6. Kapitel

Als ich in den Explorer steige, wird die Küchengardine beiseitegeschoben. Irene steht am Fenster, mit schlichtem Kleid und Kapp im überhitzten Raum, und ich muss an meine Neffen denken und bin plötzlich deprimiert. Irene winkt, doch ich fahre ohne Abschiedsgruß davon. Ich möchte zwar zurückwinken, kann es aber nicht.

Erst als ich viel zu schnell die unbefestigte Straße entlangbrettere, bekomme ich wieder Luft. Und mir wird das ganze Ausmaß meines Dilemmas bewusst. Ich habe Angst vor meinen Geheimnissen und dem Balanceakt, der nötig sein wird, um sie zu hüten. Ich habe Angst davor, was mein Bruder und ich heute Abend in dem Getreidespeicher finden werden oder auch nicht. Grauen erfasst mich bei der Vorstellung, dass der Mörder wieder zuschlägt, weil ich ihn nicht gefasst habe.

Auf dem Weg zu Connie Spencers Wohnung rufe ich T. J. an. Er antwortet mit einem knappen: »Ja?«

»Ich bin’s.« Offensichtlich habe ich ihn geweckt. »Haben Sie geschlafen?«

»Ein bisschen. Was gibt’s?«

»Doc Coblentz meint, der Mörder hat ein Kondom mit Gleitbeschichtung benutzt. Klappern Sie alle Lebensmittelläden, Drogerien und auch die Tankstelle am Highway 82 ab und befragen Sie die Angestellten, ob jemand solche Kondome gekauft hat.«

»Warum krieg ich immer die schönen Aufgaben?« T. J. klingt wenig erfreut.

Ich ertappe mich beim Lächeln, was mich überrascht und zugleich daran erinnert, dass ich Polizistin bin und kein hilfloses vierzehnjähriges Mädchen. »Finden Sie raus, ob mit Kreditkarte bezahlt wurde.« In und um Painters Mill gibt es zwei Lebensmittelläden, zwei Drogerien und eine Tankstelle. »Ich glaube, die Tankstelle hat eine Überwachungskamera. Wenn in der letzten Woche Kondome verkauft wurden, lassen Sie sich eine Kopie des Videos geben.«

»Ich kümmere mich drum, Chief.«

»Wir sehen uns auf dem Revier«, erwidere ich und lege auf.

· · ·

Connie Spencers Wohnung liegt in der Main Street über einem Möbelgeschäft. Auf dem Weg in den ersten Stock knarren die uralten Stufen unter meinen Stiefeln. Ich klopfe, doch niemand antwortet, und während ich in dem feuchtkalten Flur stehe und den Geruch von altem Holz und abgestandener Luft einatme, wird mir klar, dass sie wahrscheinlich auf der Arbeit ist.

Zurück im Explorer, rufe ich Glock an. »Gab’s irgendwas in der Bar?«

»Amanda Horners Mustang steht auf dem Parkplatz.«

Mein Herz schlägt schneller. »Haben Sie reingesehen?«

»Ja, aber da war nichts.«

»Mist.« Frustriert schlage ich mit den Handballen aufs Lenkrad. »Lassen Sie den Wagen von der Spurensicherung auf den Kopf stellen, vielleicht finden die ja doch etwas.«

»Okay.«

»Haben Sie mit dem Barkeeper gesprochen?«

»Er erinnert sich, ihr mehrere Cosmopolitans gemixt zu haben.«

»Weiß er noch, ob jemand bei ihr war?«

»Dafür war zu viel los, meinte er.« Glock stößt einen Seufzer aus. »Und was ist mit der Freundin?«

»Ich stehe vor ihrem Haus, aber sie ist nicht da.«

»Versuchen Sie es im LaDonna’s Diner. Als ich das letzte Mal da war, hat sie meine Bratkartoffeln verbrannt.«

Auf der Fahrt zum Diner rufe ich auf dem Revier an. Lois, die morgens in der Telefonzentrale arbeitet, hebt nach dem zweiten Klingeln ab und bittet mich zu warten, bevor ich etwas sagen kann. Als sie schließlich wieder drankommt, koche ich vor Wut.

»Tut mir leid, Chief, aber das Telefon läutet nonstop.« Sie klingt geschafft. Nichts lässt die Leitungen so heißlaufen wie ein Mord. »Irgendwelche Nachrichten für mich?«

»Viele rufen wegen des Mordes an.«

Mir fällt ein, dass ich am Nachmittag eine Stellungnahme aufsetzen wollte. Die Zeit läuft mir weg, ich würde am liebsten die Uhr anhalten. »Sagen Sie allen, die nachfragen, dass ich noch heute eine Stellungnahme abgebe.«

»Norm Johnston hat schon dreimal angerufen. Er klingt stinksauer.«

»Sagen Sie ihm, ich melde mich später. Im Moment habe ich zu tun.«

»Mach ich.« Ich lege auf, weiß, dass ich Norm nicht mehr lange hinhalten kann.

Als ich vor LaDonna’s parke, ist es laut Armaturenbrett fünfzehn Uhr, also schon lange nach der Mittagessenszeit. Aber hier, im Zentrum der Painters-Mill-Gerüchteküche, ist es immer noch rappelvoll.

Gleich in der Tür schlägt mir der Geruch von altem Fett und verbranntem Toast entgegen. Lautes Stimmengewirr wird von klapperndem Geschirr untermalt, und aus dem Radio neben der Kasse lamentiert George Strait über Verzweiflung. Auf dem Weg zur Theke spüre ich die Blicke auf mir. Eine Frau in rosa Kellnerinnenuniform und mit aufgedonnerter Frisur lächelt mir entgegen. »Hallo, Chief. Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen?«

Ich kenne sie vom Sehen. »Ja, gern.«

»Wollen Sie die Karte oder das Tagesgericht?«

Ich bin total ausgehungert, aber wenn ich was esse, werden sich die Leute hier auf mich stürzen wie Hyänen auf Aas. »Bloß einen Kaffee.«

Ich schiebe mich auf einen Stuhl an der Theke, sehe ihr beim Einschenken zu und hoffe, dass der Kaffee frisch gekocht ist. »Arbeitet Connie Spencer heute?«

Sie schiebt mir die Tasse hin. »Sie macht gerade Pause. Das arme Kind ist völlig von der Rolle. Der Mord an Amanda setzt ihr furchtbar zu. Haben Sie schon was rausgefunden?«

Ich schüttele den Kopf. »Wo ist sie?«

»Draußen, hinterm Haus. Qualmt wie ein Schlot, schon den ganzen Morgen.«

»Danke.« Ich lasse den Kaffee stehen und gehe um die Theke herum in die Küche. Der Koch blickt mich durch eine Rauchwolke vom offenen Grill an, und ein Junge mit schlimmer Akne, der vor einem riesigen Geschirrspüler steht, hebt den Blick und senkt ihn schnell wieder. Ich entdecke die Hintertür und marschiere hinaus.

Connie Spencer sitzt auf der Treppe. Sie ist sehr dünn, mit schmalen Schultern und schlanken, flinken Händen. Ihre braunen Augen sind mit blauem Eyeliner umrandet, die nicht vorhandenen Wangenknochen rosa gepudert. Das Fieberbläschen im Winkel ihres ungeschminkten Mundes ist nicht zu übersehen. Sie ist in einen Kunstpelzmantel gehüllt und zieht gerade an einer langen braunen Zigarette.

Die Tür schlägt hinter mir zu, sie dreht sich um und sieht mich böse an, einen trotzigen Ausdruck im Gesicht. Diese Taktik kenne ich, gewöhnlich wollen toughe Typen so ihre Nervosität vertuschen. Ich frage mich, warum sie wohl so angespannt ist.

»Ich hab mich schon gewundert, wo Sie bleiben.« Sie blickt auf die Uhr. »Hat ja ganz schön lange gedauert.«

Ihre Haltung missfällt mir sofort. »Warum glauben Sie, dass ich mit Ihnen reden sollte?«

»Weil ich Samstagabend mit Amanda zusammen war und sie jetzt tot ist.«

»Das scheint Sie nicht allzu sehr mitzunehmen.«

Sie berührt mit der Zungenspitze die Fieberblase. »Wahrscheinlich stehe ich noch unter Schock. Amanda war so … lebendig. Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«

»Samstagabend. Wir sind ausgegangen. Hatten ein paar Drinks.«

»Wo?«

»Im Brass Rail.«

»Auch noch woanders?«

»Nein.«

»Ist dort irgendwas Ungewöhnliches passiert?«

»Was meinen Sie mit ›ungewöhnlich‹?«

»Hat ein Mann zu viel Interesse an ihr gezeigt, hat ihr jemand, den sie nicht kannte, einen Drink spendiert, hat sie mit jemandem gestritten?«

»Nicht dass ich wüsste.« Ihr Lachen ist freudlos. »Ich war stockbesoffen.«

»Ist Ihnen jemand bekannt, der Amanda Schaden zufügen wollte? Hatte sie Feinde?«

Zum ersten Mal habe ich ihre Aufmerksamkeit. Ihre Abwehrhaltung bröckelt, und unter dem abgebrühten Getue scheint die junge Frau durch, die sie wirklich ist. »Genau das verstehe ich nicht«, sagt sie. »Alle mochten Amanda. Sie war … ein netter Mensch, immer gut drauf. Hat viel gelacht, wissen Sie?« Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln, das so gar nicht zu einer Einundzwanzigjährigen passt. »Mich mag gewöhnlich keiner.«

Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie mal ihre Haltung überprüfen sollte, aber ich bin nicht hier, um einer Klugscheißerin auf die Sprünge zu helfen. Ich bin hier, um den Mörder von Amanda Horner zu finden. »Hatte sie einen festen Freund?«

Connie Spencer hebt die Schultern, senkt sie wieder. »Sie ist mal mit Donny Beck gegangen, aber vor ein paar Monaten haben sie Schluss gemacht.«

Ich horche auf. Der Name fällt jetzt schon zum zweiten Mal. »Wie ist die Trennung abgelaufen?«

»Amanda hatte keinen Bock auf den Ich-Tarzan-du-Jane-Scheiß. Sie hat gesagt, was Sache ist, und er hat’s akzeptiert.«

»Erzählen Sie mir von Donny Beck.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er arbeitet bei Quality Implement. Mag Cocktails und Budweiser und Blondinen mit großen Titten. Sein höchstes Ziel im Leben ist es, den Laden irgendwann mal selbst zu managen. Amanda ist zu clever, um sich auf Dauer mit so einem einzulassen. Sie weiß, dass es im Leben mehr gibt als Kuhscheiße und Korn.«

Mir fällt auf, dass sie von Amanda in der Gegenwart spricht. »Irgendwelche unschönen Trennungen in der Vergangenheit?«

»Ich glaube nicht.«

»Gibt es jemanden, der aus irgendeinem Grund wütend auf sie ist?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Ich bewege mich im Kreis und wir beide wissen das. Eine Windböe fegt ums Haus, mit Schnee im Gepäck. »Um wie viel Uhr haben Sie Amanda zuletzt gesehen?«

Ihre viel zu stark gezupften Augenbrauen kräuseln sich. »Elf Uhr dreißig, vielleicht zwölf.«

»Haben Sie die Bar zusammen verlassen?«

Sie stößt Rauch aus, schüttelt den Kopf. »Wir hatten beide unser Auto dabei. Ich bin nicht gern von anderen abhängig. Wenn ich gehen will und sie bleiben …« Sie zuckt die Schultern, lässt den Satz unvollendet. »Das kann echt blöd sein.«

Ihre Emotionslosigkeit stört mich. Amanda war angeblich eine gute Freundin. Warum ist diese junge Frau nicht völlig fertig?

Sie steht auf und streicht sich hinten über den Mantel. »Ich muss zurück an die Arbeit.«

»Ich bin noch nicht fertig.«

»Bezahlen Sie mir den Arbeitsausfall, oder was?« Sie setzt sich in Bewegung. »Die hier nämlich ganz bestimmt nicht.«

»Wir können die Befragung hier und jetzt fortsetzen oder auf dem Polizeirevier«, erwidere ich. »Ihre Entscheidung.«

Sie runzelt die Stirn wie ein gereizter Teenager, plumpst zurück auf die Treppenstufe. »Das ist alles eine große Scheiße.«

»Erzählen Sie mir, was Samstagabend passiert ist, jedes auch noch so kleine Detail.«

Mit Sarkasmus in der Stimme rekapituliert sie einen Abend mit Trinken, Tanzen und Flirten. »Wir haben eine Pizza bestellt und einen Krug Bier und geredet.« Ihre Hand zittert, als sie an ihrer Zigarette zieht und tief inhaliert. »Danach haben wir ein bisschen Billard gespielt und uns mit Leuten unterhalten, die wir kennen. Ein paar Typen haben uns angemacht. Ich wollte Sex haben, aber das waren alles nur beschissene Loser.«

»Was meinen Sie mit ›Loser‹?« Ich stelle mir darunter trinkfeste, mit Drogen handelnde Männer vor, die Ärger suchen.

Sie sieht mich an, als wäre ich unterbelichtet. »Bauern. Ein Haufen ›Ich bleib in Scheißhausen für den Rest meines Lebens‹-Flaschen. Ich konnte den Schweinemist an ihren Stiefeln geradezu riechen.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich bin gegangen.«

»Ich brauche die Namen von allen, mit denen Sie und Amanda geredet haben.«

Seufzend zählt sie mehrere Namen auf.

Ich hole mein Notizbuch raus und schreibe sie auf. »Um wieviel Uhr sind Sie gegangen?«

»Das habe ich doch schon gesagt. Elf Uhr dreißig oder zwölf.« Sie lächelt bitter. »Wollen Sie, dass ich mich in Widersprüche verwickle?«

»In Widersprüche verwickeln sich nur Lügner. Lügen Sie, Connie?«

»Ich hab keinen Grund zu lügen.«

»Dann hören Sie auf, sich wie ein Arschloch zu benehmen, und beantworten Sie meine Fragen.«

Sie rollt die Augen. »Für ’ne Amische haben Sie ’nen ziemlich derben Sprachgebrauch.«

Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht darüber gelacht, doch diese junge Frau geht mir auf die Nerven. Mir ist kalt, ich bin müde und brauche dringend eine Spur, die mich zum Mörder führt. »War Amanda noch in der Bar, als Sie gingen?«

»Ich hab sie gesucht, um ihr zu sagen, dass ich gehe, hab sie aber nirgends gefunden. Wahrscheinlich war sie auf dem Klo oder hat draußen mit jemandem geredet. Die Pizza war mir auf den Magen geschlagen, deshalb bin ich früh gegangen.«

»Haben Sie sie noch mit jemandem gesehen, bevor Sie gegangen sind?«

»Zuletzt habe ich sie beim Billardspielen gesehen, mit ’ner Tussi und zwei Typen.«

»Sind die auf der Liste?«

»Ja.« Sie leiert die drei Namen runter.

Ich kreise sie mit dem Stift in meinen steif gefrorenen Fingern ein. »Gibt es sonst noch etwas, das wichtig sein könnte?«

Sie schüttelt den Kopf. »Es war ein ganz normaler langweiliger Abend, wie immer.«

Sie zieht an ihrer Zigarette, wirft sie auf die Treppe und zermalmt sie mit dem Fuß. »Wie ist sie gestorben?«

Ich ignoriere die Frage, stecke das Notizbuch in die Jackentasche und sehe Connie Spencer durchdringend an. »Verlassen Sie nicht die Stadt.«

»Warum? Ich hab alles gesagt, was ich weiß.« Sie sieht bestürzt aus, zum ersten Mal. Ich mag sie nicht, und das weiß sie. Als ich zur Tür gehe, steht sie auf. »Sie verdächtigen mich doch nicht, oder?«, ruft sie hinter mir her.

Ohne ihr zu antworten, schlage ich die Tür hinter mir zu.

· · ·

Es schneit, als ich LaDonna’s Diner verlasse. Der dunkle Himmel hängt tief, was so ziemlich genau meine Stimmung widerspiegelt. Connie Spencers Gleichgültigkeit sollte mir eigentlich egal sein, doch auf dem Weg zum Auto bin ich ganz schön sauer. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sie mit dem Mord etwas zu tun hat, doch das kaltschnäuzige Getue würde ich ihr gern austreiben.

Ich schiebe mich hinters Lenkrad, ziehe dabei das Handy aus der Jackentasche und rufe Lois auf dem Revier an. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, beginne ich, denn ihre Hilfsbereitschaft wächst stets merklich, wenn ich nett zu ihr bin. Lois ist nicht gerade meine diensteifrigste Mitarbeiterin, doch ihre Arbeitsmoral und ihr Organisationstalent sind gut. Außerdem tippt sie wie der Teufel.

»Glock hat mich gerade mit Tipparbeit zugeknallt, und das Telefon läuft heiß.« Ein Stöhnen zischt durch die Leitung. »Was gibt’s?«

»Ich brauche einen Raum für Besprechungen mit allen, die an dem Fall arbeiten. Ich denke an den Aktenraum neben meinem Büro. Was halten Sie davon?«

»Der ist total vollgestellt und ziemlich klein«, erwidert sie. Doch ihre Stimme sagt mir, dass sie sich freut, mitentscheiden zu dürfen.

»Könnten Sie vielleicht trotzdem jemanden finden, der hilft, ihn auszuräumen und den Klapptisch und Stühle reinzustellen?« Als sie zögert, füge ich hinzu: »Rufen Sie Pickles an. Sagen Sie ihm, er hat ab sofort Dienst. Er kann Ihnen mit dem Aktenraum helfen.«

Roland »Pickles« Shumaker ist vierundsiebzig Jahre alt und der einzige Hilfspolizist im Revier. Vor zwei Jahren wollte der Stadtrat, dass ich ihn feuere, weil er Mrs Offenheimers preisgekrönten Bantam-Hahn erschoss, als der ihn angriff. Doch Pickles ist seit fünfzig Jahren Polizist in Painters Mill. In den achtziger Jahren hat er im Alleingang eines der größten Methamphetamin-Labore im ganzen Staat hochgenommen. Da konnte ich doch seinen Polizeidienst nicht wegen eines toten Hahns beenden. Ich fragte ihn, ob er als Hilfspolizist auf Abruf arbeiten will, und da er die Alternative kannte, willigte er ein. Er ist ein mürrischer alter Bock, qualmt wie ein Schlot, färbt sich die Haare in einem komischen Braun und lügt unbeirrt, was sein Alter betrifft. Aber er ist ein guter Polizist, und da ich einen Mord aufzuklären habe und mir die Zeit davonläuft, brauche ich ihn.

»Pickles wird sich über den Anruf freuen, Chief. Er fragt immer noch jeden Tag nach, ob’s Arbeit für ihn gibt, und treibt Clarice in den Wahnsinn, seit er rausgeflogen ist. Sie hält es nicht aus, wenn er nur zu Hause rumhängt.«

»Wir werden ihn gut beschäftigen.« Mir fallen ein paar Dinge ein, die wir für den Besprechungsraum brauchen. »Bestellen Sie eine Weißwandtafel, ein Flipchart und eine Korkpinnwand, okay?«

»Sonst noch was?«

Ich höre ihr Telefon läuten. »Im Moment nicht. Ich bin in zehn Minuten auf dem Revier, dann gibt’s für alle ein Briefing. Halten Sie die Stellung, okay?«

»Das ist zwar so, als wollte ich meinen Hut in einem Tornado aufbehalten, aber ich versuch’s.«

Als Nächstes rufe ich Glock an. Er soll überprüfen, ob Connie Spencer ein Strafregister hat. Doch er wäre nicht Glock, hätte er nicht damit schon angefangen.

»Letztes Jahr ist sie in Westerville wegen Trunkenheit am Steuer und wegen Besitz von Betäubungsmitteln festgenommen worden, wurde aber nicht verurteilt.«

»Welche Art Betäubungsmittel?«

»Hydrocodone, ein Schmerzmittel. Gehörte ihrer Mutter. Der Richter hat sie gehen lassen.«

»Suchen Sie weiter, vielleicht finden Sie ja noch mehr.« Ich erzähle ihm von Donny Beck und gebe ihm die Liste der Namen durch, die Spencer mir genannt hat. »Alle müssen überprüft werden.«

»Bin schon am Einloggen.«

Ich lege auf und wähle die Kurzwahlnummer für T. J., um herauszufinden, wie es an der Kondom-Front aussieht. »Wie läuft’s?«

»Ich komme mir vor wie ’n beschissener Perverser.« Sein Tag scheint nicht besser zu laufen als meiner.

»Sie sind ein Polizist mit Dienstmarke, der an einem Mordfall arbeitet«, erinnere ich ihn.

Besänftigt, kommt er zur Sache. »Die Kasse im Super Value Grocery benutzt SKU-Nummern zur Inventarisierung. Der Manager hat die Aufzeichnungen durchgesehen. Am Freitag wurden zwei Schachteln Kondome mit Gleitbeschichtung verkauft, am Samstag eine.«

»Haben Sie die Namen der Käufer?«

»Einer hat bar bezahlt, die beiden anderen mit Scheck. Ich hab also zwei Namen und bin gerade auf dem Weg zu einem von denen.«

»Gute Arbeit.« Bleibt noch der Barzahler. »Kennt einer der Angestellten den Typ, der bar bezahlt hat?«

»Nee.«

»Gibt’s Überwachungskameras im Laden?«

»Ja, zwei. Eine innen über dem Büro und eine draußen auf dem Parkplatz. Die drinnen filmt keine Kunden, aber die Aufnahmen von draußen sollten wir uns ansehen.«

»Kann man rausfinden, wann der Barzahler die Kondome gekauft hat?«

Ich höre Papierrascheln. »Freitag um zwanzig Uhr.«

Die Zeit passt; der Mord war Sonntag. »Lassen Sie sich das Video geben. Vielleicht können wir ihn ja identifizieren.«

»Wird gemacht.«

»Ich bin auf dem Weg zum Revier; können Sie für ein kurzes Meeting reinkommen?«

»Bin in zehn Minuten da.«

»Bis gleich.« Ich lege auf und schleudere das Handy auf den Beifahrersitz. Die Uhr am Armaturenbrett zeigt vier an. Die Zeit rast, treibt Spott mit mir. Vierzehn Stunden sind vergangen, seit Amanda Horners Leiche gefunden wurde, und ich weiß nicht mehr als am Anfang.

Auf der Fahrt zum Polizeirevier verbiete ich mir, an meinen Bruder und unseren Plan für heute Nacht zu denken. Ich weiß wirklich nicht, ob ich hoffen soll, in dem alten Getreidespeicher eine Leiche zu finden – oder besser nicht.