Fünftes Kapitel

Wenige Tage vor der Schlacht von Alarcos waren in Toledo jene ersten achthundert Mann aragonischer Hilfstruppen angelangt, welche Don Pedro versprochen hatte. Ihr Befehlshaber meldete sich bei der Königin. Es war Gutierre de Castro.

Ja, der Castro hatte verlangt, als der erste nach Toledo geschickt zu werden. Die Castros, begründete er seine Forderung, hätten hervorragenden Anteil gehabt an der Eroberung Toledos, wovon heute noch ihr Castillo in dieser Stadt Zeugnis ablege, er wolle teilhaben auch an der Eroberung Córdovas und Sevillas. Der zögernde Don Pedro hatte dem mächtigen Vasallen die dringliche Bitte nicht abschlagen können. Da war er also in Toledo mit seinen ansehnlichen achthundert Mann und machte Doña Leonor seine Aufwartung.

Sie war tief und glücklich erstaunt. Mit fast abergläubischer Verehrung gedachte sie der weisen Mutter, die dem Castro seine Burg vorenthalten hatte, ihn zu reizen und zu locken. Sie begrüßte ihn strahlend liebenswürdig: »Ich freue mich, daß von unsern aragonischen Freunden du, Don Gutierre, der erste bist in Toledo.«

Don Gutierre stand vor ihr, gerüstet, in Haltung, wie alter Brauch es vorschrieb, mit gespreizten Beinen, beide Hände auf den Griff seines Schwertes gestützt. Der stämmige Herr rühmte sich, Abkömmling jener gotischen Fürsten zu sein, die, als die Moslems die ganze Halbinsel überschwemmten, in den Bergen Asturiens und Kantabriens ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten. Es saß ihm denn auch auf überaus breiten Schultern der runde Schädel, wie ihn viele Bewohner jener Berge aufwiesen, die Sattelnase, die tiefliegenden Augen. So stand er und schaute nieder auf die sitzende Königin, schaute ihr unverlegen ins Gesicht, nachdenkend, was ihre Worte bedeuten mochten.

»Ich hoffe«, fuhr Doña Leonor fort, »die Entscheidung, welche die Könige in deiner Streitfrage mit Kastilien trafen, hat dich befriedigt.« Sie sah zu ihm auf, sie prüften einander mit den Augen, fast unziemlich lange. Schließlich, die Worte wägend, sagte mit seiner etwas quäkenden Stimme Don Gutierre: »Mein Bruder Fernán de Castro war ein großer Ritter und Held, meine Seele hing an ihm. Keine Buße ersetzt ihn mir, und schon gar nicht ersetzt ihn mir das Geld, das man mir zahlte. Als ich das Kreuz nahm, schwor ich, allen Haß aus meinem Herzen zu reißen, und so will ich’s halten und will dem König von Kastilien gehorchen, nach dem Auftrag meines Herrn von Aragon. Aber ich sag’s dir offen, Frau Königin, leicht fällt mir das nicht. Es kränkt mich, unter den ersten Dienern Don Alfonsos einen Mann zu wissen, der den Speichel nicht wert ist, den ich ihm ins Gesicht spucken möchte, und der sich spreizt in der Burg meiner Väter.«

Doña Leonor, die grünen Augen immer voll auf ihm, erwiderte sanft, entschuldigend: »Die Könige haben reiflich beraten, ehe sie sich entschlossen, dem Manne das Castillo zu lassen.« Und sie erläuterte: »Kriege, edler Don Gutierre, können heute nicht mehr geführt werden wie in den Tagen der Väter. Ein Krieg erfordert viel Geld, es zu beschaffen viel List, manchmal böse List, und der Mann, von dem du sprichst, verfügt über solche List. Glaub mir, mein lieber, edler Don Gutierre, ich verstehe deine Gefühle, ich fühl es mit, wenn es dich kränkt, daß dieser Mann in deinem Castillo sitzt.« Sie sah seine aufmerksamen, erwartungsvollen Augen. Jetzt laß ich den Fraß vor dem Falken baumeln, dachte sie, und langsam schloß sie: »Wenn erst der Krieg recht im Gange ist, dann wird man den Mann und seine List kaum mehr nötig haben.«

Er fragte nach ihren Aufträgen. »Vorläufig wird es gut sein«, sagte sie, »wenn du mit deinen Leuten hier in Toledo bleibst. Ich werde dem König von deiner Ankunft berichten und seine Weisung einholen. Wenn es nach mir geht, dann bleibt ihr hier. Die Stadt ist von Truppen entblößt, und es wäre mir Beruhigung, gute Männer hier zu wissen, denen ich vertraue.« Don Gutierre verneigte sich tiefer, als er’s gewohnt war. »Ich danke dir für deine gnädigen Worte, Dame«, sagte er.

Er verabschiedete sich voll Verehrung und hohen Mutes. Diese Doña Leonor war in Wahrheit eine große Königin.

Triumphierend ritt er durch die engen, steilen Gassen Toledos, ein geehrter Gast und Held in der Stadt, aus der er verbannt worden war, und oft in dieser heißen Sommerwoche, mit Augen des Hasses und der Hoffnung, ritt er vorbei am Castillo de Castro.

Es kam der Tag, da schon am frühen Morgen alle Glocken läuteten in Toledo, der Tag der großen Schlacht. Und es kam die Nacht, und noch in der Nacht finstere, verworrene Gerüchte, die Schlacht sei verloren. Und es kam der nächste Morgen und mit ihm erschreckte Flüchtlinge aus dem Süden, immer mehr, und aus den Teilen Toledos, die außerhalb der Mauern lagen, drängte es herein in die überfüllte Stadt, und es häuften sich die schauerlichen Nachrichten. Der Ordensmeister von Calatrava erschlagen, der Erzbischof schwer verletzt, achttausend Calatrava-Ritter erschlagen, über zehntausend andere Ritter, Fußvolk unzähliges.

Doña Leonor wahrte Ruhe. Die Gerüchte waren Wahnwitz. So konnte es nicht sein. So durfte es nicht sein. So hatte sie sich die Niederlage nicht gedacht.

Don Rodrigue, unter den Kronräten der einzige, der in Toledo geblieben war, kam zu ihr, das magere Gesicht verbissen in Leid und Wut. Sie mühte sich, ihn gelassen zu empfangen. »Man berichtet mir«, sagte sie, »der König Unser Herr habe bei seinem Ausfall aus der Festung Alarcos schwere Verluste erlitten. Hast du genauere Nachricht, Hochwürdiger?« – »Wach auf, Frau Königin!« rief Rodrigue sie an, zürnend. »Don Alfonso hat eine große Schlacht verloren. Der Feldzug ist verspielt, bevor er anfing. Die Blüte der kastilischen Ritterschaft ist hin. Der Großmeister von Calatrava ist tot, der Erzbischof von Toledo schwer verwundet, der weitaus größte Teil der Barone und Ritter liegt erschlagen auf dem ›Gebreite der Arroyos‹. Was die christlichen Könige dieser Halbinsel in hundert Jahren mit einem Meer von Schweiß und Blut erkämpft haben, wurde an einem einzigen Tage vertan um einer ritterlichen Laune willen.«

Die Königin war erblaßt. Mit einem Male erkannte sie: so war es. Aber sie wollte es vor diesem nicht wahrhaben; sie wurde Fürstin ganz und gar. »Du vergißt dich, Don Rodrigue«, wies sie ihn zurecht. »Aber ich begreife deinen Kummer und will nicht mit dir rechten. Sag mir lieber: was soll ich tun, was kann ich tun?«

Rodrigue sagte: »Die Kriegskundigen nehmen an, Don Alfonso werde Calatrava eine kleine Weile halten. Laß es deine Sorge sein, Frau Königin, in dieser Zeit Toledo vorzubereiten für die Belagerung. Du bist klug und bewährt in Dingen der Verwaltung. Halte die Stadt ruhig. Sie fließt über von Flüchtlingen und Verzweifelten. Sie wollen um sich schlagen, wollen totschlagen. Sie bedrohen die christlichen Araber. Sie bedrohen die Juden.«

In ihrem Innersten hatte Doña Leonor darauf gewartet, dergleichen zu hören, vielleicht hatte sie sich danach gesehnt. Sie antwortete: »Ich werde tun, was ich kann, Toledo ruhig zu halten.«

Don Ephraim, der Párnas der Aljama, saß in schwerer Sorge. Der Sieg von Alarcos öffnete dem Kalifen die Straßen der Halbinsel. Toledo lag den Moslems preisgegeben, die die Juden aus Córdova und Sevilla ausgetrieben hatten. Seit den Zeiten der Gotenkönige war kein solches Unheil über die Juden des Sepharad gekommen.

Und was wird die nächste Zukunft bringen? Wüste Gerüchte gingen um in Toledo. Niemals, hieß es, hätte das glänzende christliche Heer geschlagen werden können, wäre nicht Tücke und Verräterei am Werk gewesen. Der Jude, der Freund des Emirs von Sevilla, hatte mit den Moslems gezettelt, ihnen die Kriegspläne der Christen verraten, die Stärke der einzelnen Heeresgruppen, die Stellungen. Der König hatte sich nicht losgemacht aus den Schlingen der Jüdin, die eine Abgesandte des Teufels war, und nun hatte die Strafe des Himmels ihn erreicht, ihn und das Land.

In der Judería drückten sich die Menschen noch enger aneinander als sonst. Die Juden, die außerhalb lebten, drängten herein in den Schutz ihrer festen Mauern. Schwere Angst lag über der Aljama.

Don Ephraim bat die Königin um gnädiges Gehör. Die waffenfähigen Bürger waren aufgerufen worden, die Mauern der Stadt zu verteidigen. Don Ephraim bat, es möge der Aljama erlaubt sein, die fünfzehnhundert Mann, über die sie noch verfüge, zur Verteidigung der Judería zurückzuhalten. Er führte aus, die große Anzahl der jüdischen Soldaten, die in der Schlacht vor Alarcos gefallen seien, beweise die Bereitschaft der Juden von Toledo, das Leben für den König zu opfern. Nun aber sei die Aljama bedroht von solchen, die sich durch unsinnige Gerüchte hätten aufhetzen lassen, und benötige dringend ihre Männer und ihre Waffen.

Hinter Doña Leonors hoher Stirn jagten sich die Gedanken. Der einmalige, ersehnte Tag war da; jetzt galt es, vorsichtig zu sein, anzudeuten, doch sich nicht preiszugeben.

Das Volk von Toledo, antwortete sie, erblicke in dem unseligen Ausgang der Schlacht eine Strafe Gottes und suche nach den Schuldigen. Niemand verdächtige die Männer der Aljama, die bekannt seien als treue Freunde des Königs. Nichts aber wisse man von den Fremden, von jenen fränkischen Flüchtlingen, welche der König Unser Herr in übergroßer Güte ins Land gelassen habe, und mit unguten Augen schaue man auf den Mann, der den schlechten Rat erteilt habe, auf den Escrivano Don Jehuda Ibn Esra. Überdies sei Don Jehuda bei all seinen Verdiensten ein stolzer, um nicht zu sagen hoffärtiger Herr, und sein Glanz in währendem Heiligem Krieg entfache den Zorn vieler einfacher Bürger. Das müsse ein so kluger Mann wie der Vorstand der Aljama verstehen.

Den Párnas verdroß es, daß die Königin den Mann verleugnete, der, von ihr selber gerufen, dem Lande Segen gebracht hatte. »Du rätst uns, Frau Königin«, fragte er behutsam, »uns loszusagen von Don Jehuda Ibn Esra?« – »Nicht doch, Don Ephraim«, antwortete schnell Doña Leonor. »Ich versuche nur, zu ergründen, gegen welche unter den Juden sich der Unmut des Volkes richtet.« – »Verzeih, Frau Königin, dem lästigen Frager«, bestand Don Ephraim, »aber ich möchte deine Majestät in dieser wichtigen Sache nicht mißverstehen. Geht deine Meinung dahin, daß wir uns trennen sollen von Don Jehuda?« Die Königin, frostig, unverbindlich, erwiderte: »Eure Gefahr scheint mir gering, und wäre nicht Don Jehuda, dann wäre auch nicht der Schatten einer Gefahr.« Und nach einem etwas peinlichen Schweigen, mit leiser Ungeduld, schloß sie: »Sei dem, wie ihm sei, Don Ephraim, verwende du deine waffenfähigen Männer zum Schutz der Judería oder zum Schutze Toledos; ich überlasse es deinem Gutdünken.« Ephraim verneigte sich tief und ging.

Er ging zu Jehuda.

»Es tut mir leid, Don Jehuda«, begann er, »dich noch im Castillo Ibn Esra vorzufinden. Es gibt schwerlich einen Ort, der dir heute weniger Schutz böte.« Sie wollen mich aus den Mauern haben, dachte Jehuda bitter, sie wollen mich los sein, und mit spöttischer Höflichkeit erwiderte er: »Seit deiner ersten gütigen Warnung habe ich mehrmals bedacht, ob ich mich nicht mit meiner Tochter und meinem Freunde Musa aus dem Lande machen sollte. Aber der König Unser Herr ließe mich verfolgen. Glaubst du das nicht auch, Don Ephraim? Und ich sehe nicht, wie ich mich durch das riesige Gebiet der Christenheit heil in den Bereich des Sultans durchschlagen könnte. Ihr müßt meine Anwesenheit in Toledo verzeihen, du und die Aljama.«

Ephraim sagte: »Die Judería hat gute Mauern und fünfzehnhundert waffenfähige junge Männer, sie zu verteidigen. Sie scheint mir heute die rechte Stätte für dich, Don Jehuda.«

Jehuda verbarg nicht seine Überraschung; er erkannte sogleich die ganze Großmut dieses Angebots. »Vergib mir meinen törichten Spott«, sagte er mit ungewohnter Wärme. »Ich habe nicht viele Freunde gefunden in meinem Leben, ich hatte so viel Menschlichkeit nicht erwartet.« Erregt, der sonst so Beherrschte, ging er auf und ab. Blieb vor Ephraim stehen, redete auf ihn ein, und nun sprach er hebräisch: »Aber hast du auch bedacht, mein Herr und Lehrer Don Ephraim, wie viel von ihrer Sicherheit die Judería verliert, wenn sie mich beherbergt?« Ephraim antwortete: »Es sei ferne von uns, einem Manne, der uns so viel Gutes erwiesen hat, unsere Tore zu verschließen in den Tagen der Bedrängnis.«

Jehuda, voll von zwiespältigen Gefühlen, fragte: »Gilt diese Einladung auch für Doña Raquel?« Ephraim, nach einem winzigen Zögern, erwiderte: »Sie gilt auch für deine Tochter.« Er drängte: »Es geht um dein Leben, Don Jehuda; du bist klug und weißt es so gut wie ich. Wir werden vielleicht für deine Rettung mit Blut zahlen müssen; du hast es gesagt, und ich widerspreche dir nicht. Aber wir sind überzeugt, das Opfer wird Gott wohlgefällig sein. Du hast dich zu uns bekannt freien Willens und als es hohen Einsatz kostete. Ich bitte dich, sei nicht stolz in dieser Stunde. Gib uns Gelegenheit, dir zu vergelten.«

Jehuda sagte. »Ihr seid opferwillige Leute, und ich bin versucht, eure Einladung anzunehmen. Denn mein Herz ist voll Angst, ich leugne es nicht. Aber etwas in mir hält mich zurück. Ich könnte mir und dir vormachen, ich möchte euch nicht gefährden; aber das ist der Grund nicht. Auch mein Stolz ist nicht der Grund; bitte, glaub es mir. Es ist ein Tieferes. Sieh, noch ganz zuletzt hat dieser König mich gezwungen, mein Siegel zu setzen neben das seine unter jenes freche Schreiben an den Kalifen. Da hab ich von neuem erkannt: mein Schicksal ist nun einmal verflochten mit dem dieses Königs von Edom. Ich habe ein hohes Spiel gespielt, aber ich will nicht davonlaufen am Tage der Rechenlegung.« – »Bedenk es noch einmal«, beschwor ihn Ephraim. »Du läufst Adonai nicht davon, wenn du untertauchst in seinem Volke, zu dem du dich bekannt hast unter Opfern. Es ist spät, Don Jehuda. Morgen wird vielleicht keine Zeit mehr sein, dieses Haus zu verlassen. Komm mit mir. Nimm deine Tochter und komm.«

Jehuda sagte: »Du bist ein mutiger, gütevoller Mann, Don Ephraim, und ich danke dir, Gott erhöhe deine Kraft. Aber ich kann mich jetzt nicht entscheiden. Ich weiß, die Stunde verrinnt. Aber ich kann nur meinem eigenen Herzen folgen, ich kann jetzt nicht mit dir gehen.«

Ephraim, in schwerer Trübsal, sagte: »Ich schicke dir später nochmals einen Boten, und ich hoffe, du besinnst dich anders und kommst zu uns, du und deine Tochter. Der Allmächtige lenke dein Herz zur rechten Entscheidung.«

Jehuda, sich überwindend, sagte: »Bevor du gehst, mein Herr und Lehrer Ephraim, laß mich dich noch um eines bitten. Mein Enkelkind ist in Sicherheit, doch weiß ich nicht, wie lange diese Sicherheit währt. Ich weiß nicht einmal genau, wo das Kind heute ist. Der einzige, der darum weiß, ist mein Ibn Omar, den du kennst. Du wirst ihn ausfindig machen, wenn die Läufte ruhiger sind. Ibn Omar ist ein verständiger Mann, er weiß um meine Absicht und um meinen Willen, er wird dir Rede stehen. Der König von Edom will sein Söhnchen, meinen Enkel, zum Grafen von Olmedo machen. Sieh zu, daß der Knabe vor ihm verborgen bleibt. Sieh zu, daß er kein Meschummad wird. Laß den Knaben nicht wissen, wes Vaters Sohn er ist. Schütze ihn vor Edom und dem Glauben Edoms.«

»Das werde ich tun, Don Jehuda«, versprach ihm Ephraim. »Und wenn die rechte Zeit kommt, werde ich den Knaben wissen lassen, daß er ein Ibn Esra ist.« Er wandte sich, zu gehen. »Der Herr sei mit dir, Jehuda«, sagte er. »Ich bin dir sehr freund. Wenn wieder einmal Hader zwischen uns sein sollte, dann denk an diese Stunde, und auch ich will daran denken. Und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten, dann wisse, daß viele Tausende deines Volkes dein Andenken segnen. Sei Friede mit dir, Jehuda.« – »Mit dir sei Friede, Ephraim«, sagte Jehuda.

Jehuda, nachdem ihn Ephraim verlassen hatte, hockte lange wie ausgeleert. Er bereute es nicht, daß er Ephraims Angebot abgelehnt hatte, er war ein mutiger Mann. Aber er hatte viele Menschen sterben sehen und wußte genau, worum es ging. Er wußte: das arabische Wort, welches den Tod den Vernichter aller Dinge nannte, war mehr als hohler Schall, und schämte sich nicht, zu zittern, wenn er an die schwarze Leere dachte, in die er fallen sollte.

Es war ihm Erleichterung, daß Ephraim seine Antwort nicht als endgültig ansah. Immer neue Bedenken kamen ihm. Riß er nicht die Tochter mit in den Untergang? Er mußte sie fragen, bevor er endgültig wählte. Ihrer Entscheidung wird er sich fügen.

In dürren Worten sprach er ihr von dem Tod, der jetzt hier in Toledo überall nach ihnen griff, und von dem Angebot Ephraims, sie in die Sicherheit der Judería aufzunehmen.

Raquel hatte von der Niederlage Alfonsos gewußt, aber erst jetzt, da der Vater sprach, erkannte sie ihren ganzen, furchtbaren Umfang. Sie spürte grauenvolle Angst für sich und den Vater, aber mehr noch Mitleid mit Alfonso. Dieser Mann, dieser König, der nichts war als Strahlen und Sieg, konnte er den Zusammenbruch überstehen? Und während sie spöttisch und zärtlich dachte: Nun wird er mir nicht mein Sevilla zeigen, der Arme, Unselige, sah sie vor sich sein Gesicht, trotzig, wütend, voll von fressendem Leid. Und gleichzeitig jubelte es in ihr: Nun wird er bald, sehr bald wird er in der Galiana zurück sein. Er hat es mir versprochen. Und kein Panzer und Eisen wird mehr um ihn sein, und meine Worte werden eingehen in seine Brust.

Ohne Zögern, sowie Jehuda zu Ende gesprochen hatte, antwortete sie: »Es ist mir nicht erlaubt, in die Judería zu gehen, mein Vater. Don Alfonso hat mir aufgetragen, in der Galiana auf ihn zu warten.«

Es traf den Jehuda ins Herz, daß sie an nichts anderes dachte als an den Wunsch Don Alfonsos. Er sagte: »Da es so dein Wille ist, meine Tochter, gehe auch ich nicht in die Judería.« Doch sprach er nicht mit der gewohnten Entschiedenheit, vielmehr schaute er ihr prüfend in das stille Gesicht. Noch war in ihm eine kleine Hoffnung, sie werde widersprechen: Nein, mein Vater, ich will nicht, daß du untergehst. Ich will, daß du lebst. Ich folge dir, wie immer du entscheidest. Aber sie sagte nichts, und er dachte bitter: Ich selber habe sie dem Manne übergeben. Ich habe sie dem Manne zugetrieben. Ich darf nicht klagen, wenn sie mich jetzt sterben läßt, ehe sie handelt gegen den Wunsch des Mannes.

Plötzlich, aufleuchtend, bat sie: »Komm doch du zu mir, mein Vater. Komm du zu mir in die Galiana.« Er ahnte, was in ihr vorging, ihr lebendiges Gesicht ließ es ihn wissen. Sie hatte begriffen, in welcher Gefahr sie beide waren, aber trotzdem glaubte sie, in der Galiana sei Sicherheit; sonst hätte Alfonso ihr nicht aufgetragen, dort zu bleiben. Er, Jehuda, wußte: dies war Traum und Wahn; er wußte: sie gefährdete ihn, er sie, keiner konnte keinem helfen. Aber es war eine tröstliche Vorstellung, zusammenzusein in der äußersten Stunde, und er zerstörte nicht ihren Traum.

Er willigte ein, noch in dieser Nacht mit ihr in die Galiana zu gehen.

Er forderte Musa auf, mitzukommen. Der fand es begreiflich, daß Raquel in der Galiana bleiben, und auch, daß Jehuda die Tochter begleiten wollte. Für ihn selber aber, meinte er, habe es keinen rechten Sinn, in solcher Lage den Ort zu wechseln. »Laß mich hier bei unsern Büchern«, bat er. »Es wäre ein Unrecht, sie ohne Hüter zu lassen. Vielleicht wäre es gut«, erwog er und belebte sich, »zwei oder drei der kostbarsten Manuskripte in die Judería zu schaffen. Wie gut, daß der Sefer Hillali schon dort ist.«

Jehuda und Musa saßen nach dem frühen Abendessen noch zusammen, redend, trinkend. Um sie war der Duft der vielen Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie sprachen von ihrer Bedrängnis mit der Sachlichkeit erfahrener Männer. Sie sprachen mit leiser, spöttischer Ehrerbietung vom Tode.

Musa stand an seinem Schreibtisch, kritzelte Kreise und Arabesken und meinte: »Es sind nicht Alfonsos Sterne, die ihn und uns in diese peinliche Situation gebracht haben: es ist sein Wesen, es ist sein Rittertum. Das Rittertum und die Pest sind die schlimmsten Geißeln, mit denen Gott seine Geschöpfe züchtigt.«

Jehuda konnte nicht anders, er mußte dem Freunde noch erzählen, mit welcher Wärme Don Ephraim seine Verdienste gerühmt hatte. »Nun haben es die Juden doch noch eingesehen«, sagte er bescheiden stolz, »daß es nicht Sucht nach Ehre, Reichtum und Glanz war, was mich ihnen helfen hieß.« Musa pflichtete wohlwollend bei: »Ich habe es miterlebt und weiß, daß du oft nicht nur aus Ehrsucht, sondern auch aus Großheit des Herzens gehandelt hast.« In seiner freundlich lehrhaften Art erläuterte er: »Gleich ihren Krankheiten, heißt es bei Hippokrates, haben auch die Handlungen der Menschen selten nur einen Grund, es hat vielmehr jede einzelne Handlung mannigfache Wurzeln.« Jehuda erwiderte lächelnd: »Verschwenderisch mit Lob bist du nicht, mein Freund Musa.«

Ihr Gespräch vertröpfelte. Sie, denen sonst das Wort so leicht vom Munde floß, wurden immer ärmer an Worten, je näher die Minute rückte, da Jehuda gehen mußte. Als er aufbrach, schwiegen sie vollends und drückten einander nur die Hand.

Dann aber, unversehens und ungeschickt, umarmte Musa den Jehuda; niemals hatte er dergleichen getan. Und als Jehuda gegangen war, stand er noch lange an derselben Stelle, mit hängenden Armen, vor sich hin zur Erde schauend.

Als Jehuda des andern Morgens in der Galiana erwachte, fand er sich einen Augenaufschlag lang nicht zurecht. Dann wußte er, wo er war und was gegen dieses Haus andrängte. Doch nun fürchtete er sich nicht mehr; in ihn eingekehrt war eine große Ruhe, er spürte jene Ergebung in das Schicksal, die Musa ihm so oft gepriesen hatte.

Er schloß die Augen und lag noch eine Weile still. Vom Patio her kamen Vogelstimmen, ein paar dünne Sonnenstrahlen kletterten durch die Ritzen der Fensterläden ihm übers Gesicht. Er lag, labte sich an der Stille. Bis jetzt hatte er immer geglaubt, rechnen und planen zu müssen, für sich und die andern; nun endlich, zum erstenmal, spürte der ruhende Mann, was Frieden ist, spürte es mit allen Gliedern, weidete sich daran.

Er stand auf, badete, machte sich zurecht, langsam, sorgfältig. Ging auf leisen Sohlen durch Haus und Garten. Nahm wahr die hebräischen und arabischen Spruchbänder an den Wänden. Nahm wahr, daß einer das Glas der Mesusa zerschlagen und die Zisternen des Rabbi Chanan zugeschüttet hatte. Für einen Augenblick war eine wilde, zornige Eifersucht in ihm. Sogleich aber schüttelte er den Kopf über sich selber, und aus seinem Unmut wurde wissende Freude, daß in den Tagen, die noch blieben, Raquel ihm gehörte, nicht dem andern.

Er saß am Rande des kleinen Teiches, halb liegend, wie er damals auf den Stufen der Fontäne gesessen war. Genoß es, daß er an keine Zukunft mehr denken, keine Entschlüsse mehr fassen mußte. Wog, was geschehen war, und in der Erinnerung war alles gut, das Frohe und das Üble. Er dachte an die frommen, besessenen, verachtungsvollen Augen des Rabbi Tobia, und der Gedanke erzürnte ihn nicht und beschämte ihn nicht.

Auch seines Sohnes Alazar dachte er. Bisher, mit hartem Willen, hatte er die Erinnerung nicht in sein Bewußtsein emporsteigen lassen. Unbewegten Gesichtes hatte er gehört, daß des Königs Schildknappe getötet worden war in der Schlacht von Alarcos, er hatte nicht weiter gefragt, ihm war der Knabe seit langem gestorben. Jetzt, sitzend am Rande des Teiches in der Galiana, gedachte er des Sohnes mit Trauer und ohne Groll.

Ein Diener kam, ihn zu Raquel zu rufen. Sie frühstückten unter gutem, gleichmäßigem Gespräch. Mit keinem Wort erwähnten sie ihre Gefahr. Hierher in die Galiana drang nicht die Unordnung der Stadt Toledo. Friede war um sie. Haus und Garten waren gepflegt, Speisen in reicher Auswahl standen bereit, lautlose Diener warteten auf Befehle.

Nach wenigen Stunden war ihnen, als hätten sie hier in wochenlanger Gemeinsamkeit gelebt. Sie ergingen sich im Garten, oder sie genossen die Kühle des Hauses, sie suchten einander und ließen sich wieder allein.

Sie hatten noch drei Tage zu leben, aber das wußten sie nicht. Sie sahen, wie die Sonnenuhr die Stunden zählte, wie die Schattenweiser vorrückten, und tief in seinem Innern wußte Jehuda: es waren ihre letzten Stunden, die da gezählt wurden; allein er ließ diese Wissenschaft ihre erfüllte Stille nicht beunruhigen.

Raquel ihresteils hatte jenes Gespräch mit ihrem Vater gut und mehrmals überdacht und wußte um ihre Bedrohtheit. Aber sie glaubte nicht daran. Alfonso hatte gesagt: Warte auf mich. Alfonso wird kommen. Es konnte nicht sein, daß der Tod, der Zerstörer aller Dinge, sie anrührte, bevor Alfonso kam. Sie stieg hinauf zu dem Ausblick, von dem sie die Straße übersehen konnte, die von Toledo herunterführte. Sie wartete heiß und zuversichtlich.

Am zweiten Tag kam Don Benjamín in die Galiana, mit Gefahr des Lebens, als Bote Don Ephraims. In glühenden Worten beschwor er Jehuda und Raquel, sich in den festen Schutz der Judería zu begeben. Es quälte und beglückte Jehuda, daß sie ein letztes Mal versucht wurden. Aber Raquel sagte sanft und bestimmt: »Don Alfonso hat mir befohlen, hier zu bleiben. Ich bleibe. Du, mein Freund Don Benjamín, wirst mich begreifen.«

Benjamín, so scharf ihn ihre Worte peinigten, verstand sie. Ihre Seele blieb verbunden mit diesem Ritter, dem König von Edom, dem Manne des Krieges. Das Elend, das sein ruchlos verspieltes Heldentum über die Halbinsel gebracht hatte, trübte ihr nicht seinen Glanz. Sie liebte ihn weiter, sie glaubte weiter an ihn, sie lehnte, weil er ihr herrscherhaft ein paar freundliche Worte hingeworfen hatte, die Zuflucht der Judería ab. Mehr als das: Doña Raquel, diese Raquel, wie er sie sanft und stolz dastehen sah, schien ihm gar nicht mehr denkbar unter dem Volk der Judería. Neid, Bosheit, widerwillige Bewunderung, Schmähsucht, Neugier würde dort um sie herum sickern und sudeln. Nein, sie war nicht denkbar inmitten all des kleinen Unflats.

Er sagte: »Ich werde nicht weiter in dich drängen, Doña Raquel, und nicht in dich, Don Jehuda. Aber laßt mich hierbleiben bis zur Nacht. Dann will ich zurückkehren ohne euch.«

Er blieb und erwies sich als unaufdringlicher, einfühlsamer Gast. Er spürte es, wenn Jehuda mit Raquel allein sein wollte, und war zur rechten Zeit wieder da. Bald waren sie zu dreien, bald saß Jehuda mit Raquel in ihrem Zimmer, bald ging Benjamín mit ihr die Kieswege des Gartens entlang.

Raquel war einsilbig, aber ihre Stummheit schien Benjamín beredter als Worte. Er versuchte, sie zu zeichnen. Gab es auf. Es war Vermessenheit, mit Gott wetteifern zu wollen, der diese geschaffen hatte. Wer durfte, und wäre er der Meister der Meister, daran denken, Raquels innere Harmonie wiederzugeben, die tiefe Übereinstimmung von Gestalt, Gesicht, Bewegung? An ihr offenbarte sich die Lehre des Plato: »Die Schönheit steht nicht höher als die andern Ideen, aber sie leuchtet durch das Auge, den hellsten unserer Sinne, heller als alle andern Urbilder durch die Körperlichkeit.« Sie war ein Gleichnis, Raquel, ein Gleichnis dessen, was den Menschen beglückt und erhöht. Ein jeder, wenn er sie nur vorübergehen sah, mußte besser werden. Dieser rohe und ritterliche König war der einzige, der nicht besser geworden war durch sie – und darum der einzige, den Benjamín an diesem Tage haßte. Er spürte schmerzhaft, wie Raquel noch immer hoffte, den Un-Menschen zu vermenschlichen, und er liebte sie noch mehr um diesen ihren kindlichen, unzerstörbaren Glauben.

Am späten Nachmittag saßen Jehuda und Benjamín am Rande des Teiches. Es war sehr heiß, doch hier schien die Hitze weniger drückend; sie kühlten die Füße im Wasser und erfreuten sich der Kühlung. Es war dies aber am zweitletzten Tage vor Jehudas Tod.

Und Jehuda bat: »Sag mir doch, mein junger, der Schrift und vielen andern Wißtums kundiger Don Benjamín: wie denken deine Lehrer, und wie denkst du selber über das Fortleben nach dem Tode?«

Don Benjamín schaute zu, wie die Mücken über dem Teich tanzten, sah ein Blatt ins Wasser fallen, schwimmen, ein wenig treiben. Legte sich seine Antwort zurecht. Sagte: »Es lehrt Unser Herr und Lehrer Mose Ben Maimon: Anteil an der Unsterblichkeit hat nur ›der erkennende Teil‹ des Menschen. Nur ›der erworbene Verstand‹ überlebt den Körper, nur jener kleine, edelste Teil der menschlichen Seele, der sich ehrlich und mit Erfolg um die Erforschung der Wahrheit bemüht hat. So lehrt Mose Ben Maimon.«

Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Aber im Talmud heißt es: Um des Friedens willen darf sogar die Wahrheit geopfert werden.«

Der Abend fiel ein. Benjamín verzögerte den Abschied. Doch der blasse, dünne Mond färbte sich stärker, und nun mußte er wohl gehen.

Jehuda und Raquel begleiteten ihn zum Tor. »Sei Friede mit euch«, sagte er. An der Biegung des leise ansteigenden Weges wandte er sich um. Im unsichern Licht flirrte die Inschrift Alafia, Heil, Segen. Jehuda und Raquel waren nicht mehr da.

Immer heißer wurde die Gier des Volkes von Toledo, die Niederlage von Alarcos an den Schuldigen zu rächen. Nur wenige konnten sich dem heilig wilden Eifer entziehen, dessen die Luft voll war. Wo sich Juden außerhalb der festen Mauern der Judería sehen ließen, wurden sie mißhandelt; mehrere wurden erschlagen. Auch von den christlichen Arabern wurden einige übel zugerichtet. Strengere Schutzmaßnahmen waren geboten.

Die Königin berief Don Gutierre de Castro.

Sie habe Bedenken, eröffnete sie ihm süß und tückisch, die Sicherheit der vielen Bedrohten weiter kastilischen Offizieren anzuvertrauen; diese seien gereizt durch den Verlust von Brüdern und Söhnen und nicht geneigt, Menschen zu verteidigen, welche das Volk, zu Unrecht, für schuldig an dem Unglück halte. Es sei deshalb ein Aragonier wohl besser geeignet, Unruhen in der Stadt zu verhüten. »Tu du mir den Dienst, Don Gutierre!« verlangte sie. Sie schaute ihm mit den grünen Augen voll ins Gesicht und nestelte an ihrem Handschuh. »Ich weiß«, fuhr sie fort, »es ist keine leichte Aufgabe, und vielleicht wird es nicht möglich sein, unter den vielen Tausenden einen jeden zu schützen. Ich kann mir Fälle vorstellen, da man besser einen einzelnen preisgibt im Interesse der vielen Tausende.«

Der Castro dachte nach. Dann, auf seine langsame Art, antwortete er: »Ich glaube, ich verstehe dich, Dame. Ich will mein Bestes tun, mich deines Vertrauens würdig zu zeigen.« Er neigte sich tief und ehrerbietig und nahm, zärtlich geradezu, den Handschuh.

Kaum hatte der Castro die Königin verlassen, als ihr der Domherr gemeldet wurde. Jener wilde Unmut, der Don Rodrigue schon einmal zu ihr getrieben hatte, war nicht von ihm gewichen. Er sah mit Zorn und Schmerz, wie hilflos er war vor der wüsten Tollheit, welche die Stadt durchbrannte. Er mußte Doña Leonor von neuem mahnen und treiben.

In dringlichen Worten forderte er sie auf, die Unschuldigen zu schützen. Sie, mit fürstlich liebenswürdigem Vorwurf, erwiderte: »Glaubst du wirklich, mein sehr verehrter Vater und Freund, Gott habe eine so Unfähige auf den Thron von Kastilien gesetzt, daß sie einer solchen Mahnung bedarf? Was geschehen konnte, ist geschehen. Ich habe von der Aljama keinen einzigen Mann für die Stadtmauern verlangt, so daß die Juden ihre ganze starke Schutztruppe zur eigenen Verteidigung verwenden können. Im übrigen habe ich zu guter Vorsicht den Schutz aller Bedrohten den Aragoniern anvertraut, damit nicht etwa ein kastilischer Ritter mild und langsam gegen die Unruhestifter vorgehe. Hab ich dir’s recht gemacht, Don Rodrigue?«

Der Domherr wußte, daß sich der Zorn der Leute von Toledo vor allem gegen Don Jehuda richtete, und er hätte gern auch nach ihm gefragt. Am liebsten wäre er ins Castillo gegangen und nicht nur aus Freundschaft für Jehuda; immer heißer verlangte es ihn, mit dem weisen Musa die wüsten Dinge zu bereden, die sich ringsum ereigneten. Aber hatte er nicht zur Kasteiung für jene Menschlichkeit, die ihm in dieser Zeit untersagt war, sich’s auferlegt, das Castillo zu meiden? Und wenn er sich jetzt um Jehuda Sorgen machte, war dies nicht vielleicht nur ein Vorwand, ins Castillo zu gehen? Wenn einer, dann war der weltkundige Don Jehuda Manns genug, sich selber zu schützen. Überdies war es undenkbar, daß sich ein Kastilier vergreifen sollte an Leib und Habe eines Kronrats des Königs. Vor den fürstlichen, etwas spöttischen Augen Doña Leonors schien es ihm doppelt lächerlich, Angst um den Escrivano zu bezeigen. Er dankte der Königin für ihre Umsicht und ging.

Don Gutierre de Castro, sich seines Auftrages wachsam und genau befleißend, vergewisserte sich zunächst, wie es um die christlichen Araber stand. Sie lebten in ihren gesonderten Quartieren um ihre drei Kirchen herum, zumeist kleine Leute. Es konnte die Menge kaum reizen, sich mit ihnen abzugeben, man hatte denn auch von ihnen abgelassen. Immerhin, ihre Mauern und Tore waren schwach, der Castro legte zwei Fähnlein in ihre Quartiere. Sodann überzeugte er sich von der Festigkeit der Mauern und Tore der Judería. Sie waren fest, ungeordnete Massen konnten sich hier schwerlich Eingang erzwingen. Trotzdem fragte der Castro den Párnas, ob er ihm welche von seinen Bewaffneten abgeben solle; Don Ephraim lehnte höflich dankend ab.

Die Judenviertel vor dem Tor waren geräumt, nur ein paar Alte und Kinder waren geblieben. In vielen der leeren Häuser hatten sich christliche Flüchtlinge einquartiert. Die Häuser, aus denen es etwas zu holen gab, waren geplündert. In der Synagoge war alles kurz und klein geschlagen. Auf dem Almemor, der Estrade, von der am Sabbat die Heilige Schrift verlesen wurde, hatte ein Spaßvogel eine Puppe aufgestellt, die Spottfigur eines alten Juden; der Castro lachte herzlich.

Gab es hier wenig für ihn zu tun, so schien ihm der übernommene Auftrag verfänglicher, wenn er vor dem Castillo stand.

Er stand dort oft. Viele standen oft dort. Da sie in die Judería nicht hineinkonnten und es nicht der Mühe wert war, über die paar kläglichen Verdächtigen außerhalb der Mauern herzufallen, lockte es die Leute von Toledo immer stärker, ihren heiligen kastilischen Zorn an dem üppigen Haus und seinen märchenhaften Schätzen auszulassen. Man mußte das frech glänzende Castillo in Trümmer schlagen. Man mußte den Betrüger und Verräter, der, eine schwarze Spinne, darin saß, fangen und zertreten, mitsamt seiner Tochter, der Hexe, die den König behext hatte. Das war ein gottgefälliges Werk und die rechte Labe für Herz und Gemüt in diesen trübseligen Zeiten. Der Castro fand also, wann immer er an dem Haus vorbeikam, Haufen Volkes, die gierig und gelockt die Mauern anstarrten.

Langsam und plump wälzten sich in dem Castro die Gedanken. War der Jud frech genug und wohnte noch in dem Haus? Der Jud war ein Feigling, aber eingebildet auf seine Stellung und ein Prahler, es konnte sehr wohl möglich sein, daß er noch da war. Das Haus gehörte ihm, dem Castro, es war das Castillo de Castro, seine Väter hatten es erobert vor hundert Jahren, von den Moslems. Es war nach wie vor sein, des Castro, Haus, das hatte auch Doña Leonor gesagt. Wenn erst der Krieg recht im Gang sei, hatte sie gesagt, dann werde man den Juden hinauswerfen. Mehr im Gang sein als jetzt konnte der Krieg schwerlich, und wenn die Schlacht verloren worden war, dann durch die Übeltaten des Juden, und es war unerträglich, daß sich dieser weiter frech in dem Castillo spreizte. Alle andern Juden, viele Tausende, waren bedroht wegen dieses einen Lumpen und Erzverräters. Nicht als ob es schad um sie gewesen wäre, aber er hatte nun einmal den Auftrag übernommen, sie zu retten, und Doña Leonor hatte ihm ausdrücklich befohlen, lieber einen einzelnen preiszugeben, als die Tausende zu gefährden.

Wenn der Castro an dem Haus vorbeikam, verzog er wie die andern und wartete. Sie warteten, alle, warteten bedrohlich. Keiner wollte der erste sein, Hand zu legen an das Haus des mächtigen Escrivanos.

Immer öfter kam der Castro an dem Haus vorbei. Das Haus zog ihn. Er sah stets das gleiche: sie standen vor dem Haus, murrten dumpf, warteten.

Einmal aber hörte er schon von der Ferne helles, wüstes Geschrei. Er beeilte sich. Und siehe da, mehrere, ziemlich viele, schlugen gegen das riesige Tor. Auch mit dem mächtigen Klöppel schlugen sie gegen das Eisen, daß es ungestüm und herrisch durch das Geschrei klang. Doch kein Pförtner zeigte sich. Schließlich stieg einer auf die Schulter eines andern und kletterte die Mauer hinauf. Rasch, unter dem Jubel der vielen, war er oben. Er verschwand im Innern. Und da öffnete sich schon der Ausschnitt des Tores, in ihm erschien das lachende, triumphierende Gesicht des Eindringlings, und mit scherzhafter, höflicher Gebärde lud er die andern, einzutreten.

Der Castro stand und überlegte. Er hatte ein paar seiner Leute mit sich, er hätte ohne viel Mühe das Tor verteidigen und es halten können, bis Verstärkung herbeigerufen war. Aber lautete nicht sein Auftrag, den einen preiszugeben und die vielen zu retten? Er stand und tat nichts, und immer mehr drangen durch den kleinen Ausschnitt des Tores ins Innere.

Schließlich folgte er selber. Die Schreier waren still geworden, nun sie im ersten Hofe standen. Kein Mensch von den Inwohnern zeigte sich, keiner von den vielen Dienern, Schreibern, Hausbeamten. Das Volk schob sich verlegen die Wände entlang, öffnete zögernd ein zweites Tor, das ins Innere führte. Staunend, betreten, dümmlich lachend standen sie inmitten der schweigenden Pracht. Schoben sich weiter. Stießen versehentlich eine Vase um, eine zweite. Sie zerbrach. Einer nahm einen Pokal aus einer Nische, ein kunstvolles Glas, schmiß es zu Boden; es zerbrach nicht auf dem dicken Stoffbelag. Der Mensch, zornig jetzt, riß den Belag zurück, Steinboden zeigte sich, er schmetterte das Glas auf den Stein, es zersplitterte mit Lärm.

Ein erschreckter Diener kam zum Vorschein, ein Moslem. Er wollte etwas sagen, sänftigen, Vernunft zureden, vielleicht auch wollte er mitteilen, daß der Herr des Hauses nicht da sei. Man hörte ihn nicht in dem allgemeinen Geschrei, man wollte ihn nicht hören, man schlug ihm über den Mund, man stieß ihn, erst zaghaft, dann bösartiger. Da lag er, blutig, japsend. Die Menge freute sich. Wurde wild. Zerriß, zerschlug, zerschmiß, was sich zerreißen und zerschlagen ließ.

Der Castro schaute zu, wie benommen. Dies ist sein Haus. Der Krieg ist im Gang, und Doña Leonor hat gesagt, dies ist sein Haus. Der Jud, der sich hereingesetzt hatte, scheint nicht da zu sein; vielleicht auch hat er sich in einen Winkel verkrochen, das wird sich noch herausstellen. Es ist sein, des Castro, Haus, endlich. Und es ist ein sehr reiches Haus. Es ist ein lästerliches, heidnisches Haus. Was hat der Jud sich erdreistet! Was hat er aus seinem guten, ritterlichen, christlichen Castillo gemacht!

Der Castro, langsam, mit wuchtigen Schritten, klirrend, ging durch den Saal, stieg auf die kleine Estrade, stand in der Öffnung des Geländers, welches die Estrade abtrennte. Er stand, der stämmige Mann, in Haltung, wie alter Brauch sie vorschrieb, mit gespreizten Beinen, beide Hände auf sein Schwert gestützt, breit, wuchtig; aus den tiefliegenden Augen beschaute er genießerisch die Menschen, die sein Haus befreiten von dem Unrat, mit dem der Jud es besudelt hatte.

Inzwischen waren immer mehr eingedrungen; sie hatten das große Haupttor ganz geöffnet. Das weite, stille Haus, seine Säle und seine kleinen Zimmer, seine Höfe und seine Kammern waren mit einemmal voll von schreienden, wütigen Menschen. Einige steckten, was ihnen wertvoll schien, in ihre Taschen. Den meisten aber war daran nichts gelegen; ihre Lust ging dahin, zu zerschlagen, zu zerstören. Sie suchten nach dem Juden, doch der war nicht da, der Feigling, der hatte sich davongemacht. Nur ein paar armselige Diener fand man, auf die man losprügeln konnte. Aber wenigstens des Juden Habe war da, die kostbaren, verruchten Dinge, um derentwillen er das Land ausgeplündert und verraten hatte. Die Wut aller richtete sich gegen diese Dinge. Sie zerrissen, zerbrachen, zerschlugen, zertrümmerten, zornig, hingegeben, jubelnd.

Ihre Raserei griff auf den Castro über. Auch in ihm tobte es: Hin muß es sein, das da! Tot muß es sein! In Trümmern muß es sein, all das Feine, Üppige, Jüdische, Weibische, Heidnische! Und mit der Scheide seines Schwertes schlug er los auf das Gebrechliche, Liebliche, und: »A lor! A lor!« schrie er und haute ein auf die Inschriften an den Wänden, daß die zierlichen, farbigen Steine sich lösten.

Ein stiller, dünner Herr im Priestergewand kam auf ihn zu, rührte ihm den Arm: Don Rodrigue.

Gemeinhin machte der Domherr lieber einen Umweg, als daß er an dem Castillo vorbeiging; er fürchtete die Versuchung. Heute aber hatte er das helle, wüste Geschrei gehört, Angst hatte ihn herbeigezogen. Er hatte das weitoffene Tor gesehen, hatte gesehen, wie sich die Menschen hineinwälzten, wütig schreiend. War ihnen gefolgt. Sie hatten dem Priester Platz gemacht, und nun also fiel er diesem wohlgerüsteten Manne, der, obgleich sichtlich ein Ritter, an dem übeln Werke teilnahm, in den Arm.

Da der Mann ihm ein wildes, unwilliges Gesicht zukehrte, sagte er: »Ich bin Don Rodrigue, Mitglied des Kronrats.« Der Castro lächelte breit, herausfordernd: »Und ich, hochwürdigster Herr, bin Don Gutierre de Castro, Haupt des Geschlechtes, nach dem dieses Haus genannt ist.« Rodrigue erinnerte sich der Schutzmaßnahmen der Königin. Ein vager Verdacht stieg ihm auf. »Du läßt es zu, daß diese da plündern und zerstören?« fragte er. »Sollen gute Kastilier viel Federlesens machen«, fragte der Castro zurück, »wenn sie Verräter suchen? Nachdem die Blüte der christlichen Ritterschaft erschlagen ist, kommt es wohl auf ein paar jüdische Teppiche und Pergamentrollen nicht an.« Rodrigue fragte: »Bist nicht du es, der Weisung hat, die Bedrohten zu schützen?« Gutierre schaute dem Priester ruhig ins Gesicht. »Ja«, erwiderte er, »und ich werde der Frau Königin den Handschuh guten Gewissens zurückgeben können. Ich habe ihre Weisungen aufs Wort erfüllt. Ich habe den Zorn des Volkes sich austoben lassen gegen den einzelnen, Schuldigen, und der großen Masse jener geholfen, die man zu Unrecht verdächtigt.« Rodrigue, bestürzt, ungläubig, fragte: »Das wäre dein Auftrag?« – »So geht der Befehl der Königin«, sagte Gutierre.

Rodrigue, in jäher Angst, fragte: »Was ist es mit Don Jehuda? Ist dem Escrivano was geschehen?« Der Castro hob die Schultern, ausdrucksvoll, verächtlich. »Hier jedenfalls nicht«, antwortete er. »Der Hund hat sich verdrückt, scheint es.« Rodrigue atmete auf. Es war, wie er vermutet hatte: Don Jehuda hatte sich in Sicherheit gebracht.

Er raffte sich zusammen. »Du bist Kreuzritter«, sagte er. »Ich ermahne dich im Namen der Kirche, dem schändlichen Unfug Einhalt zu tun.« Der Castro schaute um sich und sah, daß nicht mehr viel da war, was hätte zerstört werden können. »Es steht dem Priester an, milde zu sein«, sagte er mit gutartigem Spott und gab seinen Leuten Befehl, die Gäste aus dem Haus zu treiben. Es geschah.

Don Gutierre verabschiedete sich höflich von dem Domherrn, beschaute noch einmal das getane Werk und ging, voll der freudigen Erwartung, diese Stätte heidnischer Üppigkeit ins Castillo de Castro zurückzuverwandeln.

Rodrigue blieb zurück in dem verwüsteten Haus. Er hörte, wie die letzten abzogen, wie das große Tor mit dumpfem Lärm geschlossen wurde. Fast quälend drang die plötzliche Stille auf ihn ein. Er hockte nieder inmitten der Trümmer und Scherben, voll schwerer, schmerzhafter Müdigkeit. Hockte lange. Stand auf, schleppte sich durch die vertrauten Räume. Risse, Löcher, Trümmer starrten ihn an, von allen Seiten. Er ging weiter herum in dem öden Haus; er mühte sich, leise aufzutreten, er wußte nicht, warum. Er klaubte Scherben vom Boden, Stücke von Möbeln, Stoffen, beschaute sie, schüttelte den Kopf. Verschmutzt, zerrissen lag da ein Buch. Er nahm es auf, versuchte die Blätter zu glätten, die zerrissenen Seiten zusammenzustücken, er las mechanisch, es war die »Ethik« des Aristoteles.

Er kam in die Rundhalle des Musa. Hier waren die Polster gewesen, in denen der Freund so oft behaglich zurückgelehnt gesessen hatte, mit ihm schwatzend, und was war aus Musa geworden? Da war das Schreibpult gestanden, von dem aus er so gerne über die Schulter seine klugen, milden, spöttischen Sätze gesprochen hatte. Es war zerhackt; einer mußte sich die Mühe gemacht haben, das feste, edle Holz mit der Axt zu zerhacken. Von den farbigen Buchstaben der Sprüche an den Wänden waren viele zerschlagen und heruntergefallen. Mechanisch starrte er auf den Satz: »Nicht besser ist der Mensch als das Vieh.« Nahm wahr, daß von dem Worte »Habehemah – Das Vieh« die Buchstaben »Bet« und »Mem« ausgeschlagen waren, die drei Buchstaben »He« waren merkwürdigerweise stehengeblieben.

Rodrigue kauerte sich wieder auf den Boden, schloß die Augen. Von außen herein klang das gleichmäßige Plätschern der Fontäne.

Täuschte er sich da, oder schlurften vorsichtige Schritte durch den Garten? Er hörte recht. Und auf einmal war vor ihm ein liebes, häßliches, gescheites, wohlvertrautes Gesicht, über allem Kummer schon wieder leise spöttisch, und: »Es fügt sich trefflich«, sagte die ruhige, marklose Stimme des Musa, »daß nach so vielen lauten Besuchern nur du geblieben bist, mein stiller, hochwürdiger Freund.« Der beglückte Rodrigue war zu erregt, als daß er hätte sprechen können; er nahm die Hand des andern und tätschelte sie. »Ich bin zu spät gekommen«, sagte er schließlich. »Auch wäre ich wohl nicht geschickt genug gewesen, den Aufruhr zu stillen. Aber du lebst!« sagte er; niemals hätte Musa geglaubt, daß die Stimme des andern so warm klingen könnte. Noch immer hielt Rodrigue die Hand des Freundes, sie schauten einander an, lächelten, lachten.

Später fragte der Domherr nach Jehuda. Als Musa ihm mitteilte, er sei bei seiner Tochter in der Galiana, atmete Rodrigue auf. »Im Hause des Königs ist er wohl sicher«, meinte er. »Trotzdem, vorsichtshalber, geh ich noch heute zu Doña Leonor und verlange eine starke Wache für die Galiana. Und jetzt, mein Musa«, sagte er ungewöhnlich befehlerisch, »kommst du mit mir, und bis die Stadt sich beruhigt hat, lebst du in meinem Hause.« – »Ich hätte schon früher zu dir kommen sollen«, erwiderte Musa, »aber ich sagte mir: in dieser Zeit ist ein alter, ketzerischer Moslem kein bequemer Gast.« – »Entschuldige, mein weiser Freund«, entgegnete Rodrigue, »dieses ist die erste törichte Erwägung, die ich dich habe anstellen hören. Gehen wir«, forderte er ihn auf.

Doch Musa bat, noch eine kurze Weile zu verziehen. »Ich muß noch meine Chronik holen und ein paar Bücher«, erklärte er. Voll schlauen Triumphes teilte er dem andern mit, daß er die beiden kostbarsten Handschriften, den Avicenna und jene athenische Handschrift der »Republik« des Plato, in die Judería habe schaffen lassen. Dann schlurfte er hinunter in den Keller und kam zurück, fröhlich grinsend übers ganze Gesicht, unterm Arm das Manuskript seiner Chronik.

Diejenigen, die im Castillo gewüstet hatten, zögerten, sich zu zerstreuen. Sie waren enttäuscht, daß man den Verräter und die Hexe nicht hatte mitzerstören können. Sie zogen vor die Judería und verlangten, daß man ihnen Jehuda und Raquel herausgebe, aber verlässige Leute erklärten, die beiden seien nicht in der Judería.

Die Wut, daß sie entschlüpft waren, wuchs. Solange die beiden atmeten, ging Gift und Übel von ihnen aus; es war einfache Pflicht eines jeden guten Christen und Kastiliers, sie aus der Welt zu schaffen. Ihnen selber, den beiden, hatte Gott die Strafe bereits angekündigt. War nicht der Sohn, den die Jüdin dem König Unserm Herrn geboren hatte – man wußte das von dem Gärtner der Galiana, einem gewissen Belardo –, war nicht dieser Sohn auf rätselhafte Art verschwunden? Vermutlich hatte Gott auch ihn weggerafft zur Strafe für die Todsünde. Und hatte nicht die Jüdin schon vor Monaten einen Totenschädel aus dem Tajo gefischt?

Einer sagte, jener gleiche Gärtner Belardo habe verlauten lassen, die Hexe wohne nach wie vor in der Galiana, als ob nichts geschehen sei; ja, sie habe sich auch noch ihren Vater hingeholt. Die meisten wollten an so viel satanische Frechheit nicht glauben. Man könnte vielleicht einmal nachschauen, schlug einer vor. Man war verblüfft, gelockt. Aber man zögerte; das Castillo war das Haus des Juden gewesen, die Galiana war das Haus des Königs. Hingehen in die Galiana könnte man ja einmal, meinten einige; wenn man dort sei, werde man weitersehen. Der Vorschlag gefiel.

Schon machten sich die ersten auf den Weg hinunter zur Brücke. Sie gingen gemächlich, viele schlossen sich an, schon waren es Hunderte, vielleicht tausend.

Langsam in der Hitze, schlendernd, zogen sie über den Hauptplatz, den Zocodovér. Man fragte, was sie vorhätten, sie erzählten, man lachte zustimmend, erheitert. Am großen Haupttor der Stadt fragten die Wächter: »Wohin wollt ihr?« Sie antworteten: »Wir wollen nachschauen, wo sie sind, die Gewissen«; auch die Torwächter lachten. Von den Türmen der großen Brücke herunter fragten die Soldaten, wohin es gehe, und als man ihnen Bescheid gab, lachten auch sie.

So zogen die tausend hinunter in der schweren Hitze. Immer mehr schlossen sich an, sie mochten jetzt wohl an die zweitausend sein.

Der Castro hörte von dem Unternehmen. Mit einigen seiner Begleiter ritt er den Leuten nach, überholte sie, ließ sie wieder vorbei, überholte sie von neuem, ließ sie abermals vorbei. Langsam, nicht sehr deutlich gingen ihm die Gedanken. Ich muß das Eigentum des Königs schützen, erwog er, und: Wenn die Strafe des Herrn auf dem Weg ist, darf sich ihr ein christlicher Ritter nicht entgegenstellen, und: Ich werde handeln nach meinem Auftrag. Ich werde nicht den Verräter und die Hexe schützen und die hunderttausend Juden von Toledo gefährden. Aber das Eigentum des Königs werde ich schützen, beschloß er, das ist Pflicht.

Jehuda und Raquel hatten, nachdem Don Benjamín gegangen war, ihr feierlich heiteres Leben weitergeführt. Sie zogen sich sorgfältig an, hielten lange Mahlzeiten, ergingen sich, wenn die Sonne sank, im Garten, pflegten ruhiges Gespräch.

Es war die Amme Sa’ad, die, Schrecken über dem ganzen, dicken Gesicht, als erste die Nachricht brachte, daß die Ungläubigen – Allah verdamme sie – heranzögen, und was solle man tun? Jehuda sagte: »Stille sein und sich fügen in den Ratschluß.«

Sie gingen tiefer ins Haus, in Raquels Raum, ein nicht großes Zimmer mit einer Estrade, wie sie dem Wohnraum einer Dame angemessen war. Jehuda hatte die Brustplatte umgelegt, das Zeichen seines Amtes. Der Raum war dämmerig, und der feuchte Filzbelag der Wand gab ihm Kühle. Hier saßen sie und erwarteten die Anziehenden.

Die waren angelangt vor der weißen Mauer, welche das Besitztum umgab. Im Ausschnitt des Tores zeigte sich ein Türhüter, auf sein Wams eingestickt war das Wappen des Königs, die drei Türme. Die Menge zögerte, wußte nicht, was tun. Alle schauten auf den Castro. Dieser, mit seinem breiten, schweren Schritt, trat vor, sagte: »Wir wollen nachschauen. Das ist es, was wir wollen. Wir wollen das Eigentum des Königs nicht schädigen. Ich habe meine Wache mit, auf daß niemand das Eigentum der Majestät schädigt und daß niemand die Beete des Gartens betritt.« Der Türhüter war unentschlossen. Inzwischen aber waren einige über die nicht hohe Mauer geklettert, sie zogen den Türhüter zur Seite, ohne Gewalt, der Castro ging durch das Tor, ihm nach seine Bewaffneten, ihnen nach die Menge.

Die Leute schoben sich langsam voran, die Gärten bewundernd, über die bekiesten Wege, dem Schlosse zu. Auf einmal war Belardo da. Er trug das Lederkoller, die Lederkappe und die Hellebarde des Großvaters. »Der edle Herr belieben, Doña Raquel sprechen zu wollen?« fragte er beflissen. »Unsere Herrin ist in ihrem Gemach auf der Estrade«, plapperte er. »Ist der edle Herr angemeldet? Soll ich ihn melden?« – »Führ uns zu ihr«, sagte der Castro.

Sie folgten Belardo ins Haus, der Castro, seine Soldaten, einige aus der Menge, nicht viele. Gelangten in den Raum Raquels. Mit einemmal lag die Hitze des Gartens, die blendende Weiße der Mauer, der Staub der Straße, die man schwitzend und lärmend gezogen war, meilenweit hinter ihnen, und um sie war die Stille des kühlen, dämmerigen, fremdartigen Raumes. Sie hielten sich in der Nähe des Eingangs, ernüchtert, leicht verwirrt.

Die Estrade, auf der Jehuda und Raquel saßen, war durch ein niedriges, in der Mitte weit offenes Geländer von dem übrigen Raum getrennt. Jehuda, als sie kamen, erhob sich langsam; da stand er, eine Hand leicht auf das Geländer gestützt, und musterte die Eindringlinge, gelassen, fast spöttisch, wie es dem Castro schien. Raquel war nicht aufgestanden. Sie saß, die Stirne halb bedeckt von dem kleinen Schleier, auf ihrem Diwan und schaute, auch sie ruhigen Auges, auf den Castro und die Seinen. Vom Pátio her hörte man das leise Plätschern des Springbrunns und, sehr weit und gedämpft von der Straße her, den Lärm der Menge. Sie wiederholten immer das gleiche, die draußen, doch konnte man’s nicht verstehen. Der Castro verstand; er wußte, sie schrien: »Gott will es!« Und: »Matad, matad! Schlagt tot!«

Jehuda sah die rohen Gesichter der Soldaten und ihres Führers, er sah den schlauen, furchtsamen, höflichen, dummen Gärtner Belardo und sogar auf dessen Gesicht die Gier, zu töten, er ahnte, was das Geschrei draußen bedeutete, er wußte, er hatte nicht mehr viele Minuten zu leben. Furcht würgte ihn. Er suchte sie zu vertreiben durch Denken. Zu einem jeden kommt der Zerstörer aller Dinge, und er selber hat es so gewollt, daß er hier und jetzt zu ihm komme. Er hat schon vor Tagen seine Rechnung abgeschlossen. Er hat viel Eitles getan, und manches Gute nur deshalb, weil er mehr hat sein wollen als die andern. Aber es war ihm erlaubt: er war mehr als die andern. Er sah die Spruchbänder ringsum, sie rühmten den Frieden. Er hat der Halbinsel Jahre hindurch Frieden und Blüte bewahrt. Und noch sein Sterben wird manchem zum Segen. Diese armen Mörder werden sehr bald bereuen, was sie tun; sie werden sich nicht an andere heranwagen, er wird gestorben sein zum Segen seiner fränkischen Flüchtlinge. Dann würgte von neuem eisige Furcht ihm das Denken ab. Sein Gesicht aber blieb die gleiche stille, leicht spöttische Maske.

Auch Raquels Gesicht blieb ruhig. Alfonso hatte ihr aufgetragen, in der Galiana zu bleiben, Alfonso war hier der Herr, was konnte dieser fremde Mensch ihr tun? Sie befahl sich, furchtlos zu sein, würdig Alfonsos; er wollte es, daß die Frau, die er liebte, furchtlos sei. Und er hatte ihr versprochen, zu kommen. Sie blieb reglos. Aber ihr Körper spürte den herannahenden Tod, und Angst schnürte ihr das Herz ab.

Die Eindringlinge standen noch immer an den Wänden und wußten nicht, was tun. Eine halbe Minute hindurch, eine Ewigkeit hindurch, tat keiner den Mund auf.

Da, mit einem Male, pludderte Belardo: »Der edle Herr wollte nicht gemeldet werden, Dame.«

Und jetzt sprach auch der Castro: »Stehst du nicht auf, Jüdin, wenn ein Ritter zu dir kommt?« sagte er mit seiner derben, quäkenden Stimme. Raquel antwortete ihm nicht. Plötzlich überkam ihn Zweifel. »Oder bist du Christin?« fragte er. Dann hätte er hier nicht eindringen dürfen. Aber Belardo beruhigte ihn. »Unsere Herrin Doña Raquel ist keine Christin«, sagte er.

Der Castro rötete sich. Es verdroß ihn, daß er sich von ihrer gespielten Vornehmheit hatte hereinlegen lassen. Raquel gewahrte seine aufsteigende Wut, und plötzlich war ihr, als stehe ihr der wütende Alfonso gegenüber – ja, das war das in maßloser Wut verzerrte Gesicht Alfonsos. Sofort aber verwehte es, und sie sah jenen Alfonso, der gegen den Stier gekämpft hatte, strahlend, wunderbar. Sie darf ihrem Alfonso keine Schande machen in dieser entscheidenden Stunde. Wenn sie ihm erzählen, wie der wüste Mensch dort auf sie losging, dann sollen sie ihm auch erzählen müssen: Aber Raquel hat keine Furcht gehabt.

Langsam, mit kindlicher und doch sehr damenhafter Bewegung, erhob sie sich.

Es war aber nicht der wüste Ritter, vor dem sie aufstand, es war der Tod.

Da stehst du, Doña Raquel Ibn Esra, du Schöne, La Fermosa, Sturmvogel des Satans, Kebsweib des Alfonso von Kastilien, selber aus dem Geschlechte David, Mutter des Immanuel. Dein herzförmiges Gesicht ist wissender als früher, und wenn es jetzt die Farbe der Angst haben sollte, so ist sie verborgen unter dem matten Braun deiner Haut. Deine blaugrauen Augen, noch größer als sonst, schauen ins Weite, vielleicht in ein schauerlich Leeres, vielleicht in ein sehr Helles, Hohes, Erwünschtes.

Der Castro trachtete, sich zurechtzufinden. Es war alles sehr anders, als er sich’s vorgestellt hatte, und dies war das Haus des Königs, und die Frau, wenngleich eine Jüdin, war das Kebsweib des Königs und hatte ihm einen Bastard geboren.

Da aber sprach endlich Don Jehuda. Gelassen fragte er, und er sprach lateinisch: »Wer bist du? Und was wünschest du?«

Der Castro schaute auf den Mann, den Juden, der ihm sein Haus gestohlen und sich hineingesetzt hatte, und der schuld war am Untergang seines Bruders, und der auf der Brust die Platte mit dem Wappen Kastiliens trug, und der sich erdreistete, höflich, hochmütig und lateinisch zu ihm zu reden, als spräche ein Ritter zum Ritter. Er warf sich in die Brust und antwortete in einem Gemisch von Aragonisch und Kastilisch: »Ich bin der Castro, Jud, und damit weißt du alles.« Jehuda schaute ihn an mit ganz leisem Spott, wie es in seiner stolzesten Zeit seine Art gewesen war, und sagte freundlich: »So hab ich mir dich vorgestellt.«

Dann kehrte er sein Gesicht von dem Castro ab und vergaß ihn sogleich. Er sah auf seine Tochter, trank ihren Anblick ein, dachte an seinen Enkelsohn, den kleinen Immanuel. Alazar hatte er verloren, diese seine liebe Tochter verliert er in wenigen Minuten, nach wenigen Atemzügen wird er sterben: aber der Knabe Immanuel Ibn Esra lebt, den Feinden unerreichbar.

Auch Raquel dachte an ihren Sohn. Sie hatte Alfonso nicht verwandeln können, aber was an ihm gut war, lebte weiter. Wirr und von neuem, nicht in Worten, tauchte in ihr die Vorstellung des Messias auf, der das Wilde besiegt, den Stier, und der Frieden bringt über die Erde. Und sie sah den Blick ihres Vaters, und sie gab ihn zurück und sie sagte: »Du hast recht gehabt, mein Vater, da du Immanuel gerettet hast. Unser Immanuel wird leben. All mein Inneres ist voll Dank für dich.«

Eine Welle von Zärtlichkeit, Befriedigung, Stolz schwoll hoch in Jehuda. Allein sie brach sogleich. Und nun von neuem schnürte ihn die kalte Angst. Er fand noch Kraft, sich dem Osten zuzuwenden. Dann senkte er den Kopf, wehrte sich nicht länger und wartete darauf, den Schlag zu empfangen; er sehnte sich danach.

Der Castro hatte die hebräischen Worte Raquels nicht verstanden, aber er spürte: sie hatten keine Furcht vor ihm, diese da, sie verhöhnten ihn, und die Wut zerriß ihm die letzten Bedenken. »Will denn keiner ein Ende machen mit dem Gesindel?« schrie er. »Sind wir hergekommen, mit ihnen zu disputieren?« Er zog sein Schwert, stieß es aber sogleich zurück. »Ich will mein Schwert nicht beflecken mit dem hündischen Blut«, sagte er ungeheuer verächtlich. Gemessen, mit der flachen Scheide, schlug er dem abgewandten Jehuda den Schädel ein.

Raquel hatte all die Zeit her gewußt, daß sie und der Vater untergehen würden; ihr Verstand hatte es gewußt, ihr Körper hatte es gewußt, ihre schnelle Phantasie hatte aus hundert Märchen hundert Bilder des Untergangs zusammengetragen und verknüpft. Aber in ihrem Tiefsten hatte sie nicht an ihren Tod geglaubt. Noch als der Castro vor ihnen stand, hatte sie nicht daran geglaubt. Jetzt erst erkannte ihr Innerstes, daß kein Alfonso zu ihrer Rettung kommen, daß sie in den nächsten Minuten sterben werde, und es packte sie ein Grauen, grauenhaft über alle Namen. Sie erlosch, sie wurde zur leeren Hülle, in ihr war nichts als Angst. Es riß ihr den Mund auf, aber kein Schrei kam aus der erstickten Brust.

Alles, was sich in dem Zimmer mit der Estrade ereignet hatte, war ohne Lärm geschehen, dämmernd und seltsam gedämpft. Die finstern Begleiter des Castro waren, als er auf den Juden zuschritt, unwillkürlich noch weiter zurückgewichen, noch näher an die Wand. In das lautlose Sterben Jehudas hinein hörte man ihr starkes Atmen und, noch immer, das Plätschern des Springbrunns und den fernen Lärm derer an der weißen Mauer.

Da begann plötzlich die Amme Sa’ad zu schreien, schrill, sinnlos. Und nun, unversehens, hob der Gärtner Belardo die Waffe, und besessen, hingegeben, schlug er mit der heiligen Hellebarde seines Großvaters auf Raquel ein. Und nun drangen auch die andern vor, sie schlugen los auf Raquel, auf die Amme, auf Jehuda, schlugen noch, als sie sich längst nicht mehr regten, trampelten auf ihnen herum, keuchend.

»Genug!« befahl plötzlich der Castro. Sie verließen den Raum, sie warfen keinen Blick mehr zurück. Benommen, ein wenig taumelnd, dümmlich lachend, verließen sie das Haus. Einer der Soldaten des Castro, nicht ohne Mühe, löste die Mesusa von der Tür und steckte sie ein; er wußte noch nicht, ob er das Amulett zertreten oder zum eigenen Schutz behalten sollte. Sonst etwas im Hause des Königs anzutasten, wagte keiner.

Die draußen hatten gewartet in Hitze und Glast. Jetzt verkündete ihnen der Castro: »Es ist getan. Sie sind hin. Die Hexe und der Verräter sind hin.« Sie hörten es, wahrscheinlich mit Genugtuung. Aber sie zeigten diese Genugtuung nicht, sie schrien nicht, sie jubelten nicht. Eher waren auch sie betreten. »Ja«, brummelten sie, »nun ist also die Fermosa hin.«

Als sie die heiße, staubige Straße nach Toledo wieder hinaufstiegen, verflog ihnen Lust und Wut vollends. Die Torwächter fragten: »Nun, habt ihr nachgeschaut? Habt ihr sie gefunden?« Und: »Ja«, antworteten sie, »wir haben sie gefunden. Sie sind hin.« – »Recht so«, sagten die Torwächter. Aber ihr Vergnügen dauerte kurz, auch ihnen war die Wut verweht, sie waren für den Rest des Tages nachdenklich und eher verdrossen.

Niemand dachte mehr daran, den Juden etwas zuleide zu tun. Gutmütig verspottete man die in der Judería: »Warum verschanzt ihr euch denn so? Habt ihr Angst vor uns? Jedermann weiß doch, wie gut sich die Euern gehalten haben vor Alarcos. Wir gehören doch zusammen, wir und ihr, in dieser Not.«