen lassen.«

Jehuda dachte an die Vorschrift des Rabbi Tobia: »Eh daß ihr einen einzigen preisgebt, müßt ihr alle den Tod auf euch nehmen.« Er dachte an den Vers der Schrift: »Welcher eines seiner Kinder dem Götzen gibt, der soll des Todes sterben.«

Er sagte: »Hast du mit Doña Raquel gesprochen, Herr König?« – »Ich werde es ihr heute sagen«, antwortete Alfonso. »Wenn du’s aber vorziehst, kannst du es ihr sagen.« Jehuda, in seinem Innersten, betete: Auf deine Hilfe hoffe ich, Adonai. Ich hoffe, Adonai, auf deine Hilfe. Er sagte: »Du bist ein Nachfahr burgundischer Herzöge und gotischer Könige, Don Alfonso, aber Doña Raquel ist eine Ibn Esra und aus dem Hause König Davids.« Alfonso stampfte. »Hör auf mit dem Affengeschwätz!« herrschte er ihn an. »Du weißt so gut wie ich, daß ich keinen Juden zum Sohn haben kann.« – »Auch Christus ist Jude gewesen, Herr König«, antwortete still und verbissen Jehuda.

Alfonso schluckte. Es hatte keinen Sinn, mit Jehuda über den Glauben zu disputieren. Er wird Raquel selber mitteilen, daß das Kind morgen getauft wird. Aber sie war noch hinfällig, und wenn auch Jehuda ihren innern Widerstand übertreibt, es wird sie sehr mitnehmen, es wird sie vielleicht gefährden, wenn ihr der Sohn getauft wird. »Laß die Urkunden ausstellen, wie ich dir’s angegeben habe«, befahl er. »Und sei gewiß: mein Sohn wird getauft, bevor ich zu Feld ziehe. Du wirst gut daran tun, deine Vernunft zu gebrauchen und Doña Raquel vorzubereiten.«

Aufatmete Jehuda. Vorläufig ging der König nach Burgos. Zeit war gewonnen, Wochen waren gewonnen. Es wird eine Zeit der Qual sein. Er wußte jetzt, daß es dem König furchtbar ernst war, daß er nicht in den Krieg ziehen wird, ohne das Kind zu taufen. Aber Zeit war gewonnen, und der Gott, der ihm so viele Gnaden erwiesen hatte, wird ihm auch dieses Mal den Ausweg zeigen.

Als hätte Alfonso ihn erraten, sagte er: »Und daß du dir nicht einfallen läßt, mir einen deiner schwarzen Streiche zu spielen, während ich in Burgos bin. Ich will Raquel nicht aufregen in ihrer Schwäche. Aber auch du sollst ihr nicht zusetzen mit Reden und Drohungen und Versprechungen. Mein Sohn soll, bis ich zurückkomme, bleiben, was er ist: noch kein Christ, aber bestimmt kein Jude.« – »Es sei, wie du sagst, Herr König«, sagte Jehuda.

Sie standen sich gegenüber und maßen sich feindselig, argwöhnisch. »Ich trau dir nicht, mein Jehuda«, sagte ihm Alfonso ins Gesicht. »Du mußt mir einen Eid schwören.« – »Ich bin bereit, Herr König«, sagte Jehuda. »Aber es muß ein harter Eid sein«, fuhr Don Alfonso fort, »sonst bindet er dich nicht.«

Er hatte einen grimmigen Einfall. Es gab da einen alten Eid, welchen zu der Zeit, da er noch ein Knabe war, die Juden hatten schwören müssen, eine närrische und finstere Formel, mittels deren sie alles Böse auf sich herabschworen für den Fall des Wortbruchs. Später, auf Bitten der Juden und auf Betreiben Don Manriques, hatte er die Formel abgeschafft. Er erinnerte sich nicht des Wortlauts, aber daran, daß es ein abstoßender, furchterregender und gleichzeitig läppischer Eid gewesen war. »Es gibt solch einen harten Eid, ich weiß es«, erklärte er jetzt dem Jehuda. »Ihr habt ihn früher oft schwören müssen, und vielleicht war ich zu milde, als ich ihn euch erließ. Dir erlaß ich ihn nicht.«

Jehuda erblaßte. Er hatte gehört von dem schweren Kampf, den damals die Aljama hatte führen müssen, um von der demütigenden Zeremonie entbunden zu werden; sie hatte dafür viel Geld bezahlt. Es brannte ihn bitter, daß nun er so erniedrigt werden sollte. »Laß mich diesen Eid nicht schwören, Herr König«, bat er.

Der Widerstand des Juden überzeugte den König, daß er das rechte Mittel gefunden hatte, den Listigen zu binden. »Willst du wieder feilschen und dich drehen?« herrschte er ihn an. »Du schwörst mir den Eid, oder ich taufe das Kind noch heute.«

Die alte Formel wurde beschafft. Nicht ganz leicht war es, den rechten Mann zu finden, der Jehuda den Eid abnehmen könnte. Er mußte des Hebräischen kundig sein und zuverlässig, daß er nicht schwatze. Alfonso wandte sich an den Kaplan der Burg, jenen Priester, den er damals gefragt hatte: »Was ist Sünde?«

Der noch junge Herr, beglückt durch das Vertrauen des Königs, befangen durch die Lächerlichkeit und Schauerlichkeit der Zeremonie, nahm also in Gegenwart Alfonsos dem Minister den Eid ab.

Don Jehuda Ibn Esra mußte geloben, daß er bis zur Rückkehr des Herrn Königs das Kind seiner Tochter Doña Raquel in seinem jetzigen Stande belassen werde, weder gläubig noch ungläubig, weder Christ noch Jude. Jehuda mußte das beschwören bei dem Gotte, der mit seinem Finger seine Gesetze in Steintafeln geschrieben hatte, der einstmals Sodom und Gomorrha zerstörte, der der Erde befahl, die Rotte Korah zu verschlingen, der Pharao ersäufte mit Mann und Roß und Wagen. Und der Priester, gemäß der Formel, befahl ihm: »Und nun flehe Gott an, daß er, wenn du deinen Schwur brichst, auf dich herabsende alle die Plagen, die über die Ägypter kamen, und alle die Tochechot, die Flüche, die Gott über diejenigen verhängt hat, die seinen Namen und seine Gebote mißachten.« Und Jehuda mußte seine Hand legen auf die Schrift, auf das achtundzwanzigste Kapitel des Fünften Buches Mose, und der christliche Priester sprach ihm die Flüche vor. Satz um Satz sprach er sie ihm vor, hebräisch, und Jehuda mußte sie wiederholen, Satz um Satz, und der König folgte lustvoll und begierig dem lateinischen Text, Satz um Satz.

Und Jehuda flehte alle die wüsten Flüche herab auf sein Haupt. Und der König und der Priester sprachen: Amen.