Zweites Kapitel

Es erschien in Toledo mit Geleitbriefen des Königs der Intendant und Sekretär Don Jehudas, Ibn Omar. Mit ihm kamen moslemische Architekten, Künstler und Handwerker. Große Geschäftigkeit begann im Castillo de Castro, und die Energie und Verschwendung, mit welcher der Umbau betrieben wurde, erregte die Stadt. Dann trafen aus Sevilla Bedienstete aller Art ein, und später auf vielen Wagen mannigfacher Hausrat, dazu dreißig Maultiere und zwölf Pferde, und immer neue, bunte Gerüchte flatterten auf um den Fremden, der da kommen sollte.

Dann kam er. Mit ihm seine Tochter Raquel, sein Sohn Alazar und sein vertrauter Freund, der Arzt Musa Ibn Da’ud.

Jehuda liebte seine Kinder und machte sich Gedanken darüber, ob sie, aufgewachsen in dem verfeinerten Sevilla, sich ins derbe Leben Kastiliens würden einfügen können.

Dem tatenlustigen Alazar, dem Vierzehnjährigen, wird freilich die rauhe, ritterliche Welt gut gefallen; wie aber wird es mit Rechja sein, mit seiner lieben Raquel?

Zärtlich, mit leiser Sorge, beschaute er sie, wie sie neben ihm herritt. Sie reiste, wie das üblich war, in Männerkleidung. Jünglinghaft saß sie im Sattel, etwas schlaksig, eckig, kühn und kindlich. Kaum hielt die Kappe das dichte, schwarze Haar. Mit den großen, blaugrauen Augen, aufmerksam, musterte sie die Menschen und Häuser der Stadt, die nun ihre Heimat sein sollte.

Jehuda wußte, daß sie keine Mühe scheuen werde, sich dieses Toledo zur Heimat zu machen. Kaum nach Sevilla zurückgekehrt, hatte er ihr auseinandergesetzt, was ihn forttrieb. Er hatte mit ihr, der Siebzehnjährigen, so freimütig gesprochen, als wäre sie ihm gleich an Alter und Erfahrung. Er spürte, seine Raquel, so kindlich sie sich noch manchmal gab, begriff ihn aus dem Gefühl heraus. Sie gehörte zu ihm, sie war – gerade in jener Unterredung hatte es sich gezeigt – in Wahrheit eine Ibn Esra, tapfer, gescheit, aufgeschlossen allem Neuen, voll von Gefühl und Phantasie.

Aber wird sie sich hier bei diesen Christen und Soldaten zurechtfinden? Muß sie in dem kahlen, kalten Toledo ihr Sevilla nicht vermissen? Dort hatte jedermann sie gerne gehabt. Nicht nur hatte sie Freundinnen ihres Alters, auch die Herren in der Umgebung des Emirs, diese kundigen, wissenden Diplomaten, Dichter, Künstler, hatten ihre Freude an den naiven, merkwürdigen Fragen und Beobachtungen dieses halben Kindes Raquel.

Wie immer, jetzt waren sie in Toledo, und da war das Castillo de Castro, und jetzt nahmen sie es in Besitz, und von jetzt an wird es das Castillo Ibn Esra sein.

Jehuda war freudig überrascht, was alles seine erprobten Helfer in so kurzer Zeit aus dem unwirtlichen Hause gemacht hatten. Die Steinböden, die früher jeden Schritt hatten dröhnen lassen, waren mit sanften, dicken Teppichen belegt. Sofas zogen sich an den Wänden hin mit bequemen Polstern und Kissen. Friese, rot, blau und golden, liefen um den Raum; verwebt in kunstvolle Ornamente, luden arabische und hebräische Inschriften zur Betrachtung. Kleine Fontänen, gespeist durch ein klug erdachtes System von Wasserröhren, gaben Kühlung. Ein weiter Raum war da für Jehudas Bücher; manche lagen aufgeschlagen auf Pulten und zeigten die kunstreichen, farbigen Initialen und Randleisten.

Und da war der Patio, jener Hof, in dem er damals den großen Entschluß gefaßt hatte, da die Fontäne, an deren Rand er gesessen war. Genau wie er sich’s gedacht hatte, hob sich und fiel ihr Strahl, gleichmäßig still. Das dichte dunkle Laub der Bäume vertiefte die Stille; durch das Laub aber schauten sattgelb Orangen und mattgelb Zitronen. Zugeschnitten waren die Bäume, bunt und kunstvoll geordnet die Blumenbeete, und überall war sanft rinnendes Wasser.

Doña Raquel, mit den andern, besichtigte das neue Haus, weitäugig, aufmerksam, einsilbig, doch innig vergnügt. Dann nahm sie Besitz von den beiden Räumen, die ihr bestimmt waren. Entledigte sich der engen, reibenden Männerkleidung. Ging daran, sich von dem Staub und Schweiß der Reise zu säubern.

Neben ihrem Schlafzimmer war eine Badekammer. In den fliesenbedeckten Boden eingelassen war ein tiefes Bassin, versehen mit einer Röhrenleitung für warmes und kaltes Wasser. Bedient von ihrer Amme Sa’ad und der Zofe Fátima, badete Doña Raquel. Wohlig lag sie in dem warmen Wasser und hörte mit halbem Ohr auf das Geschwätz der Amme und der Dienerin.

Bald hörte sie nicht mehr, sondern überließ sich ihren wandernden Gedanken.

Es war alles wie in Sevilla, sogar die Wanne, in der sie lag. Aber sie selber war keine Rechja mehr, sie war Doña Raquel.

Auf der Reise, abgelenkt von immer neuen Eindrücken, war sie sich niemals ganz bewußt geworden, was das bedeutete. Nun, da sie angekommen war und entspannt in der Ruhe des Bades lag, überfiel sie zum erstenmal mit ganzer Wucht das Gefühl der Veränderung. Wäre sie noch in Sevilla gewesen, dann wäre sie zu ihrer Freundin Layla gelaufen, um sich mit ihr auszusprechen. Layla war ein unwissendes Mädchen, sie verstand nichts und konnte ihr nicht helfen, aber sie war ihre Freundin. Hier war keine Freundin, hier waren lauter Fremde und lauter Fremdes. Hier war keine Azhar-Moschee; der Ruf des Muezzins von der Azhar-Moschee, der zur Waschung und zum Gebet mahnte, war gellend wie der jedes andern, aber sie kannte ihn heraus. Und hier war kein Chatib, ihr eine schwierige Stelle des Korans zu erklären. Hier waren nur wenige, mit denen sie in ihrem lieben, vertrauten Arabisch schwatzen konnte; sie wird eine harte, komische Sprache brauchen müssen, und um sie werden Menschen sein mit groben Stimmen und Gebärden und mit rauhen Gedanken, Kastilier, Christen, Barbaren.

Sie war glücklich gewesen in dem hellen, wunderbaren Sevilla. Ihr Vater hatte dort zu den Ersten gehört, und schon weil sie dieses Vaters Tochter war, hatten alle sie liebgehabt. Wie wird es hier sein? Werden diese Christen verstehen, was für ein großer Mann ihr Vater ist? Und werden sie Sinn haben für ihr, Raquels, Wesen und ihre Art? Wird nicht sie ihnen genauso fremd und komisch vorkommen wie die Christen ihr?

Und dann war da das andere, noch größere Neue; jetzt war sie vor aller Welt eine Jüdin.

Sie war im Glauben der Moslems aufgewachsen. Aber noch als sie ganz klein war – es war gleich nach dem Tod der Mutter, fünf Jahre mochte sie gewesen sein –, hatte der Vater sie beiseite genommen und ihr flüsternd, bedeutsam gesagt, sie gehöre zur Familie der Ibn Esras, und das sei ein Einmaliges, sehr Großes, aber auch ein Heimliches, von dem man nicht reden dürfe. Später dann, als sie größer war, hatte er ihr eröffnet, daß er Moslem sei, aber auch Jude, und er hatte ihr erzählt von jüdischen Lehren und Sitten. Doch hatte er ihr nicht befohlen, diese Bräuche zu üben. Und als sie ihn einmal geradezu fragte, was sie glauben und was sie tun solle, hatte er freundlich erwidert, da sei kein Zwang; wenn sie erst erwachsen sei, dann möge sie selber entscheiden, ob sie die hohe, doch nicht ungefährliche Verpflichtung heimlichen Judentums auf sich nehmen wolle.

Daß der Vater ihr die Entscheidung auflegte, hatte sie mit Stolz erfüllt.

Einmal hatte sie sich nicht länger zähmen können und gegen ihren Willen ihrer Freundin Layla anvertraut, daß sie eigentlich eine Ibn Esra sei. Layla aber hatte seltsamerweise geantwortet: »Ich wußte es«, und nach einem kleinen Schweigen hatte sie hinzugefügt: »Du Arme.«

Raquel hatte nie mehr mit Layla über ihr Geheimnis gesprochen. Aber als sie das letztemal zusammen waren, hatte Layla haltlos geweint und gesagt: »Ich habe immer geahnt, daß es so kommen wird.«

Es war jenes dreiste, törichte Mitleid Laylas gewesen, das damals Raquel antrieb, genauer zu erkunden, was denn diese Juden waren, zu denen sie und der Vater gehörten. Die Moslems nannten sie »das Volk des Buches«; also mußte sie zuerst einmal dieses Buch lesen.

Sie bat Musa Ibn Da’ud, Onkel Musa, der im Hause des Vaters lebte und der sehr gelehrt war und viele Sprachen kannte, sie im Hebräischen zu unterweisen. Sie lernte leicht und konnte bald in dem Großen Buch lesen.

Sie hatte sich von ihren frühesten Jahren an zu Onkel Musa hingezogen gefühlt, doch erst in den Stunden des Unterrichts lernte sie ihn recht kennen. Dieser nächste Freund ihres Vaters war ein langer, dünner Herr, älter als der Vater; manchmal schien er uralt, dann wieder auffallend jung. Aus seinem hagern Gesicht ragte eine fleischige, stark gekrümmte Nase, über ihr leuchteten große, schöne Augen, die einen durch und durch schauen konnten. Er hatte viel erlebt; der Vater sagte, er habe sein ungeheures Wissen und die Freiheit seines Geistes mit vielen Leiden bezahlen müssen. Doch sprach er nicht davon. Wohl aber erzählte er manchmal dem Kinde Raquel von fernen Ländern und seltsamen Menschen, und das war noch aufregender als all die Märchen und Geschichten, die Raquel gerne hörte und las; denn da vor ihr saß dieser ihr Freund und Onkel Musa und war mitten drin gewesen.

Musa war Moslem und hielt alle Bräuche. Aber er schien lax im Glauben und verbarg nicht milde Zweifel an allem, was nicht Wissen war. Einmal, als er mit ihr im Propheten Jesaja las, sagte er: »Das war ein großer Dichter, vielleicht ein größerer als der Prophet Mohammed und der Prophet der Christen.«

Das war verwirrend. Durfte sie, die sich zum Propheten bekannte, überhaupt in dem Großen Buch der Juden lesen? Wie alle Moslems betete sie täglich die Eingangs-Sure des Korans, und da hieß es im letzten, siebenten Verse, Allah möge seine Gläubigen fernhalten vom Wege derer, denen er zürne. Mit diesen Gnadelosen aber, hatte ihr Freund erklärt, der Chatib der Azhar-Moschee, waren die Juden gemeint; denn daß Allah ihnen zürnte, zeigte er ja durch das Unheil, das er über sie brachte. Ging sie also nicht, wenn sie in dem Großen Buch las, den falschen Weg? Sie faßte sich ein Herz und fragte Musa. Der schaute sie lang und freundlich an und meinte, ihnen, den Ibn Esras, zürne Allah offenbar nicht.

Das leuchtete Raquel ein. Mußte doch ein jeder sehen, daß Allah ihrem Vater gnädig war. Nicht nur hatte er ihm jegliche Weisheit gegeben und das mildeste Herz, er hatte ihn auch mit allen äußern Gütern gesegnet und mit hohem Ruhme.

Raquel liebte ihren Vater. In ihm sah sie verleiblicht alle die Helden der bunten, blühenden Märchen und Geschichten, die sie so gerne hörte, die würdigen Herrscher, die klugen Wesire, die weisen Ärzte, Hofherren und Zauberer, dazu alle die von Liebe brennenden Jünglinge, denen die Frauen zuflogen. Und überdies war um den Vater sein hohes, gefährliches Geheimnis: er war ein Ibn Esra.

Von allen ihren Erlebnissen hatte sich ihr am tiefsten ins Herz geprägt jenes dunkle, flüsternde Gespräch, in welchem der Vater dem Kinde eröffnet hatte, daß er zu den Ibn Esras gehörte. Dann aber war dieses Gespräch verschattet worden von einem noch bedeutsameren. Als nämlich der Vater von seiner großen Reise ins nördliche Sepharad, ins christliche Spanien, zurückgekehrt war, nahm er sie beiseite und sprach ihr, gedämpft wie damals, von den Gefahren, die hier in Sevilla die heimlichen Juden bedrohen werden, wenn der Heilige Krieg ausbricht; und dann, im Tone des Märchenerzählers, beinahe scherzend, fuhr er fort: »Und hier, ihr Gläubigen, beginnt die Geschichte von dem Dritten Bruder, der aus dem hellen, sichern Tag in das mattgoldene Dämmer der Höhle ging.« Raquel begriff sofort, sie nahm seinen Ton auf, und wie die Hörer in den Märchen fragte sie: »Und was geschah diesem Manne?« – »Um das zu erfahren«, hatte der Vater erwidert, »werde ich in die dämmerige Höhle gehen«, und er hatte den sanft dringlichen Blick nicht von ihr gelassen. Er gönnte ihr eine kleine Weile, sich zurechtzufinden in dem, was er ihr da eröffnet hatte; dann hatte er weitergesprochen: »Als du ein Kind warst, meine Tochter, habe ich dir gesagt, du werdest einmal wählen müssen. Nun ist es an dem. Ich rate dir weder ab, mir zu folgen, noch rede ich dir zu. Es sind hier viele Männer, junge, kluge, gebildete, treffliche, die sich freuen werden, dich zur Frau zu haben. Wenn du es willst, gebe ich dich einem von ihnen, und deiner Mitgabe sollst du dich nicht zu schämen haben. Überdenk es gut, und in einer Woche werde ich dich fragen, wie du entschieden hast.« Sie aber hatte ohne Zögern geantwortet: »Will mein Vater mir die Gunst erweisen, mich schon heute zu fragen, jetzt?« – »Also frage ich dich jetzt«, hatte der Vater erwidert, und sie hatte gesagt: »Was mein Vater tut, ist recht, und wie er tut, will auch ich tun.«

Das Herz war ihr warm geworden, da sie sich ihm so innig verknüpft fand, und auch über sein Gesicht war eine große Freudigkeit gegangen.

Dann hatte er ihr erzählt von der abenteuerlichen Welt der Juden. Immer hatten sie gefährlich leben müssen, auch jetzt waren sie bedroht von Moslems wie von Christen, und das war eine große Prüfung Gottes, der sie einzigartig gemacht und sie auserwählt hatte. Inmitten dieses Volkes aber, des berufenen, lange geprüften, war wiederum ein Geschlecht auserwählt: die Ibn Esras. Und nun hatte Gott ihm, einem dieser Ibn Esras, die Sendung auferlegt. Er hatte die Stimme Gottes gehört und hatte geantwortet: Hier bin ich. Und wenn er bisher nur am Rande der jüdischen Welt gelebt hatte, so mußte er sich jetzt aufmachen, mitten in diese Welt hineinzugehen.

Daß der Vater sie in sein Inneres hatte schauen lassen, daß er ihr vertraute wie sie ihm, hatte sie ganz zu einem Teil von ihm gemacht.

Jetzt, angelangt am Orte ihrer Bestimmung, entspannt im Bade, hörte sie im Geist alle seine Worte wieder. Leise freilich in diese Worte hinein klang das haltlose Weinen ihrer Freundin Layla. Aber Layla war ein kleines Mädchen, sie wußte nichts und sie verstand nichts, und Raquel war dem Schicksal dankbar, das sie zu einer Ibn Esra gemacht hatte, und sie war glücklich und voll von Erwartung.

Sie erwachte aus ihrem Geträume und hörte wieder das Geschwatz ihrer lieben, dummen alten Amme Sa’ad und der geschäftigen Fátima. Die Frauen liefen ab und zu, aus der Badekammer ins Schlafzimmer und zurück, und konnten sich nicht zurechtfinden in den neuen Räumen. Es lächerte Raquel, sie wurde kindisch und albern.

Sie richtete sich auf. Sah an sich herunter. Dieses nackte, blaßbräunliche Mädchen, das dastand, überrieselt von Wasser, war also keine Rechja mehr, sondern Doña Raquel Ibn Esra. Und lachend und ungestüm fragte sie die Alte: »Bin ich nun anders? Siehst du, daß ich anders bin? Sag schnell!« Und da die Alte nicht gleich verstand, drängte sie, immer lachend und herrisch: »Ich bin doch jetzt eine Kastilierin, eine Toledanerin, eine Jüdin!« Die Amme Sa’ad, bestürzt, plapperte mit ihrer hohen Stimme: »Lade doch keine Schuld auf dich, Rechja, mein Augapfel, mein Töchterchen, du Rechtgläubige. Du glaubst doch an den Propheten.« Raquel, lächelnd und besinnlich, erwiderte: »Beim Bart des Propheten, Amme: Ich weiß nicht genau, wie weit ich hier in Toledo an den Propheten glaube.« Die Alte, tief erschreckt, wich zurück: »Allah behüte deine Zunge, Rechja, meine Tochter«, sagte sie. »Solche Scherze solltest du nicht machen.« Raquel aber sagte: »Wirst du mich gleich Raquel nennen! Wirst du mich endlich Raquel nennen!« Und: »Raquel! Raquel!« rief sie. »Sags nach!« Und sie ließ sich zurückfallen ins Wasser, daß es die Alte überspritzte.

Als Jehuda sich in der Königsburg meldete, empfing ihn Don Alfonso sogleich. »Nun also«, fragte er mit trockener Höflichkeit, »was hast du erreicht, mein Escrivano?«

Jehuda erstattete Bericht. Seine Repositarii, seine Rechtskundigen, waren dabei, die Listen der Steuern und Abgaben zu revidieren und zu ergänzen; er werde in wenigen Wochen genaue Ziffern vorlegen. Einhundertunddreißig Sachverständige waren ins Land gerufen, zumeist aus moslemischen Gebieten, aber auch aus der Provence, aus Italien, ja, selbst aus Engelland, die Landwirtschaft, den Bergbau, das Gewerbe, das Straßennetz zu verbessern. Jehuda führte Einzelheiten an, Ziffern; er sprach frei, aus dem Gedächtnis.

Der König schien nur lässig zuzuhören. Als indes Jehuda zu Ende war, meinte er: »War nicht einmal von neuen, großen Gestüten die Rede, die du mir anlegen wolltest? Davon habe ich in deinem Vortrag nichts gehört. Auch stelltest du in Aussicht, du würdest Goldschmiedewerkstätten errichten, so daß meine Münze Gold würde prägen können. Hast du in dieser Richtung etwas unternommen?«

Jehuda hatte in seinen zahlreichen Memoranden ein einziges Mal die Verbesserung der Pferdezucht, ein einziges Mal die Errichtung von Goldschmiedewerkstätten erwähnt. Er wunderte sich über Don Alfonsos gutes Gedächtnis. »Mit Gottes und mit deiner Hilfe, Herr König«, antwortete er, »wird es vielleicht möglich sein, in hundert Monaten nachzuholen, was in hundert Jahren verabsäumt worden ist. Was in diesen drei Monaten hingestellt wurde, scheint mir kein schlechter Anfang.«

»Es ist einiges geschehen«, gab der König zu. »Aber ich bin nicht geschickt in der Kunst des Wartens. Ich sag es dir offen, Don Jehuda, der Schaden, den du mir bereitest, scheint mir größer als der Nutzen. Vorher haben meine Barone, wenn auch widerwillig und mit Vorbehalt, Beisteuern für Kriegszwecke bezahlt; das waren, berichtet man mir, die Haupteinkünfte meines Schatzes. Jetzt, da du mein Escrivano bist, berufen sie sich auf den langen Frieden, der vor uns gähnt, und zahlen nichts mehr.«

Daß der König das Erreichte so danklos hinnahm und ihm weithergeholte Vorwürfe machte, verdroß Jehuda. Er bedauerte, daß Doña Leonor nach Burgos zurückgekehrt war; ihre helle, heitere Gegenwart hätte das Gespräch freundlicher gewendet. Aber er schluckte den Unmut hinunter und erwiderte mit ehrerbietiger Ironie: »Darin gleichen deine Granden deinen nichtprivilegierten Untertanen. Wenn es ans Zahlen geht, suchen sie alle nach Ausflucht. Aber die Argumente deiner Barone sind brüchig, und meine geübten Repositarii können sie mit guten Gründen widerlegen. Ich werde dich bald in aller Demut bitten, einen Mahnbrief an deine Ricoshombres zu unterzeichnen, der sich auf diese Gründe stützt.«

Sosehr die Unverschämtheit und der Stolz seiner Granden den König erbitterten, es ärgerte ihn, daß der Jude ohne Achtung von ihnen sprach. Es ärgerte ihn, daß er den Juden brauchte. Er bestand: »Du warst es, der mir diese höllischen acht Jahre Waffenstillstand aufgehalftert hat. Jetzt muß ich mir mit Händler- und Schreiberkniffen zu helfen suchen.«

Jehuda bezähmte sich. »Deine Räte«, antwortete er, »haben damals zugegeben, daß ein langer Friede dir ebenso nützt wie dem Emir von Sevilla. Ackerbau und Gewerbe sind verwahrlost. Deine Barone bedrücken Bürger und Bauern. Du brauchst eine Zeit des Friedens, um das zu ändern.«

»Ja«, sagte bitter Alfonso. »Ich muß den Krieg gegen die Ungläubigen andern überlassen, und du betätigst dich und machst Geschäfte.«

»Es geht nicht um Geschäfte, Herr König«, belehrte, immer geduldig, Jehuda seinen Herrn. »Deine Granden sind übermütig geworden, weil du sie im Kriege brauchtest; es geht darum, ihnen beizubringen, daß du der König bist.«

Alfonso trat sehr nahe vor Jehuda hin und schaute ihm mit seinen grauen Augen, von denen ein Schein ausging, ins Gesicht. »Was für krumme Wege hast du dir ausgedacht, mein schlauer Herr Escrivano«, fragte er, »dein Geld mit Zinsen aus meinen Baronen herauszuholen?«

Jehuda wich nicht zurück. »Ich habe viel Kredit, Herr König«, sagte er, »und also viel Zeit. Darum kann ich deiner Majestät große Summen leihen und brauche keine Angst zu haben, auch wenn ich auf die Rückgabe lange warten muß. Auf solchen Erwägungen beruht mein Plan. Wir werden von deinen Granden verlangen, daß sie dein Steuerrecht im Prinzip anerkennen, aber rasche Zahlung werden wir nicht von ihnen verlangen. Wir werden ihnen die Abgaben stunden und nochmals stunden. Dafür werden wir Gegenleistungen fordern, die sie wenig kosten. Wir werden fordern, daß sie ihren Städten und Dörfern Fueros einräumen, Privilegien, die diesen Siedlungen eine gewisse Unabhängigkeit geben. Wir werden erwirken, daß immer mehr Städte und Dörfer nicht mehr deinen Baronen unterstehen, sondern nur dir hörig und verantwortlich sind. Deine Bürger werden Abgaben williger und pünktlicher entrichten als deine Granden, und es werden höhere Abgaben sein. Die Arbeit deiner Bauern und der Gewerbefleiß und Handel deiner Städte sind deine Stärke, Herr König. Vermehre ihre Rechte, und die Gewalt deiner widerspenstigen Granden wird kleiner.«

Alfonso war zu klug, um nicht einzusehen, daß dieser Weg der einzig wirksame war, die unverschämten Barone mürbe zu machen. Man versuchte denn auch in andern christlichen Reichen Spaniens, in Aragon, Navarra, León, Bürger und Bauern gegen die Granden zu unterstützen. Allein man tat es auf sehr behutsame Art. Die Könige gehörten selber zu den Granden, nicht zum Pöbel, sie waren Ritter, sie wollten es nicht einmal vor sich selber wahrhaben, daß sie sich mit dem Pack gegen die Granden verbündeten, und noch nie hatte jemand gewagt, Alfonso dergleichen in nackten Worten vorzuschlagen. Dieser Fremde, der keine Ahnung hatte von Rittertum und edelmännischer Art, wagte es. Er sprach das Gemeine, das zu tun man genötigt war, in gemeinen Worten aus. Alfonso war ihm dankbar und haßte ihn.

»Glaubst du im Ernst«, spottete er, »du kannst durch Papier und Geschwätz einen Nuñez oder einen Arenas dahin bringen, auf Städte und Bauern zu verzichten? Meine Barone sind Ritter, du Überschlauer, keine Händler und Advokaten.«

Wieder verwand Jehuda die Kränkung. »Diese deine Herren Ritter«, antwortete er, »werden lernen, daß Recht, Gesetz und Vertrag etwas ebenso Starkes und Wirkliches sind wie ihre Burgen und Schwerter. Ich bin sicher, daß ich sie das lehren kann, wenn ich auf die freudige Mithilfe deiner Majestät rechnen darf.«

Der König wehrte sich gegen den Eindruck, den Don Jehudas Ruhe und Zuversicht auf ihn machten. Er beharrte störrisch: »Wenn sie auch schließlich irgendeinem Drecknest Marktfreiheit gewähren, Abgaben an mich werden sie nicht leisten, das sag ich dir voraus. Und sie haben recht. Sie haben in Friedenszeiten keine Steuern zu zahlen. So hab ich es geschworen, unterschrieben und gesiegelt, als sie mich zum König machten. Yo el Rey. Und nun wird ja, dank deiner Weisheit, auf lange Jahre kein Krieg sein. Darauf berufen sie sich, darauf stehen sie.«

»Deine Majestät verzeihe«, setzte unerschüttlich Don Jehuda auseinander, »daß ich den König gegen den König verteidige. Deine Barone haben nicht recht, ihr Argument hält nicht stich. Krieg wird, ich hoffe es innig, acht Jahre lang nicht sein, aber dann wird, wie die Welt dich kennt, wieder Krieg sein. Und Kriegshilfe haben die Herren dir zu leisten. Es ist meine Pflicht als dein Escrivano, beizeiten für deinen Krieg vorzusorgen, das heißt, jetzt schon mit seiner Finanzierung zu beginnen. Es widerspräche der Vernunft, wollte ich Kriegsgelder in Hast zusammenkratzen, wenn der Krieg schon da ist. Wir werden nur einen kleinen Jahresbeitrag verlangen, und wir werden ihn fürs erste nur von deinen Städten verlangen. Denen gewähren wir gewisse Freiheiten, und sie werden dir die Waffenhilfe gerne leisten. Deine Barone können nicht so unritterlich sein, dir zu verweigern, was deine Bürger dir gewähren.«

Don Jehuda ließ Alfonso Zeit, das zu überdenken. Dann, sieghaft, fuhr er fort: »Darüber hinaus wirst du, Herr König, deine Granden durch einen Akt höchster, ritterlicher Großherzigkeit zwingen, dir den kleinen Beitrag zu genehmigen.« – »Hast du dir noch nicht genug ausgekocht?« fragte mißtrauisch Don Alfonso. »Es sind«, legte Jehuda dar, »von jenem nicht glücklichen Feldzug her noch immer sehr viele Gefangene in der Hand des Emirs von Sevilla. Deine Barone sind ihrer Verpflichtung, diese Gefangenen auszulösen, nur sehr zögernd nachgekommen.« Don Alfonso rötete sich. Es war Recht und Brauch, daß der Vasall seinen Kriegsknecht, der Baron seinen Vasallen auslöste, wenn der in seinem Dienst in Gefangenschaft geraten war. Die Barone weigerten sich nicht, diese Pflicht anzuerkennen, aber sie kamen ihr dieses Mal mit besonderem Unwillen nach; sie warfen dem König vor, seine Voreiligkeit habe den Feldzug und die Niederlage verschuldet. Am liebsten hätte Don Alfonso stolz erklärt: Ich nehme die Auslösung aller Gefangenen auf mich, ihr Knicker. Doch es ging um eine ungeheure Summe, er konnte sich diese Geste nicht leisten.

Aber da war Jehuda Ibn Esra, und er sagte: »Ich schlage also ehrerbietig vor, daß du aus Mitteln deines Schatzes die Gefangenen auslösest. Und den Herren, denen das zugute kommt, legen wir als einzige Gegenleistung auf, daß sie ihre Pflicht, jetzt schon Steuern für deinen Krieg zu zahlen, im Prinzip anerkennen.«

»Und kann denn mein Schatz das tragen?« fragte beiläufig Don Alfonso.

»Ich werde dafür sorgen, Herr König«, sagte ebenso beiläufig Jehuda.

Ein Strahlen ging über Alfonsos Gesicht. »Das ist ein großartiger Plan«, anerkannte er. Er trat nahe an seinen Familiar heran und spielte mit dessen Brustplatte. »Du verstehst dein Geschäft, Don Jehuda«, anerkannte er.

Sogleich aber mischte sich in seine dankbare Freude erbitternd die Erkenntnis, daß er dem klugen, widerwärtigen Händler immer mehr verpflichtet wurde. »Nur schade«, sagte er bösartig, »daß wir nicht auch die Castros und ihre Freunde auf solche Art beschämen können«, und: »Siehst du«, fügte er hinzu, »mit den Castros hast du mir einen übeln Handel eingebrockt.«

Diese Verdrehung der Tatsachen empörte Jehuda. Die Feindschaft zwischen dem König und den Castros bestand seit den Kinderjahren Don Alfonsos, sie hatte sich verschärft, als er ihnen ihr Castillo in Toledo weggenommen hatte. Und jetzt wollte der König ihm, Jehuda, die ganze Verantwortung für diese Feindschaft aufbürden. »Ich weiß«, erwiderte er, »die Barone de Castro legen dir’s zur Last, daß ein beschnittener Hund ihre Burg beschmutzt. Aber es ist dir sicher nicht unbekannt, Herr König, daß sie Beschimpfungen deiner Majestät schon seit Jahren ausstoßen.«

Don Alfonso schluckte und erwiderte nichts. »Nun ja«, sagte er achselzuckend. »Versuch es mit deinen Mätzchen und Mittelchen. Aber meine Granden sind harte Kämpfer, das wirst du sehen, und auch die Castros werden uns noch manches zu schaffen machen.«

»Es ist große Gnade, Herr König«, erwiderte Jehuda, »daß du meinen Plan billigst.« Er ließ sich auf ein Knie nieder und küßte dem König die Hand. Es war eine männliche, kräftige Hand, übersät mit winzigen roten Haaren, doch schlaff und danklos lagen die Finger in denen Don Jehudas.

Den Tag darauf fand sich Don Manrique de Lara, der Erste Minister des Königs, im Castillo Ibn Esra ein, um dem neuen Escrivano seine Aufwartung zu machen; begleitet war der Minister von seinem Sohn Garcerán, einem nahen Freunde Don Alfonsos.

Don Manrique, der vom Verlauf der gestrigen Audienz genau unterrichtet schien, meinte: »Ich war überrascht, daß du dem König Unserm Herrn den ungeheuern Betrag für den Loskauf der Gefangenen vorstrecken willst.« Und: »Ist es nicht ein wenig gefährlich«, warnte er scherzhaft, »wenn einem ein mächtiger König so viel Geld schuldet?«

Don Jehuda blieb wortkarg. Er hatte den Zorn über den Hochmut und das Mißtrauen des Königs nicht überwunden. Wohl hatte er gewußt, daß hier im barbarischen Norden nur der Krieger galt und daß man von den Männern, die für den Wohlstand des Landes sorgten, mit dummer Geringschätzung sprach; aber er hatte nicht geglaubt, daß man es ihm so schwer machen werde, sich einzufügen.

Don Manrique hatte ihn wohl erraten, und als wollte er des Königs Plumpheit entschuldigen, meinte er, man dürfe es dem jungen, streitbaren Monarchen nicht verübeln, wenn er Schwierigkeiten lieber mit dem Schwert zerhauen als durch Vertrag lösen wolle. Don Alfonso sei eben seit frühester Kindheit von einem Kriegslager ins andere gezogen und fühle sich im Felde mehr zu Haus als am Verhandlungstisch. Aber, unterbrach sich Don Manrique, er sei nicht gekommen, um über Geschäfte zu reden, sondern um den Kollegen hier in Toledo zu begrüßen, und er bat Don Jehuda, ihm und seinem Sohne das Haus zu zeigen, von dessen Wundern die ganze Stadt spreche.

Jehuda willfahrte gerne. Vorbei an stillen, tief sich neigenden Dienern gingen sie durch die teppichbelegten Räume, über Korridore und Treppen. Don Manrique lobte kennerhaft, Don Garcerán naiv und bewundernd.

Im Garten trafen sie Don Jehudas Kinder. »Dies ist Don Manrique de Lara«, stellte Jehuda vor, »der Erste Rat des Königs Unseres Herrn, und sein geehrter Sohn, der Ritter Don Garcerán.« Raquel musterte die Gäste mit kindlicher Neugier. Unverlegen nahm sie teil an der Unterhaltung. Doch ihr Latein erwies sich, wiewohl sie eifrig gelernt hatte, als noch lückenhaft, und lachend über ihre Fehler, bat sie die Herren, arabisch zu sprechen. Es wurde ein munteres Gespräch. Die beiden Gäste priesen Doña Raquels Witz und Anmut in den modischen Redewendungen, die arabisch doppelt umständlich klangen, Doña Raquel lachte, die Gäste lachten mit.

Der vierzehnjährige Alazar, nicht blöde, fragte Don Garcerán nach Pferden und ritterlichen Übungen. Der junge Herr konnte sich der frischen, lebendigen Art des Knaben nicht entziehen und gab beflissene Antworten. Don Manrique riet freundschaftlich, Jehuda möge den Knaben einem großen Hause als Pagen anvertrauen. Don Jehuda erwiderte, daran habe er selber schon gedacht; er verschwieg seine stille Hoffnung, daß der König den Knaben in Dienst nehmen werde.

Andere Granden, vor allem Freunde des Hauses de Lara, taten es Don Manrique nach und machten dem neuen Escrivano Mayor ihre Aufwartung.

Vor allem die jüngeren Herren kamen gerne. Sie suchten die Gesellschaft Doña Raquels. Die Töchter des Adels nämlich zeigten sich nur bei großen Festlichkeiten des Hofes und der Kirche, man sah sie nie allein, man konnte mit ihnen nur allgemein leere Konversation machen. Da war es eine angenehme Abwechslung, sich mit der Tochter des jüdischen Ministers zu unterhalten, die, von weniger Zeremoniell behütet, doch gewissermaßen eine Dame war. Sie sagten ihr langatmig übertriebene Galanterien, wie die Courtoisie es verlangte. Raquel hörte freundlich zu und fand das verliebte Gerede eher lächerlich. Manchmal aber ahnte sie, daß sich dahinter Derbheit und Gier verbargen; dann wurde sie scheu und zugesperrt.

Der Umgang mit den christlichen Rittern war ihr schon deshalb willkommen, weil sie im Gespräch mit ihnen die Landessprache übte, das formelle Latein des Hofes und der Gesellschaft und das niedrige Latein des Alltags, das Kastilische.

Auch waren ihr die Herren dienstwillige Führer, wenn sie auszog, die Stadt zu erkunden.

Da saß sie denn in der Sänfte, zur einen Seite ritt ein Don Garcerán de Lara oder ein Don Estéban Illán, zur andern Seite ihr Bruder Don Alazar. In einer zweiten Sänfte folgte die Amme Sa’ad. Läufer machten dem Zuge Platz, schwarze Diener beschlossen ihn. So ging es durch die Stadt Toledo.

Die Stadt hatte in den hundert Jahren, da sie sich in Händen der Christen befand, manches von der Größe und der Pracht ihrer islamischen Zeit eingebüßt; sie war nicht so groß wie Sevilla, aber noch immer wohnten in ihr und um sie weit über hunderttausend Menschen, wohl an die zweihunderttausend, und so war Toledo die größte Stadt des christlichen Spaniens, auch größer als Paris und sehr viel größer als London.

In dieser kriegerischen Zeit waren alle großen Städte Festungen, sogar das heitere Sevilla. In Toledo aber war jedes einzelne Stadtviertel nochmals von Mauern und Türmen umgeben, und viele der Häuser des Adels waren Festungen für sich. Befestigt waren alle Tore, befestigt die Kirchen und Brücken, die vom Fuß des finstern, gewaltigen Stadthügels über den Fluß Tajo ins Land führten. Innerhalb der Stadt aber drängte sich auf engstem Raume Haus an Haus, hügelan, hügelab, die Treppenwege waren dunkel und schmal, häufig sehr steil, sie schienen Doña Raquel verdächtige Schluchten, überall waren Ecken, Winkel, Mauern, und immer wieder schwere, riesige, eisenbeschlagene Tore.

Die großen, soliden Bauten stammten fast alle noch aus der Zeit der Moslems und waren nur notdürftig instand gehalten und wenig verändert. Doña Raquel war im stillen überzeugt, daß dies alles viel schöner gewesen war, als noch die Moslems es betreuten. Dafür hatte sie ihre Freude an dem bunten Menschengewimmel, welches vom frühen Morgen bis in die Dunkelheit die Stadt füllte, vor allem den Hauptplatz, den Zocodovér, den offenbar uralten Marktplatz. Menschen lärmten, Pferde wieherten, Esel schrien, alles drängte durcheinander, stieß und störte sich, immerzu gab es Stockungen, und die Straßen waren voll Unrat. Allein Raquel vermißte kaum die schöne Ordnung Sevillas, solche Freude hatte sie an dem heftigen Leben Toledos.

Es fiel ihr auf, wie scheu und zurückhaltend hier die islamischen Frauen waren. Alle gingen sie tief verschleiert. In Sevilla hatten die Frauen aus dem Volk bei der Arbeit und wenn sie zu Markte gingen, den behindernden Schleier abgelegt, und in den Häusern der aufgeklärten großen Herren trugen nur die verheirateten Damen Schleier, sehr dünne, kostbare, mehr Schmuck als Verhüllung. Hier aber, offenbar um sich den Blicken der Ungläubigen zu entziehen, trugen alle islamischen Frauen die Schleier lang und dicht und immer.

Die jungen Granden, stolz auf ihre Stadt, erzählten Raquel von der Geschichte Toledos. Gott hatte die Sonne am vierten Schöpfungstage, als er sie schuf, gerade über Toledo gestellt, so daß die Stadt älter war als die übrige Erde. Uralt war die Stadt, dafür gab es viele Beweise. Sie hatte Karthager herrschen sehen, dann sechshundert Jahre lang Römer, dreihundert Jahre gotische Christen, vierhundert Jahre Araber. Jetzt, seit hundert Jahren, seit dem glorreichen Kaiser Alfonso, herrschten hier von neuem die Christen, und nun werden sie hier bleiben bis zum Jüngsten Gericht.

Ihre beste und größte Zeit, erzählten die jungen Granden, hatte die Stadt gesehen unter den christlichen, westgotischen Herren, deren Abkömmlinge sie, die Ritter, waren. Damals war Toledo die reichste, herrlichste Stadt der Welt gewesen. Der König Athanagild hatte seiner Tochter Brunhild zur Ausstattung Schätze mitgegeben im Werte von dreitausend mal tausend Goldmaravedí. Der König Reccared besaß den Tisch des Judenkönigs Salomo, er bestand aus einem einzigen riesigen Smaragd und war mit Gold umrahmt; auch besaß König Reccared einen Wunderspiegel, in welchem man die ganze Welt erblickte. Das alles hatten die Moslems geraubt und zerstört und verschleudert, die Ungläubigen, die Hunde, die Barbaren.

Besonders stolz waren die jungen Herren auf ihre Kirchen. Neugierig, befangen betrachtete Raquel die wuchtigen Bauwerke; sie schauten aus wie Festungen. Raquel stellte sich vor, wie edel sie gewesen sein mochten, da sie noch Moscheen waren, umgeben von Bäumen, Springbrunnen, Säulengängen, Lehrhäusern. Nun war alles kahl und finster.

Im Vorhof der Kirche der heiligen Leocadia fand sie einen Brunnen mit einer besonders schönen Einfassung, die eine arabische Inschrift trug. Stolz darauf, daß sie die altertümlichen kufischen Schriftzeichen lesen konnte, mit dem Finger den eingegrabenen, schon halb verwischten Lettern folgend, entzifferte sie: »Im Namen des Allbarmherzigen Gottes. Der Kalif Abd er Rahmân, der Siegreiche – Gott möge seine Tage verlängern – hat diesen Brunnen errichten lassen in der Moschee der Stadt Toleitola – Gott möge sie beschützen – in der siebzehnten Woche des Jahres 323.« Das war also jetzt vor zweihundertfünfzig Jahren. »Das ist lange her«, sagte Don Estéban Illán, der sie begleitete, und grinste.

Mehrmals erboten sich die jungen Herren, ihr das Innere einer Kirche zu zeigen. In Sevilla war viel die Rede von diesen »Kirchen«, Stätten des Greuels und Götzendienstes, in welche die Barbaren des Nordens die schönen alten Moscheen verwandelt hatten. Es verlangte Raquel sehr, eines dieser Häuser zu sehen, doch gleichzeitig verspürte sie Scheu und lehnte höflich unter einem Vorwand ab. Endlich überwand sie ihr Unbehagen und betrat, geführt von Don Garcerán und Don Estéban, die Kirche San Martín.

Kerzen waren in dem dämmerigen Innern. Duft von Weihrauch war. Und da war das, was zu sehen sie gewünscht und gefürchtet hatte: Bilder, Götzenbilder, das Urverbotene. Denn wenn der westliche Islam das eine oder andere Verbot des Propheten frei ausdeutete, wenn er’s zuließ, daß man Wein trank und daß die Frauen ihr Antlitz ohne Schleier zeigten: unverrückbar fest hielt er an der Vorschrift des Propheten, daß man sich kein Bild Allahs machen dürfe und kein Bild von irgend etwas Lebendigem, Mensch oder Tier; kaum die Form einer Pflanze oder einer Frucht durfte man andeuten. Hier aber standen Menschen herum, geformt aus Stein und aus Holz, und andere Menschen und Tiere waren flach und farbig auf Holzgetäfel gemalt. Das also waren die Götzenbilder, die Greuel Allahs und des Propheten.

Wer immer von Gott mit Vernunft, Gefühl, Gesittung begnadet war, sei er Jude oder Moslem, mußte Abscheu spüren vor solchen Gebilden. Sie waren auch tief widerwärtig, seltsam starr und dennoch lebendig, sonderbar unwirklich, halb tot, leichenhaft wie Fische auf Märkten. Sie wagten es, die Barbaren, es Allah gleichtun zu wollen, sie schufen Menschen nach seinem Bilde und beugten, die Narren, vor diesen steinernen und hölzernen Dingen, die sie selber gemacht hatten, die Knie und gaben ihnen Weihrauch zu riechen. Aber am Tage des Jüngsten Gerichts wird Allah diejenigen, die solche Dinge gemacht haben, auffordern, ihnen Leben einzublasen, und wenn sie’s nicht können, dann wird er sie in die Verdammnis stürzen für ewig.

Trotzdem spürte sich Raquel merkwürdig angezogen. Es berauschte sie, daß man das konnte: einen Menschen festhalten, das vergängliche Fleisch, die flüchtige Miene, die Gebärde, die verschwand, kaum daß sie da war. Daß sterbliche Menschen das vermochten, erfüllte sie mit Stolz und gleichzeitig mit Grauen.

Die Herren, die sie führten, erklärten ihr ehrfürchtig und beflissen die Götzenbilder. Da war ein Mann aus Holz mit einem Mantel und mit einer Gans. Das war der heilige Martín, dem die Kirche geweiht war. Er war Offizier gewesen und ins Feld gegangen, bewaffnet nur mit einem Kreuz, um der ganzen feindlichen Armee standzuhalten. Einmal, da es sehr kalt war, gab er den eigenen Mantel einem Armen, worauf ihm der Himmel einen andern Mantel überwarf. Wieder einmal, als der Kaiser nicht vor ihm aufstand, entzündete sich sein Thron, und das Feuer zwang ihn, dem Heiligen Ehrfurcht zu erweisen. Das alles konnte man sehen, es war auf Holztafeln gemalt. Doña Raquel wirbelte der Kopf, der Mann mußte ein Derwisch gewesen sein.

Auf einem anderen Bilde sah man ein moslemisches Mädchen mit einem Korb voll Rosen, und vor ihr stand verblüfft ein Araber fürstlichen Ansehens und Gewandes. Mit leiser Anzüglichkeit erzählte Don Garcerán, das seien die Prinzessin Casilda und ihr Vater, der König Al-Menon von Toledo. Casilda, von ihrer Aja heimlich im christlichen Glauben erzogen, versorgte unter vielen Gefahren die christlichen Gefangenen, die in den Verliesen des Königs hungerten. Der König wurde von einem Angeber unterrichtet und überraschte sie. Streng fragte er, was sie da im Korb habe. Es war Brot; sie aber antwortete: »Rosen.« Zornig hob er den Deckel: siehe, das Brot hatte sich in Rosen verwandelt. Das begriff Raquel. Ähnliches stand auch in ihren arabischen Geschichten. »Ah«, sagte sie, »sie war eine Zauberin.« Don Garcerán wies sie strenge zurecht: »Sie war eine Heilige.«

Don Estéban Illán vertraute ihr an, in den Knauf seines Degens sei ein Knöchelchen des heiligen Ildefonso eingeschmiedet, und diese Reliquie habe ihm zweimal in der Schlacht das Leben gerettet. Wieviel Zauberer diese Christen haben, dachte Doña Raquel, und sie erzählte munter, ein sehr gutes Schutzmittel sei es auch, sich am Tage der Schlacht von einem Mekka-Pilger, am besten einem Derwisch, in den Frühtrank spucken zu lassen. »Viele unserer Krieger tun das«, erklärte sie.

In all dem Neuen, das Raquel in Toledo sah, hörte und erlebte, versank ihr überraschend schnell die islamische Vergangenheit. Schon fiel es ihr schwer, sich die Züge ihrer Freundin Layla genau zurückzurufen oder die gelle, aufrüttelnde Stimme, mit welcher der Muezzin von der Azhar-Moschee zum Gebete rief. Aber sie trachtete, nicht zu vergessen, sie las weiter arabisch und übte sich in der zierlichen, schwierigen arabischen Kalligraphie. Auch hielt sie, obgleich sie sich als Jüdin fühlte, die moslemischen Bräuche weiter, nahm die vorgeschriebenen Waschungen vor und sprach die Gebete. Der Vater ließ es geschehen.

Die ständige Gesellschaft der Amme Sa’ad erleichterte es ihr, das Vergangene festzuhalten. Des Abends, wenn ihr die Amme beim Auskleiden half, schwatzten sie über das, was sie gesehen hatten, und verglichen es mit dem Leben in Sevilla. »Laß dich nicht zu weit mit den Ungläubigen ein, Rechja, mein Lämmchen«, mahnte da wohl die Amme. »Sie werden alle in der Hölle brennen, weil sie schamlos sind, und sie wissen es, und darum sind sie um so hochmütiger auf dieser Erde. Ihre Sultanin ist eine besonders Hochmütige. Sie lebt, diese Ungläubige, die meiste Zeit fern vom Harem ihres Gemahls, des Sultans Alfonso, in einer nördlichen Stadt, von der sie erzählen, sie ist so kalt und stolz wie sie selber.«

Hochmütig waren sie wohl, die Ungläubigen, damit hatte die Amme recht. Doña Raquel hatte den König noch nie zu Gesicht bekommen. Und sogar der Vater, der doch einer seiner Räte war, schien ihn nur selten zu sehen.

Von seinem Intendanten und Sekretär Ibn Omar, der einen guten Informationsdienst eingerichtet hatte, erfuhr Don Jehuda, wie heftig die großen Herren des Reiches ihn anfeindeten. Sie hatten, seitdem der kluge Ibn Schoschan tot war, ihre Privilegien vermehrt, nach der Niederlage des Königs hatten sie sich weitere Sonderrechte angeeignet. Sie waren empört, daß nun ein neuer Hebräer kam, noch schlauer und habgieriger als der frühere, ihnen alles wieder wegzunehmen. Sie schimpften, zettelten, intrigierten. Jehuda hörte den Bericht unbewegten Gesichtes. Er wies seinen Ibn Omar an, er solle verbreiten, der neue Escrivano verteidige das unterdrückte Volk gegen die räuberischen Barone und suche den Wohlstand der Bürger und Bauern zu fördern.

Führer des Widerstandes gegen Don Jehuda war der Erzbischof von Toledo, der kriegerische Don Martín de Cardona, ein naher Freund des Königs. Seitdem die Christen das Land wieder erobert hatten, führte die Kirche einen erbitterten Kampf gegen die jüdischen Gemeinden. Die Juden entrichteten nicht, wie die übrige Bevölkerung, ihren Zehnten der Kirche, sie führten ihre Steuern unmittelbar an den König ab. Kein päpstliches Edikt, kein Beschluß des Kardinalkollegiums hatte daran etwas geändert. Erzbischof Don Martín war ergrimmt, daß die Bestallung des schlauen Ibn Esra die Juden noch verstockter machte in ihrem frevelhaften Bestreben, sich der Kirche zu entziehen. Er arbeitete mit allen Mitteln gegen den neuen Escrivano.

Um so seltsamer war es, daß sich, und zwar offenbar in freundlicher Absicht, schon bald nach Don Jehudas Ankunft der Sekretär des Erzbischofs, der Domherr Don Rodrigue, im Castillo Ibn Esra einstellte, der Beichtvater des Königs.

Der stille, höfliche Herr hatte hohes Interesse an Büchern. Er sprach, las und schrieb lateinisch und arabisch, er las auch hebräisch. Er verstand sich gut mit Jehuda, noch besser mit Jehudas weisem Freunde Musa Ibn Da’ud.

Musas Räume waren behaglich eingerichtet. Der alte Herr hatte zweimal in Not und Verbannung gehen müssen und hatte bewiesen, daß er Elend ohne Klagen ertragen konnte. Gerade darum liebte er Bequemlichkeit. Nicht ohne einen kleinen, gemütlichen Stolz zeigte er dem Domherrn die vielen Röhren der sorgfältigen Heizeinrichtung und den Filzbelag der Mauern, der durch ein ausgeklügeltes System berieselt werden konnte und angenehme Kühlung für heiße Tage verbürgte. Die zahlreichen Bücher Musas waren handlich untergebracht, sein großes, geliebtes Schreibpult stand wohlbelichtet. Und eine schöne Rundhalle, geeignet für ruhige Betrachtung, öffnete sich in den Garten.

Der wißbegierige Domherr konnte sich an Jehudas und Musas Bibliothek nicht satt sehen. Er bewunderte die Vielfalt der Bücher, die sich über alle Wissensgebiete verbreiteten, ihre zierliche Kalligraphie, ihre Initialen und bunten Randleisten, die schön gearbeiteten und geschmückten Hülsen der Buchrollen und die eleganten und gleichwohl festen Einbände der gebundenen Bücher. Vor allem aber bestaunte er den Stoff, auf den die meisten dieser Bücher geschrieben waren, es war jener Stoff, den die Christenheit kaum kannte: Papier.

Ach, sie, die Gelehrten der christlichen Reiche, mußten auf Pergament schreiben, auf Tierhaut, und nicht nur war die Mühe des Schreibens viel größer, es war auch das Material kostbar und spärlich. Oft mußten die Schreiber schon beschriebenes Pergament hernehmen, sie mußten, was die Früheren mit viel Mühe geschrieben hatten, mit viel Mühe wieder auslöschen und auskratzen, um ihre eigenen Gedanken auf dem alten Stoff niederzulegen, und wer mochte wissen, ob da nicht ein wohlmeinender Schreiber von heute edelste Weisheit eines Früheren austilgte, um seine eigenen, vielleicht sehr einfältigen Gedanken den Späteren aufzubewahren.

Don Jehuda erklärte dem Domherrn, wie dieses Papier hergestellt wurde. Mühlen bereiteten aus einem weißlichen Pflanzenstoff, Kattun genannt, einen Brei, es wurde geschöpft und getrocknet, das Ganze war keineswegs teuer. Das beste Papier wurde in Játiva hergestellt, es war sehr grobkörnig, Jatvi wurde es genannt. Don Rodrigue wog ein auf solches Jatvi geschriebenes Buch in zärtlichen Händen, kindlich staunend, wie wenig Raum und Gewicht so viel Geistiges beanspruchte. Jehuda erzählte, er habe Vorbereitungen getroffen, auch hier in Toledo Papierfabriken zu errichten, es gebe genügend Wasser, der Boden eigne sich für die notwendigen Pflanzen. Don Rodrigue war entzückt. Jehuda versprach, er werde ihm jetzt schon Papier beschaffen.

Später saßen Don Rodrigue und der alte Musa allein in der kleinen, offenen Rundhalle und pflogen langsames Gespräch. Don Rodrigue erzählte, man habe auch in den Ländern der Christen von Musas wissenschaftlicher Leistung gehört, vor allem von dem großen historischen Werk, an dem er schreibe, und auch von den Verfolgungen, die er habe leiden müssen. Musa dankte mit höflicher Neigung des Kopfes. Er saß, der lange Herr, bequem in seinen Kissen, etwas vornübergeneigt, die großen, milden Augen schauten still und wissend. Er sprach nicht viel, doch kam das meiste aus weiter Kenntnis, reicher Erfahrung, tiefer Überlegung. Es klang neu und anregend, freilich zuweilen etwas verfänglich.

Vieles schien verfänglich in diesem Castillo Ibn Esra. Da waren etwa unter den Inschriften, die von den Wandfriesen leuchteten, einige hebräische. Sie waren nicht leicht zu entziffern im Gestrüpp der vielen Schnörkel und Ornamente, die sie umgaben. Aber der Domherr, stolz auf sein Hebräisch, erkannte, daß sie der Heiligen Schrift entnommen waren, dem Buche Kohelet, dem Prediger Salomo. Ja, bestätigte Musa, es war so, und er nahm einen Stab, zeigte dem Domherrn, wie die Sätze inmitten der wirren Arabesken liefen, sich verloren, sich wieder fanden, zeigte und las und übertrug ins Lateinische. Es lauteten aber die Sätze: »Das Schicksal der Menschenkinder und das Schicksal des Viehes ist das gleiche. Wie dieses stirbt, so sterben jene, ihre Seele ist die gleiche, nicht besser ist der Mensch als das Vieh, und es ist alles eitel. Alles endet am gleichen Ort, alles ist aus Staub, und alles kehrt zurück zum Staub. Wer weiß, ob die Seele der Menschenkinder hinaufgeht und die Seele des Viehes hinunter unter die Erde?« Don Rodrigue verfolgte mit den Augen die hebräischen Zeichen an der Wand und sah und hörte, daß Musa getreu übersetzte. Aber klangen die Worte, wie er sie aus der Übersetzung des heiligen Hieronymus im Gedächtnis hatte, nicht anders? Nahm nicht im Munde dieses weisen und gütigen Musa selbst das Wort Gottes einen leisen Schwefelgeruch an?

Mochte dem sein wie immer, der Mann, der die Bibliothek des Castillo Ibn Esra betreute, zog den Domherrn beinahe noch mehr an als die herrliche Bibliothek selber. Er schien ihm, dieser Musa, wie er ruhig in seinen Polstern saß, zeitlos wie die Weisheit. Bald schien er ihm kaum älter als er selber, der fünfzig war, bald uralt. Der Glanz der stillen, etwas spöttischen Augen bezauberte ihn und machte ihn befangen, und trotzdem war ihm, als könne er mit diesem Manne freieren Gemütes reden als mit den meisten schlicht-gläubigen Christen.

Er erzählte ihm von der Akademie, deren Leiter er war. Gewiß könne sich dieses sein bescheidenes Institut nicht vergleichen mit ähnlichen der Moslems, aber es werde immerhin von hier aus Weisheit der Araber sowohl wie der heidnischen Alten dem Abendlande vermittelt. »Glaube ja nicht, o weiser Musa«, erklärte er eifrig, »daß ich engherzig sei. Ich habe sogar den Koran ins Lateinische übersetzen lassen. Auch arbeiten an meiner Akademie manche Ungläubige, Juden wie Moslems. Wenn du es erlaubst, dann bringe ich dir einmal den einen oder andern meiner Schüler, daß er der Ehre eines Gespräches mit dir teilhaftig werde.«

»Tu das, hochwürdiger Don Rodrigue«, antwortete freundlich Musa. »Bring mir welche von deinen Schülern. Aber mahne sie zur Vorsicht. Und sei selber vorsichtig!« Und er wies auf einen Satz an der Wand, verwirrenderweise war es wieder ein Satz aus der Heiligen Schrift, dieses Mal aus dem Fünften Buche Mose: »Verflucht sei, wer einen Blinden irreführt.«

Als sich Don Rodrigue endlich von dem Hausherrn verabschiedete, viel später, als er beabsichtigt hatte – er war wirklich ungebührlich lange geblieben –, sagte er scherzend: »Ich sollte dir böse sein, Don Jehuda. Um ein Haar hast du mich verleitet, das Zehnte Gebot zu übertreten. Zwar gelüstet es mich nicht nach deinem Hause, noch nach deinen Maultieren, noch nach deinen Knechten und Mägden. Wohl aber, fürchte ich, gelüstet es mich nach deinen Büchern.«

Der Gemeindevorsteher Don Ephraim suchte Jehuda auf, um mit ihm von Angelegenheiten der Aljama zu sprechen. »Wie zu erwarten war«, hub er an, »hat dein Ruhm und Glanz der Gemeinde viel Segen gebracht, aber auch neue Bedrängnis. Der Neid auf deine Größe hat den Haß des Erzbischofs, dieses Frevlers und Esau, geschürt. Don Martín zieht sein verstaubtes Pergament hervor, jene Verordnung des Kardinalskollegiums von vor sechs Jahren, daß nicht nur die Söhne Edoms, sondern auch die Nachkommen Abrahams den Zehnten an die Kirche zu entrichten hätten. Damals hatte der edle Alfakim Ibn Schoschan – das Andenken des Gerechten zum Segen – den Ansturm der Beglatzten abgewehrt. Nun aber glaubt der Frevler seine Zeit gekommen. Sein Schreiben an die Aljama ist voll von Drohungen.«

Don Jehuda wußte, daß es bei der Forderung des Zehnten um sehr viel mehr ging als um das Geld. Siegte die Kirche, dann war das Grundprivileg der Juden gefährdet, dann unterstanden sie nicht mehr unmittelbar dem König, dann hatte sich der Erzbischof dazwischengeschoben. Auch mußte Don Jehuda in seinem Innern zugeben, daß die Besorgnis Don Ephraims, diesmal könnte der Erzbischof sein Ziel erreichen, nicht unbegründet war. Don Martín war ein naher Freund des Königs; sicher lag er ihm in den Ohren, er möge die Sünde der Erhöhung des Juden Ibn Esra dadurch gutmachen, daß er endlich die Judenheit zur Entrichtung des Kirchenzehnten zwinge.

Allein Jehuda äußerte Zuversicht. »Es wird dem Frevler diesmal so wenig gelingen wie früher«, sagte er. Und fuhr fort: »Ist nicht im übrigen alles, was Steuern anlangt, mein Bereich? Erlaube, daß ich das Schreiben des Erzbischofs beantworte.«

Das war nun durchaus nicht nach Don Ephraims Sinn; er wollte keines seiner Geschäfte diesem Jehuda überlassen. »Es sei ferne von mir«, lehnte er höflich ab, »dir noch weitere Bürden aufzuhalsen, mein Herr und Lehrer Jehuda. Ein anderes aber möchte ich dir bescheidentlich im Namen der Aljama nahelegen. Die Pracht deines Hauses, die Fülle des Gutes, mit welchem der Herr dich gesegnet hat, die Glorie, die er dir durch die Gnade des Königs zugewandt hat, ist allen Neidern Israels ein Dorn im Auge und ein währender Stachel im schwarzen Herzen des Erzbischofs. Ich habe deshalb der Aljama neu eingeschärft, sich unauffällig zu halten und die Bösewichter nicht durch Glanz zu reizen. Wolle auch du sie nicht reizen, Don Jehuda.« – »Ich verstehe deine Sorge, mein Herr und Lehrer Don Ephraim«, antwortete Jehuda, »aber ich teile sie nicht. Nach meinen Erfahrungen schreckt der Anblick der Macht ab. Zeigte ich Schwäche oder Kargheit, so würde der Erzbischof nur kühner gegen mich und gegen euch.«

Am folgenden Sabbat ging Don Jehuda in die Synagoge.

Er war erstaunt, wie kahl und nüchtern das Innere selbst dieses ersten Heiligtums der spanischen Judenheit herschaute; Don Ephraim duldete auch hier keinen Prunk. Öffnete sich freilich der Thora-Schrein, die Bundeslade, der Aron Hakodesch, dann leuchteten und glänzten daraus hervor die heiligen Geräte, mit welchen die Rollen der Schrift geschmückt waren, die kostbar bestickten Mäntel, die goldenen, von Geschmeide glitzernden Platten und Kronen.

Don Jehuda wurde aufgerufen, den Wochenabschnitt aus der Schrift zu lesen. Erzählt war da, wie Bileam, ein heidnischer Prophet, auszog, dem Volke Israel zu fluchen, allein Gott zwang ihn, sein Volk zu segnen, und es verkündete der heidnische Prophet: »Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel, wie Täler, die sich breiten, wie Gärten mit vielen Wassern, wie Aloebäume, von Jahve gepflanzt, wie Zedern am Ufer des Flusses. Du frißt die Völker, die Heiden, deine Feinde, du zermalmst die Gebeine deiner Verfolger.«

Jehuda las die Verse in dem vorgeschriebenen uralten Singsang, er las nicht ohne Mühe, sein Akzent mochte dem oder jenem fremdartig klingen, ja, ein wenig lächerlich. Aber keinen lächerte es. Vielmehr hörten sie, die jüdischen Männer und Frauen von Toledo, voll Verehrung zu, und die Ergriffenheit Don Jehudas erhob auch sie. Dieser Mann, den das Schicksal in früher Jugend zum Meschummad gemacht hatte, war freiwillig, war demütig in den Bund Abrahams zurückgekehrt und wird, dieser Mächtige, mithelfen, daß die Segnungen, von denen er las, sich auch an ihnen erfüllten.

Nun sich Raquel offen zu ihrem Judentum bekennen durfte, fiel es ihr schwerer, sich als Jüdin zu fühlen, denn vorher. Sie las oft in dem Großen Buch, sie träumte stundenlang versunken und leidenschaftlich von den Geschichten, die darin standen, von den Taten der Väter und Könige und Propheten. Das Gewaltige, Erhabene, Tieffromme, das da berichtet wurde, und auch das Schwache, Kleine, Tiefböse, das nicht unterschlagen war, alles wurde ihr leibhaft, und sie war stolz und glücklich, von solchen Ureltern abzustammen.

Allein mit den Juden, die sie hier in Toledo lebendig umgaben, fühlte sie wenig Verbundenheit, wiewohl sie doch festen, ehrlichen Willens war, zu ihnen zu gehören.

Oft, um ihr Volk besser kennenzulernen, ging sie in die Judenstadt, die Judería.

Auf diesen Gängen ließ sie sich von Don Benjamín Bar Abba begleiten, einem jungen Verwandten des Gemeindevorstands. Der Domherr Rodrigue hatte Benjamín im Castillo Ibn Esra eingeführt; er war einer seiner Gelehrtenschüler, ein Übersetzer aus seiner Akademie.

Don Benjamín war mit all seinem geschärften Verstand und seinem gründlichen Wissen kaum dreiundzwanzig Jahre alt, er hatte etwas Knabenhaftes, Schalkhaftes, Spitzbübisches, das Raquel anzog. Bald war zwischen ihnen gute Kameradschaft. Sie lachten gerne über Dinge, deren Spaßhaftigkeit ein anderer kaum verstanden hätte, und es gab mancherlei, worum Doña Raquel den Vater nicht und nicht einmal Onkel Musa befragte, wohl aber ihren Freund Benjamín.

Er seinesteils erzählte ihr unbefangen von seinen eigensten Dingen. Etwa, daß ihm sein Verwandter, Don Ephraim, der Párnas, nicht gefalle; er sei ihm zu listig, und wenn er selber nicht so arm wäre, hielte er’s in Don Ephraims Hause nicht aus. Doña Raquel hatte noch nie einen Freund gehabt, der arm war. Sie musterte ihn erstaunt und neugierig.

Benjamín übte die jüdischen Bräuche, doch nur, um Don Ephraim nicht zu mißfallen, er legte kein Gewicht auf sie. Wohl aber bewunderte er arabische Weisheit, und er sprach gerne von den großen alten, verschollenen Völkern, besonders von den Griechen, Joniern, wie er sie nannte; einen dieser Jonier, einen gewissen Aristoteles, stellte er Unserm Lehrer Mose geradezu gleich. Bei alledem war er stolz darauf, zu den Juden zu gehören; denn sie waren das Volk des Buches und hatten das Buch treu durch die Jahrtausende bewahrt.

Dieser Benjamín war Raquels Führer in der Judería. Mehr als zwanzigtausend Juden lebten in Toledo, und nochmals fünftausend außerhalb der Mauern, und wiewohl durch kein Gesetz gezwungen, wohnten die meisten in ihrem eigenen Stadtviertel, das wiederum durch Mauern und befestigte Tore beschützt war.

Die Juden saßen, erzählte Benjamín, seit urdenklichen Zeiten in Toledo; ja, die Stadt leitete ihren Namen her von dem hebräischen Worte Toledot, Geschlechterfolge. Die ersten waren hierhergekommen als Abgesandte des Königs Salomo, um von den Barbaren Tribut zu erheben. Die meiste Zeit ging es ihnen gut. Aber unter den christlichen Westgoten hatten sie wüste Verfolgungen zu erleiden. Am grimmigsten verfolgte sie einer ihres eigenen Stammes, ein gewisser Julian, der zu den Christen überlief und von diesen zum Erzbischof gemacht wurde. Immer schärfere Vorschriften erließ er gegen seine früheren Brüder, und zuletzt erwirkte er ein Gesetz, dem zufolge, wer nicht zum Christentum übertrat, in die Sklaverei verkauft werden sollte. Da riefen denn die Juden die Araber übers Meer und halfen ihnen, das Land zu erobern. Die Araber legten jüdische Garnisonen in die Städte und gaben ihnen jüdische Kommandanten. »Stell dir vor, Doña Raquel«, forderte Benjamín sie auf, »wie das gewesen sein muß, als die Unterdrückten plötzlich die Herren wurden und die früheren Unterdrücker die Sklaven.«

Begeistert erzählte Benjamín von den Büchern der Dichtung und Weisheit, welche in den folgenden Jahrhunderten unter der Herrschaft der Moslems die sephardischen Juden geschaffen hatten. Aus dem Gedächtnis sprach er ihr vor glühende Verse des Salomo Ibn Gabirol und des Jehuda Halevi. Er erzählte ihr von den mathematischen, astronomischen, philosophischen Werken des Abraham Bar Chija. »Was immer in diesem Lande Sepharad groß ist, sei es im Geiste oder sei es im Stein«, sagte er überzeugt, »daran haben Juden mitgebaut.«

Einmal sprach ihm Raquel von der Verwirrung, in welche der Anblick der Götzenbilder in der Kirche San Martín sie gestürzt hatte. Er hörte zu. Stand unschlüssig. Dann, verschmitzt, zog er ein kleines Buch heraus und zeigte es ihr, geheimnisvoll. Es waren aber in diesem Buch, er nannte es sein Merkbuch, Zeichnungen, Abbildungen von Menschen. Manchmal waren sie bösartig spaßhaft, zuweilen verwandelten sich die Gesichter der Menschen geradezu in Tiergesichter. Doña Raquel war erstaunt, angeschauert, amüsiert. Welch unerhörter Frevel! Dieser Don Benjamín machte nicht nur Abbilder allgemeiner Art, wie es jene Götzenbilder in den Kirchen waren, er formte deutliche, erkennbare Menschen. Ja, er wollte es Gott gleichtun, er änderte sie nach seinem frechen Willen, verzerrte ihre Seele. Öffnete sich die Erde nicht, den Frevler zu verschlingen? Und sie selber, Raquel, nahm sie nicht teil an dem Frevel, indem sie diese Zeichnungen beschaute? Aber sie konnte sich nicht helfen, sie schaute weiter. Da war das Abbild eines Tieres, eines Fuchses, wie es schien, aber es war gar kein Fuchs, aus dem listigen Gesicht schauten die frommen Augen Don Ephraims. Und Raquel inmitten all ihres Grauens und ihrer Zweifel mußte lachen.

Am engsten verknüpft fühlte sie sich mit Benjamín, wenn dieser ihr Geschichten erzählte, merkwürdige Begebenheiten, die großen jüdischen Männern Toledos zugestoßen waren.

Da war die Geschichte des Rabbi Chanan Ben Rabua. Der hatte eine wunderbare Wasseruhr konstruiert. Sie bestand aus zwei Brunnen, zwei Zisternen, die mit solcher Kunst und Berechnung angelegt waren, daß sich die eine bei zunehmendem Monde langsam mit Wasser füllte und die andere leerte, mit abnehmendem Monde aber umgekehrt, so also, daß man ihnen den Tag des Monats, ja, die Stunde des Tages ablesen konnte. Neidische Nebenbuhler bezichtigten Rabbi Chanan der Zauberei. »Wissen macht immer verdächtig«, erläuterte altklug Don Benjamín – und der Alkalde zog Rabbi Chanan gefänglich ein. Da indes leerten sich und füllten sich die Zisternen nicht mehr, wie sie sollten. Man nahm an, der Rabbi habe, bevor man ihn gefangensetzte, die kunstreiche Wasseruhr, an der er dreimal sieben Jahre gearbeitet hatte, beschädigt, und man wollte ihn zwingen, sie zu reparieren. Er aber verdarb sie vollends. Da verbrannten sie ihn. »Der Turm, in dem er lag«, schloß Don Benjamín, »steht noch heute. Auch jene Zisternen kannst du noch sehen, in der Huerta del Rey, bei dem verfallenen Lustschloß La Galiana.«

Des Abends erzählte Raquel der Amme Sa’ad von dem armen, kunstreichen, gelehrten Rabbi Chanan, den die bösen Menschen gefoltert hatten um seiner Kunst und Wissenschaft willen. Sie erzählte anschaulich von der Wasseruhr und dem Gefängnis und von dem Feuertod des Rabbis. Die Amme Sa’ad aber sagte: »Es sind böse Menschen hier in Toledo. Ich wollte, Rechja, mein Lämmchen, wir gingen zurück in die Stadt Sevilla, möge Allah sie behüten.«