Drittes Kapitel
Die Brüder Fernán und Gutierre de Castro ließen es nicht bei leeren Drohungen bewenden gegen den Mann, der einen Beschnittenen in ihr Castillo gesetzt hatte. Sie stießen mit bewaffneter Macht in den Bereich Don Alfonsos vor, einmal sogar bis in die Stadt Cuenca. Sie überfielen reisende Bürger und führten sie als Gefangene in ihre Burgen. Sie raubten kastilischen Bauern die Viehherden. Mit der Beute zogen sie sich zurück in ihr schwer zugängliches Bergland Albarracín.
Don Alfonso wütete. Seitdem er denken konnte, hatte er die Castros gehaßt. Als er mit drei Jahren König geworden war, hatte ein Castro für ihn regiert, er hatte den Knaben streng und schlecht behandelt, und Alfonso hatte gejubelt, als endlich Manrique de Lara die Castros stürzte. Allein die Castros blieben mächtig in ihrer Gaugrafschaft, und sie hatten viele Anhänger unter den Granden Kastiliens.
Ihre neuerlichen frechen Gewalttaten reizten Alfonso aufs Blut. So ging das nicht weiter. Er wird ihre Burgen berennen und zerstören, er wird die beiden kahl scheren und ins Kloster stecken; nein, die Köpfe abschlagen wird er ihnen.
In seinem Innern wußte er, daß eine solche kriegerische Expedition gefährliche Zerwürfnisse mit seinem Oheim bringen mußte, dem König von Aragon.
Von jeher nämlich hatte Aragon sowohl wie Kastilien Anspruch erhoben auf die Oberhoheit über die Grafschaft der Castros, das Bergland Albarracín, das zwischen Kastilien und Aragon gelegen war. Nach dem Tode des letzten regierenden Grafen indes hatten seine Söhne, die Brüder Fernán und Gutierre de Castro, sich geweigert, irgendwelche Oberhoheit anzuerkennen. Wenn jetzt er, Alfonso, in ihr Land einfällt, dann werden sie sich an Aragon um Schutz wenden, und sein Oheim Raimundez, der König von Aragon, wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, sie als Vasallen anzunehmen und sie gegen seinen, Alfonsos, Angriff zu verteidigen. Das bedeutete Krieg mit Aragon.
Allein Alfonso verscheuchte diese Bedenken, noch bevor sie recht zu Gedanken wurden. Er wird gegen die Castros marschieren! Er wird Jehuda berufen. Der muß ihm das Geld schaffen.
Jehuda, auf dem Weg zur Königsburg, war hellen Mutes. Er wußte nicht, was Don Alfonso, den er lange nicht gesehen hatte, von ihm wollte, und er freute sich darauf, ihm Vortrag zu halten; er konnte von Erfolgen berichten, ja, den handgreiflichen Beweis eines Erfolges führte er mit sich, ein kleines Etwas, das Don Alfonso Spaß und Freude machen würde.
Er stand vor dem König und berichtete. Mehrere Ricoshombres, neun, um genau zu sein, die mit ihren Zahlungen im Verzug waren, hatten mit Unterschrift und Siegel bestätigt, daß sie bei weiterer Versäumnis jeden Herrschaftsanspruch an gewisse Städte verlieren sollten, zugunsten des Königs. Jehuda konnte ferner berichten von elf neuen Mustergütern, von einer Versuchsanstalt für Seidenzucht in der Nähe von Talavera, von neuen, großen Werkstätten hier in Toledo und in Burgos, auch in Avila, Segovia, Valladolid.
Und dann kam er mit seiner großen Überraschung. »Du hast mir, Herr König«, sagte er, »dein Mißvernügen darüber ausgesprochen, daß ich dir noch keine Goldschmiede und Münzmeister ins Land gebracht hätte. Erlaube mir, dir heute ein erstes Erzeugnis deiner Goldschmiede ehrerbietig zu überreichen.« Und lächelnd und stolz übergab er Don Alfonso das Etwas, das er mitgebracht hatte.
Der König nahm und sah und strahlte auf. Bisher waren in den christlichen Ländern der Halbinsel nur arabische Goldmünzen in Umlauf gewesen. Was er jetzt in Händen hielt, war die erste Goldmünze des christlichen Spaniens, und es war eine kastilische. Leuchtend in blitzendem, rötlichem Gelb hob sich sein, des Königs, Profil, deutlich erkennbar das seine, und ringsum stand auf lateinisch: »Alfonsus von Gottes Gnaden König von Kastilien.« Auf der andern Seite aber sah man den Schutzpatron Spaniens, den Apostel Jakob, den Santiago; er saß zu Pferde, das Schwert erhoben, so wie er oftmals in den Lüften den christlichen Heeren geholfen hatte, die Ungläubigen zu zerschmettern.
Gierig, mit kindlichem Vergnügen, beschaute und betastete Don Alfonso das schöne Werk. So also wird fortan in gutem, schwerem Golde sein Gesicht durch die Länder der Christenheit gehen und auch durch die des Islams und alle daran erinnern, daß Kastilien in guter Hut ist, in der des Santiago und in der seinen, Don Alfonsos. »Das hast du trefflich gemacht, Don Jehuda«, lobte er, und es ging von seinem hellen Gesicht und seinen hellen Augen so viel Freudigkeit aus, daß Don Jehuda alle Unbill vergaß, die der Mann ihm angetan hatte.
Dann aber erinnerte das Bild des streitbaren Santiago den König an sein Vorhaben und an den Grund, aus welchem er seinen Escrivano berufen hatte, und munter, ohne Übergang, sagte er: »Da wir also Geld haben, kann ich ja eigentlich gegen die Castros vorgehen. Glaubst du, daß sechstausend Goldmaravedí für die Expedition genügen?«
Don Jehuda, jäh aus seiner Freude gerissen, legte dar, daß die Castros zweifellos die Schutzherrschaft des Königs von Aragon anrufen und daß König Raimundez sie als Vasallen annehmen werde. »Dein erlauchter Oheim Raimundez wird eingreifen«, erklärte er dringlich. »Er hat die ansehnliche Kriegsmacht schlagbereit, die er für seine Unternehmung in der Provence gesammelt hat, und sein Kriegsschatz ist gefüllt. Du wirst dich, Don Alfonso, unter denkbar ungünstigen Umständen in einen Krieg mit Aragon verwickelt sehen.«
Don Alfonso wollte davon nichts hören. »Geh mir mit deinen lahmen Bedenken!« wies er Jehuda ab. »Ein paar hundert gute Lanzen genügen gegen die Castros, ich verstehe mich auf schnellen Angriff, es wird ein Handstreich sein, nicht mehr. Hab ich aber erst Albarracín oder auch nur Santa María genommen, dann begnügt sich mein mattherziger Onkel von Aragon, zu schimpfen, und greift nicht mehr ein. Schaff mir die sechstausend Goldmaravedí, Don Jehuda!« bestand er.
Jehuda wußte: was der König ihm und sich selber vormachen wollte, war eitle Hoffnung. Don Raimundez, wiewohl ein verträglicher Herr, wird, wenn er jetzt den guten Vorwand hat, gegen Alfonso Krieg führen.
König Raimundez nämlich spürte tiefe Abneigung gegen seinen Neffen Alfonso, und nicht ohne Grund. Kastilien, sich auf alte Papiere stützend, beanspruchte Lehenshoheit über das Land Aragon. Solche »Oberhoheit« war reine Prestigesache. Der sehr mächtige König von Engelland etwa anerkannte in seiner Eigenschaft als Inhaber vieler fränkischer Herrschaften die Oberhoheit des Königs von Francien, wiewohl dieser einen viel kleineren Teil Franciens beherrschte als er selber. Im Grunde war es auch dem alten König Raimundez von Aragon gleichgültig, ob er etwas mehr oder weniger »Prestige« besaß. Aber er sah in seinem ungestümen Neffen die Verleiblichung eines leeren, veraltenden Ritterideals, und es verdroß ihn, daß viele, ja, sein eigener Sohn, solch wirklichkeitsfremdem Rittertum anhingen und zu Alfonso als zu einem Helden aufschauten. Deshalb hatte er Don Alfonsos Forderung, ihn als Oberherrn anzuerkennen, für verjährten Unsinn erklärt. Alfonso seinesteils brachte seinen Anspruch bei jeder Gelegenheit von neuem vor und prahlte, der Tag werde kommen, da der unverschämte Aragon vor ihm als vor seinem gottgewollten Oberherrn niederknien werde.
Es war also, wenn Alfonso wirklich den Feldzug unternahm, ein Eingreifen Aragons unvermeidlich, und Don Jehuda überlegte, wie er das dem König in behutsamen Worten klarmachen könnte. Allein Alfonso sah Jehudas Einwände voraus, er wollte sie nicht wissen, und er kam ihm zuvor. »Schließlich bist du an allem schuld«, zürnte er, »weil du dich in das Haus der Castros gesetzt hast.«
Don Jehuda hatte sich in diesen harten Monaten ein zweites Gesicht anwachsen lassen, eine Miene stiller Höflichkeit. Nicht bezwingen aber konnte er seine Stimme; die stammelte und lispelte in der Erregung. So auch jetzt, da er antwortete: »Ein Feldzug gegen die Castros, Herr König, wird nicht sechstausend Goldmaravedí kosten, sondern zweihunderttausend. Möge mir deine Majestät doch glauben, daß Aragon es unter keinen Umständen ruhig hinnehmen wird, wenn du gegen die Castros vorgehst.« Er entschloß sich, dem König einen letzten, unwiderleglichen Einwand mitzuteilen. »Du weißt, mein Vetter Don Joseph Ibn Esra ist Alfakim am Hofe von Aragon und ist eingeweiht in die Pläne des Königs. Mehrmals schon hat dein erlauchter Oheim daran gedacht, den Castros Waffenhilfe zu leisten. Mein Vetter und ich haben Briefe und Ratschläge ausgetauscht, und es ist Don Joseph geglückt, seinen König abzuhalten. Allein er hat mich gewarnt. Die Herren de Castro haben eine bindende Zusage, Aragon werde ihnen beistehen, wenn du sie angreifst.« Die junge Stirn Alfonsos furchte sich tief. »Du und dein Herr Vetter«, sagte er, »ihr scheint ja eifrig zu konspirieren.« – »Ich hätte dir die Warnung Don Josephs schon vor Tagen mitgeteilt«, entgegnete Jehuda, »aber du hattest nicht die Gnade, mir dein Angesicht zu zeigen.«
Der König ging mit starken Schritten auf und ab. Don Jehuda setzte auseinander: »Ich begreife, daß es deine Majestät danach verlangt, die dreisten Barone zu züchtigen. Auch mich – erlaube mir die demütige Anmerkung – verlangt es danach. Aber habe die Gnade, noch ein kleines zu warten. Erwägt man es ruhig, dann ist der Schaden, den die Castros angerichtet haben, nicht groß.«
»Sie halten Untertanen von mir in ihren Verliesen!« rief Alfonso.
»Gib Auftrag«, schlug Jehuda vor, »und ich löse die Gefangenen aus. Es sind kleine Leute. Es geht um ein paar hundert Maravedí.«
»Schweig!« brauste Alfonso auf. »Ein König löst seine Untertanen nicht aus von einem Vasallen! Aber das verstehst du nicht, du Krämer!«
Jehuda war blaß geworden. Ob die Castros Don Alfonsos Vasallen waren, darum eben ging ja der Streit. Aber diese Hochmütigen hielten nun einmal Raub und Totschlag für die einzig anständige Art, Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Am liebsten hätte er ihm gesagt: Mach deinen Feldzug, du Ritter und Narr. Die sechstausend Goldmaravedí schmeiß ich dir hin. Aber alle seine Pläne stürzten ein, wenn es zu einem Krieg mit Aragon kam. Er mußte diesen Feldzug verhüten.
»Vielleicht«, gab er zu erwägen, »kann man die Gefangenen befreien, ohne deine königliche Würde zu gefährden. Vielleicht kann man erwirken, daß die Castros die Gefangenen an Aragon ausliefern werden. Erlaube mir, darüber zu verhandeln. Vielleicht, wenn du es mir gestattest, gehe ich selber nach Saragossa, um mit Don Joseph zu beraten. Bitte, versprich mir eines, Herr König: daß du eine Expedition gegen die Castros nicht befiehlst, bevor du mir vergönnst, nochmals mit dir darüber zu reden.«
»Was nimmst du dir heraus!« grollte Alfonso. Aber er hatte das Unsinnige seines Vorhabens eingesehen. Leider hatte der Jude recht.
Er nahm die Goldmünze, wog sie, beschaute sie. Hellte sich auf. »Ich verspreche nichts«, sagte er. »Aber ich werde mir überlegen, was du gesagt hast.«
Jehuda sah, daß er mehr nicht erreichen konnte. Er nahm Urlaub und fuhr nach Aragon.
Der Domherr Rodrigue sprach auch trotz der Abwesenheit Jehudas häufig im Castillo Ibn Esra vor. Er suchte die Gesellschaft des alten Musa.
Da saßen die beiden in der kleinen Vorhalle, schauten hinaus in die Stille des Gartens, hörten auf den leisen, immer gleichmäßigen, immer wechselnden Fall der springenden Wasser und pflogen sachten Gespräches. Die Wände entlang, rot, blau und golden leuchtend, liefen die Friese mit den Weisheitssprüchen. Die krausen Lettern der neueren arabischen Schrift, ineinander verschlungen, umwunden von blumenartigen Ornamenten, verzogen zu Arabesken, bildeten ein buntes Gewebe, das die Wände wie ein Teppich bedeckte. Aus dem launischen Geschnörkel hoben sich ab altarabische, »kufische«, kantige Schriftzeichen und blockige hebräische, formten sich zu Sprüchen, lösten sich auf, mischten sich in andere, kehrten wieder, seltsam ruhelos, verwirrend.
Rodrigue, durch das Dickicht der Ornamente und Arabesken, folgte jenem hebräischen Spruch, den ihm damals, bei seinem ersten Besuch, Musa übersetzt hatte: »Das Schicksal der Menschenkinder und das Schicksal des Viehes ist das gleiche … Ihre Seele ist die gleiche … Wer weiß, ob die Seele der Menschenkinder hinaufgeht und die Seele des Viehes hinunter unter die Erde?« Schon damals hatte es den Domherrn beunruhigt, daß diese Verse, wie Musa sie las, anders klangen als in der ihm vertrauten lateinischen Fassung. Nun nahm er sich ein Herz und wollte mit Musa darüber diskutieren. Aber dieser warnte freundlich: »Du solltest dich mit so gefährlichen Betrachtungen nicht abgeben, mein hochwürdiger Freund. Du weißt, daß, als Hieronymus die Bibel übersetzte, der Heilige Geist selber ihn inspiriert hat, so also, daß die Worte, welche Gott mit Mose in lateinischer Sprache tauscht, nicht minder göttlich sind als die hebräischen. Trachte nicht, allzu weise zu sein, hochwürdiger Don Rodrigue. Der Hund des Zweifels schläft leise. Er könnte aufwachen und deine Überzeugung anbellen, und du wärest verloren. Ohnedies schon nennen viele deiner Berufsbrüder in andern christlichen Ländern unser Toledo die Stadt der Schwarzen Magie, und unsere krausen arabischen und hebräischen Zeichen scheinen ihnen Gekritzel des Satans. Sie werden dich noch einen Ketzer heißen, wenn du so neugierig bist.«
Trotzdem kamen die stillen Augen Don Rodrigues von den verwirrenden Inschriften nicht los. Aber mehr noch als sie beunruhigte den Domherrn der Mann, der sie hatte anbringen lassen. Der alte Musa – das hatte Don Rodrigue bald erkannt – war gottlos durch und durch, glaubte nicht einmal an seinen Allah und Mohammed und war trotzdem, dieser Heide, gütig, duldsam, liebenswert. Und überdies und vor allem ein wahrer Gelehrter. Er, Rodrigue, hatte studiert, was die christliche Wissenschaft einem beibringen konnte, das Trivium und das Quadrivium, Grammatik, Dialektik und Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie, dazu alle erlaubte arabische Weisheit und jegliche Gottesgelahrtheit; aber Musa wußte viel mehr, er wußte alles, und über alles hatte er nachgedacht, und es blieb eine der schönsten Gottesgaben, sich mit diesem Gottlosen zu unterhalten.
»Ein Ketzer – ich?« antwortete er denn jetzt mit freundlicher Schwermut auf die Warnung des andern. »Ich fürchte, du bist der Ketzer, mein lieber, weiser Musa. Und nicht nur ein Ketzer bist du, fürchte ich, sondern ganz und gar ein Heide, der nicht einmal die Wahrheiten seines eigenen Glaubens glaubt.« – »Das fürchtest du?« fragte der alte, häßliche Gelehrte, und er richtete die starken Augen durchdringend auf das stille Gesicht des Rodrigue. »Ich fürchte es«, entgegnete dieser, »weil ich dir freund bin und weil es mir leid ist, daß du in der Hölle brennen wirst.« – »Würde ich nicht«, erkundigte sich Musa, »schon weil ich Moslem bin, in der Hölle brennen?« – »Nicht unbedingt, lieber Musa«, belehrte ihn Rodrigue. »Und bestimmt nicht so heiß.«
Musa, nach einer kleinen Weile, sagte nachdenklich und zweideutig: »Ich mache wenig Unterschied zwischen den drei Propheten, damit magst du recht haben. Mir gilt Mose soviel wie Christus und dieser soviel wie Mohammed.« – »So was darf ich gar nicht hören«, sagte der Domherr und rückte ein wenig ab. »Ich müßte gegen dich vorgehen.« Musa lenkte höflich ein: »Dann will ich nichts gesagt haben.«
Wenn Musa so diskutierte, stand er wohl zuweilen auf, trat an sein Schreibpult und kritzelte im Sprechen Kreise und Arabesken. Rodrigue sah neidisch und vorwurfsvoll zu, wie der andere das kostbare Papier so eitel verschwendete.
Gerne las der Domherr dem Musa aus seiner Chronik vor, um sich Ergänzungen und Berichtigungen zu holen. In dieser Chronik war viel die Rede von den toten Heiligen. Sie hatten, in den Lüften mitkämpfend, die Ungläubigen oftmals geschlagen; auch ihre Reliquien, in die Schlacht mitgeführt, hatten den Christen manchen Sieg erstritten. Musa merkte an, diese heiligen Reste seien Zeugen wohl auch mancher christlichen Niederlage gewesen; doch tat er’s milde und sachlich und fand es verständlich, daß Rodrigue davon nichts berichtete. Überhaupt hörte er dem Domherrn einfühlsam zu und bestärkte ihn im Glauben an die Wichtigkeit seines Werkes.
Wenn dann freilich Musa aus seiner eigenen »Geschichte der Moslems in Spanien« vorlas, dann schien dem armen, glücklichen Rodrigue, was er selber schrieb, verzweifelt primitiv. Heiß und kalt wurde ihm beim Anhören dieses eigenartigen, kühnen Geschichtswerkes. »Staaten«, hieß es da, »sind keine göttlichen Institutionen, sie entstehen aus den naturhaften Kräften des Lebens. Gesellschaftlicher Zusammenschluß ist notwendig zur Erhaltung menschlicher Art und Kultur, staatliche Macht ist notwendig, damit nicht die Menschen einander alle umbringen, denn sie sind von Natur böse. Die Kraft, die einen Staat zum einheitlichen Gebilde formt, ist die Asabidscha, die innere Verbundenheit durch Willen, Geschichte und Blut. Staaten, Völker, Kulturen haben wie alle erschaffenen Dinge ihre von der Natur bestimmte Lebensdauer, sie durchlaufen gleich den Einzelwesen fünf Altersphasen: Entstehen, Aufstieg, Blüte, Niedergang, Vergehen. Immer wieder wandelt sich Zivilisation in Verweichlichung, Freiheit in Zweifelsucht, und Staaten, Völkerschaften, Kulturen lösen einander ab nach strengen, ewig gleichen Gesetzen, ständig unbeständig wie wandernde Sanddünen.«
»Wenn ich dich recht verstehe, mein Freund Musa«, bedachte einmal im Anschluß an eine solche Lesung Don Rodrigue, »dann glaubst du an keinen Gott, sondern nur an das Kadar, an das Schicksal.« – »Gott ist das Schicksal«, erwiderte Musa. »Das ist die Summe der Erkenntnis sowohl des Großen Buches der Juden wie des Korans.« Sein Auge folgte, und so tat Rodrigues, einem Spruchband, auf dem der Prediger Salomo verkündigte: »Alles, was geschieht unter dem Himmel, hat seine vorbestimmte Stunde; Geborenwerden und Sterben, Pflanzen und Jäten, Töten und Heilen, Klagen und Tanzen, Lieben und Hassen, Krieg und Friede. Welchen Gewinn also hat der Rechner und Geschäftige mit all seinen Mühen?« Und als Musa wahrnahm, daß der Domherr den Satz aufgefaßt hatte, fuhr er fort: »Und in der einundachtzigsten Sure des Korans, in der von der Verendung, spricht der Prophet: ›Was ich verkünde, ist eine Mahnung für euch, die ihr den rechten Weg gehen wollt. Aber ihr werdet das nicht wollen können, wenn nicht Gott es will, der Allmächtige.‹ Du siehst, mein hochwürdiger Freund, sowohl Salomo wie Mohammed kommen zu der Erkenntnis: Gott und das Schicksal sind identisch, oder, philosophisch ausgedrückt: Gott ist die Summe aller Zufälle.«
Wenn Don Rodrigue dergleichen hörte, wurde er beklommen und beschloß, nicht mehr in das Castillo Ibn Esra zu gehen. Aber zwei Tage später saß er wieder in der offenen Halle unter den verwirrenden Inschriften. Manchmal brachte er sogar welche von seinen Schülern mit, am häufigsten den jungen Benjamín.
Zuweilen kam wohl auch Doña Raquel in die Rundhalle und hörte zu, wie die gelehrten Herren beim stillen Fall des Springbrunnens ihre langsamen Sätze tauschten.
Einmal, erinnert durch die Gegenwart Benjamíns, fragte Raquel den Domherrn, was er von jenem Rabbi Chanan Ben Rabua wisse und von seiner Zeitmessungsmaschine; denn Don Benjamíns Erzählung, wie jener gelehrte Rabbi verfolgt worden war und sein eigenes Werk hatte zerstören müssen, und wie sie ihn dann gefoltert und verbrannt hatten, ging ihr nicht aus dem Kopf. Don Rodrigue wollte es nicht wahrhaben, daß man Gelehrte um ihrer Wissenschaft willen gemartert habe, und er hatte die Geschichte des Rabbi Chanan nicht in seine Chronik aufgenommen. »Ich habe mir jene Zisternen in La Galiana angeschaut«, erklärte er, »es sind ganz gewöhnliche Zisternen; ich glaube nicht, daß sie jemals zur Messung der Zeit gedient haben. Ich halte es übrigens auch für unglaubwürdig, daß jener Rabbi Chanan gefoltert und getötet wurde. In den Dokumenten finde ich nichts.«
Der junge Don Benjamín, gekränkt, daß der Domherr seine Geschichte des Rabbi Chanan anzweifelte, sagte bescheiden, doch eifrig: »Aber ein hervorragender Gelehrter war er, das gibst sicher auch du zu, hochwürdigster Don Rodrigue. Nicht nur hat er ein herrliches Astrolab hergestellt, er hat auch die Werke des Galenus ins Arabische und ins Lateinische übersetzt und so die medizinische Wissenschaft der Alten in unsere Zeit herübergerettet.«
Don Rodrigue ging darauf nicht ein, wohl aber erzählte er von großen Ärzten der frühen Christenheit. Da waren die Heiligen Cosmos und Damian, arabischen Ursprungs übrigens, die um die Zeit des Galenus kaum weniger wunderbare Kuren vollbracht hatten als dieser. Ihre Nebenbuhler zeigten an, daß sie Christen waren. Die Richter verurteilten sie, und man warf sie ins Meer: Engel kamen und retteten sie. Man warf sie ins Feuer: das Feuer konnte ihnen nichts anhaben. Man warf Steine auf sie: die Steine änderten ihren Lauf und steinigten ihre Feinde. Noch nachdem sie tot waren, vollbrachten sie staunenswerte Kuren. Da war etwa ein Mann, der Wundbrand im Schenkel hatte. Er betete vor dem Bild der beiden Heiligen. Er fiel in tiefen Schlaf und träumte, die Heiligen schnitten ihm das kranke Bein ab und ersetzten es durch das eines toten Arabers. Wirklich hatte er, als er erwachte, ein neues, gesundes Bein; auch den toten Araber fand man, dessen Bein die Heiligen ihm eingefügt hatten.
»Das müssen große Zauberer gewesen sein«, anerkannte Doña Raquel. Musa aber meinte: »Die moslemischen großen Ärzte haben ihre besten Heilerfolge erzielt, während sie am Leben waren. Auch kenne ich manchen Christen, der bei einer ernstlichen Erkrankung gern einen jüdischen oder moslemischen Arzt zu Rate zieht.« Don Rodrigue, weniger friedfertig als sonst, antwortete: »Wir Christen lehren, Bescheidenheit ist eine Tugend.« Musa gab freundlich zu: »Lehren tut ihr das, mein hochwürdiger Freund.« Don Rodrigue lachte. »Nichts für ungut«, sagte er. »Sollte ich erkranken, dann werde ich glücklich sein, wenn du mich behandelst, o weiser Musa.«
Don Benjamín hatte heimlich in sein Merkbuch gezeichnet. Er zeigte Doña Raquel, was er gemacht hatte. Da saß ein Rabe auf einem Baum, und der Rabe trug das Gesicht des Musa. Es war unverkennbar ein Porträt und also zwiefach verboten. Aber es war ein lustiges, freundliches Porträt, und Raquel gefiel die Zeichnung und der, der sie gemacht hatte.
Da der König nichts gegen die Castros unternahm, wurden ihre Anhänger immer dreister. Wie seinerzeit die Leute von Burgos den Nationalhelden, den Cid Compeador, gegen den Sechsten Alfonso, so verteidigten jetzt die rebellischen Barone die Castros gegen den Achten: »Was für gute Vasallen wären sie, hätten sie nur einen besseren König.« Die Herren de Nuñez und de Arenas, da der König verfallene Abgaben einforderte, höhnten: »Komm doch, Don Alfonso, und hol dir deine Gelder von uns, so wie du deine Untertanen aus den Burgen der Castros zurückholst!«
Don Alfonso wütete. Wenn er nicht wollte, daß alle seine Barone sich gegen ihn empörten, durfte er sich von den Castros nicht länger auf dem Kopf herumtanzen lassen.
Er berief seine Vertrauten zu einem Kronrat. Da waren Don Manrique de Lara und sein Sohn Garcerán, der Erzbischof Don Martín de Cardona und der Domherr Don Rodrigue; der Escrivano Mayor Don Jehuda war noch in Aragon.
Vor seinen Freunden ließ Don Alfonso seinem ohnmächtigen Zorn freien Lauf. Die Castros taten ihm einen Schimpf nach dem andern an, und sein Escrivano verhandelte mit dem zweideutigen König Raimundez und wollte ritterlichen Streit auf Krämerart lösen. Dabei trug doch der Jude die Hauptschuld an dem üblen Handel, da er sich ins Haus der Castros gesetzt hatte. »Am liebsten«, schloß er ungebärdig, »würfe ich ihn wieder hinaus.«
Don Manrique begütigte: »Sei gerecht, Herr König. Unser Jude hat sich sein Castillo verdient. Er hat mehr gehalten, als er versprochen hat. Die Granden zahlen dir Steuern in Friedenszeiten. Siebzehn Städte, die den Granden gehörten, unterstehen heute dir. Und wenn die Castros ein paar Untertanen von dir gefangenhalten, so sind jetzt viele hundert deiner Ritter und Knechte frei, die gefangen in Sevilla saßen.«
Erzbischof Don Martín, rotes, rundes, derbfröhliches Gesicht unter ergrauendem Haar, widersprach. Streitbar saß er, halb Priester, halb Ritter. Das Gewand, das seine Würde anzeigte, verbarg nicht die Rüstung; denn hier in Toledo, fand er, so nahe den Moslems, war man in währendem Heiligen Krieg. »Du hast viele Worte des Ruhmes für deinen Juden, edler Don Manrique«, sagte er mit seiner schallenden Stimme. »Dieser neue Ibn Esra hat, ich geb es zu, Hunderttausende von Goldmaravedí aus dem Lande herausgezaubert, und davon einiges auch für den König Unsern Herrn. Dafür aber hat er der Heiligen Kirche um so größeren Schaden gebracht. Verschließt doch nicht eure Augen vor dieser Tatsache, Herren! Die Judenheit von Toledo ist immer frech gewesen, schon zu Zeiten unserer gotischen Väter, und daß du geruht hast, Herr König, diesen Jehuda ins Amt zu setzen, hat die Unverschämtheit der Aljama unerträglich gemacht. Nicht nur weigert sich ihr Oberster, dieser Ephraim Bar Abba, mir meinen Zehnten zu zahlen, wobei er sich leider auf dich berufen kann, Herr König, er erdreistet sich auch, in einer Synagoge mit herausforderndem Nachdruck jenen Segen Jakobs verkünden zu lassen: ›Es wird das Zepter nicht weichen von Juda und nicht der Herrscherstab von seinen Füßen.‹ Dabei habe ich dem Manne aus den Schriften der Kirchenväter klargemacht, daß dieser Segen Jakobs nur gültig war bis zur Ankunft des Messias und mit dem Erscheinen des Heilands seinen Wert verlor. Aber nur wir Christen verstehen die geheime innere Meinung der Schrift. Diese Juden gleichen dem unvernünftigen Getier und bleiben an der Oberfläche haften.«
»Man sollte vielleicht«, meinte mild der Domherr, »mit der Aljama von Toledo nicht zu streng ins Gericht gehen. Als damals die blinden, sündigen und hochmütigen Juden von Jerusalem Unsern Herrn Jesus Christus vor ihr Tribunal schleppten, hat die jüdische Gemeinde von Toledo dem Hohenpriester Kaiphas Botschaft geschickt und ihn gewarnt, er solle den Heiland nicht kreuzigen. So steht es deutlich in den alten Büchern.«
Der Erzbischof maß Don Rodrigue unmutigen Blickes, aber er unterdrückte eine Erwiderung. Es bestand nämlich eine wunderliche Verknüpfung zwischen ihm und seinem Sekretär. Der Erzbischof war fromm, grundehrlich und sich bewußt, daß sein kriegerisches Temperament ihn manchmal zu Worten und Taten veranlaßte, die ihm, dem Primas von Hispanien, dem Nachfolger des heiligen Eugenius und des heiligen Ildefonso, nicht anstanden, und um die Sünden zu büßen, zu denen sein streitbares Gemüt ihn verleiten mochte, hatte er sich mit der ständigen Gegenwart des lammherzigen Don Rodrigue belastet; darauf wollte er hinweisen, falls ihm beim Jüngsten Gericht vorgehalten werden sollte, daß zuweilen der Soldat in ihm mächtiger gewesen sei als der Priester.
Statt also an Don Rodrigue wandte er sich an den König: »Als du damals, der Not und deinen Ratgebern gehorchend, den Juden herbeiriefst, habe ich dich gewarnt, Don Alfonso, und dir vorausgesagt: es werden Tage kommen, da du diese Berufung bereust. Das Heilige Concilium hat seine guten Gründe gehabt, als es den Königen der Christenheit untersagte, Ungläubige mit hohen Ämtern zu betrauen.«
Don Manrique meinte: »Auch die Könige von Engelland und von Navarra sowie die Könige von León, Portugal und Aragon haben den Beschlüssen des Lateranischen Conciliums zum Trotz ihre jüdischen Minister beibehalten. Sie haben sich begnügt, dem Heiligen Vater ihr Bedauern auszusprechen. So tat der König Unser Herr. Er durfte sich überdies berufen auf das Vorbild seiner erlauchten Ahnen. Der Sechste Alfonso, der Kaiser Hispaniens, hatte zwei jüdische Minister, der Siebente Alfonso fünf. Ich sehe nicht, wie Kastilien die vielen Kirchen für die Heiligen hätte bauen können und die vielen Festungen gegen die Moslems ohne die Hilfe der Juden.«
»Erlaube mir ferner, mein hochehrwürdiger Vater«, ergänzte der Domherr, »dich in Ehrfurcht an unsern Freund zu erinnern, den ehrwürdigen Bischof von Valladolid. Auch er konnte seine Steuern nicht hereinbekommen und mußte unsern Jehuda mit der Eintreibung betrauen.«
Dieses Mal konnte Don Martín den Zorn nicht in der Brust bewahren. »Du hast viele Tugenden, Don Rodrigue«, grollte er, »du bist beinahe ein Heiliger, und darum ertrage ich dich. Aber laß mich dir in aller Demut sagen: manchmal grenzt deine Milde und Duldsamkeit ans Unverschämte.«
Der König hörte nicht auf diese Zänkereien. Er saß in sich gekehrt, und nun sagte er heraus, was ihn beschäftigte: »Manches Mal schon habe ich mich gefragt, warum Gott den Ungläubigen so viel Kräfte gab, die er uns versagt hat. Ich denke mir es so: da er sie verdammt hat für die Ewigkeit, gerade darum hat er sie in seiner Gnade für die kurze Spanne, die sie auf Erden verbringen, mit viel Klugheit ausgestattet und mit Glanz der Rede und mit der Gabe, Schätze zu sammeln.«
Die andern schwiegen etwas verlegen. Es war merkwürdig, daß der König so offen innerste Gedanken preisgab, es war eigentlich ungehörig. Aber der König hatte das Recht, königlich unbekümmert herauszusagen, was ihm durch die Seele ging.
Der jugendliche Don Garcerán kehrte zurück zum Gegenstand der Beratung. »Eines, Herr König, könntest du tun«, schlug er vor. »Wenn du schon nicht vorgehst gegen die Castros, so lege doch eine Garnison an ihre Grenze. Lege Kriegsknechte in die Stadt Cuenca.« – »Das ist guter Rat«, stimmte schallend der Erzbischof bei. »Ja, lege Kriegsknechte nach Cuenca, und nicht zu wenige, daß den Castros die Lust vergeht, deine Untertanen zu überfallen.«
Daran hatte Don Alfonso selber schon gedacht. Aber es war ihm lieb, daß die andern es vorschlugen. »Ja, das werde ich tun«, verkündete er. Und: »Dagegen kann nicht einmal unser Jude was einwenden«, meinte er grimmig fröhlich.
Don Manrique fand, es genügten drei Fähnlein, Cuenca gegen die Castros zu sichern. Don Alfonso wandte ein, es könnte durch die Gewalttaten der Castros auch der Emir von Valencia Appetit auf die Stadt bekommen, er werde lieber mehr Soldaten, er werde zweihundert Lanzen nach Cuenca schicken. Der Erzbischof, der als erfahren in der Kriegskunst galt, gab zu bedenken, daß einige der Kriegsknechte immer unterwegs sein müßten, bedrohte Bauernhöfe zu schützen oder reisenden Bürgern Geleit zu geben. »Schicke dreihundert Lanzen, Don Alfonso!« forderte er.
Don Alfonso schickte fünfhundert Lanzen.
Das Kommando dieser Truppen übertrug er seinem Freunde Don Estéban Illán, einem jungen, muntern, kühnen Herrn. Bevor Don Estéban verritt, legte der König ihm ans Herz: »Laß mir keinen neuen Schimpf antun, Don Estéban! Dulde nicht die leiseste Ungebühr! Und wenn die Leute der Castros auf unserm Gebiet ein einziges Huhn stehlen, laß es nicht zu! Verfolge sie bis in ihr Santa María, und nimm ihnen das Huhn wieder ab! Und wenn es zehn Kriegsknechte kostet!« Er gab ihm den Handschuh, das Zeichen ritterlichen Auftrags. Don Estéban küßte ihm die Hand und sagte: »Du sollst dich nicht zu beklagen haben, Don Alfonso.«
Soldaten rückten ein in die kleine Stadt Cuenca und in die Dörfer der Umgebung. Streiften an der schwer übersichtlichen Grenze des Berglandes Albarracín. Aber niemand von den Knechten der Castros ließ sich sehen. Es verging eine Woche, noch eine. Die Soldaten Don Estébans murrten über den langweiligen Dienst, die Leute von Cuenca schimpften über die drückende Anwesenheit der Soldaten.
Jehuda mittlerweile war in Saragossa und verhandelte mit seinem Vetter Don Joseph Ibn Esra. Dieser, ein intelligenter Herr, dicklich, behaglich, umgänglich, skeptisch, ließ merken, daß er Jehudas Beweggründe durchschaute. Doch lag ihm selber an der Erhaltung des Friedens, und er kam ihm freundschaftlich entgegen. Was Jehuda wollte, war, daß Aragon die kastilischen Gefangenen der Castros auslöse und an Don Alfonso zurückgebe; dieser würde dafür von seinem Anspruch auf die Stadt Daroca abstehen. Jehudas Vorschlag schien Don Joseph nicht unbillig, und er glaubte auch, ihn seinem Herrn schmackhaft machen zu können. Freilich durfte man nichts überstürzen. König Raimundez war im Feldlager, voll beschäftigt mit der glücklichen Beendigung des Krieges gegen den Grafen von Toulouse, und Don Joseph mußte die rechte Zeit abwarten, ehe er ihm mit einer so unwichtigen Angelegenheit kommen konnte. Er werde in etwa zwei Wochen zu Don Raimundez ins Feldlager reisen. So lange möge sich Don Jehuda gedulden. Dann möge auch er sich bei Don Raimundez einfinden.
Jehuda nutzte die zwei Wochen. Er fuhr nach Perpignan und brachte ein verwickeltes Geschäft zu einem glücklichen Ende. Er fuhr nach Toulouse, um einen Verwandten zu besuchen, Meïr Ibn Esra, den jüdischen Bailli dieser Stadt. Dann fuhr er zu König Raimundez ins Lager. Don Joseph half ihm treulich, und Don Raimundez hörte ihn gnädig an. Allein der König war ein langsamer, gründlicher Herr, und es dauerte eine weitere volle Woche, ehe er sich entschloß, ja zu sagen.
Jehuda atmete auf. Das übelste von den dummen Hindernissen, die sein Friedenswerk gefährdeten, war beseitigt. Er schickte einen Kurier an Don Alfonso mit der Nachricht, der erfreuliche Vertrag sei unterschrieben und gesiegelt, er selber, Jehuda, werde in wenigen Tagen zurück sein.
Allein diese Botschaft war noch nicht in Toledo angelangt, als Don Alfonso aus Cuenca ein langes, verworrenes Schreiben seines Freundes Estéban Illán erhielt.
Unvorhergesehenes hatte sich ereignet. Bewaffnete Knechte der Castros hatten auf kastilischem Gebiet eine Schafherde rauben wollen. Leute des Don Estéban hatten sie ins Gebiet der Castros hinein verfolgt. Dort waren sie auf eine Schar von Rittern und Knappen gestoßen. Es hatte Schimpfreden gegeben, ein Scharmützel. Dabei war einer der Ritter umgekommen, unglücklicherweise einer der Brüder Castro, der Graf Fernán. Nicht leugnen lasse sich, schrieb Don Estéban, daß Fernán de Castro, als der kastilische Pfeil ihn traf, nicht zum Kampfe gerüstet war, sondern wohl auf einem Jagdausflug begriffen, er habe seinen Lieblingsfalken auf dem Handschuh getragen. Warum der kastilische Kriegsknecht den unbesonnenen Pfeil abgeschossen hatte, lasse sich kaum mehr feststellen; jedenfalls habe er, Estéban, den schuldigen Kriegsknecht sogleich hängen lassen.
Don Alfonso las, und ihm sank das Herz. Schlimmer hätte das Unternehmen nicht ausgehen können. Ein gemeiner Kriegsknecht hatte einen Herrn höchsten Adels, der nicht bewaffnet war, schmählich gemeuchelt in seinem, Alfonsos, Auftrag. Ganz Hispanien wird das ihm, dem König von Kastilien, zum Schimpf anrechnen.
Der andere Castro, Gutierre, hatte jetzt triftigen, ritterlichen Grund, seinen Bruder zu rächen. Er wird sich an Aragon wenden, und König Raimundez, Sieger in der Provence, hatte den willkommenen Vorwand, ihn, Alfonso, den gehaßten Neffen, mit Krieg zu überziehen. Der dumme Krieg mit Aragon, den er nicht gewollt hatte, vor dem jeder ihn gewarnt hatte, jetzt war er da.
Alfonso schämte sich vor Jehuda. Schämte sich vor allen seinen Räten. Vor der ganzen Christenheit. Dabei hatte er nur getan, was jeder andere Ritter an seiner Stelle getan hätte. Es war seine königliche Pflicht gewesen, seine gute Stadt Cuenca zu schützen und Truppen hinzuschicken. Und wenn er dem kühnen Don Estéban Illán den Befehl übertragen hatte, so konnte ihn auch darum niemand schelten. Don Estéban war sein Freund und ein guter Ritter und trug überdies das Knöchelchen des heiligen Ildefonso in sein Schwert geschmiedet. Ach, die gute Reliquie hatte den Satan nicht abgehalten. Denn es war nichts als höllisches Unglück, daß es so gekommen war, es war Tücke des Satans, und niemand trug Schuld, nicht er, nicht Don Estéban, nicht Fernán de Castro, nicht einmal der Jude. Aber alle Christenheit wird ihm die Schuld geben, ihm, Alfonso.
Nein, dieser Jehuda hat ihm kein Glück gebracht. Und jetzt, da er seinen Rat dringlich brauchte, war er nicht da!
Es war gut, daß er nicht da war. Er hätte ihn jetzt nicht sehen können. Er hätte sein vorwurfsvolles, gescheites Gerede nicht ertragen. Er mußte einen Menschen haben, der ihn ganz begriff, seine Schuldlosigkeit, sein unerhörtes Unglück, einen sehr nahen Menschen, einen, der zu ihm gehörte.
Ohne Jehuda abzuwarten, mit kleinstem Gefolge, ritt er nach Burgos, zu seiner Königin, zu Doña Leonor.