4. Kapitel
Die Horners wohnen in der Wohnwagensiedlung Sherwood Forest am Highway 83 zwischen Keene und Clark. Der graue Himmel gleicht einer Betondecke. Während ich in die Schotterstraße abbiege, studiert Glock auf dem Beifahrersitz die Karte, die ich vor der Abfahrt ausgedruckt habe.
»Da ist die Sebring Lane«, sagt er, den Finger auf dem Ausdruck.
Ich fahre rechts in die Straße, an der auf beiden Seiten ein Dutzend Wohnmobile wie Matchboxautos aufgereiht sind. »Welche Stellplatznummer?«
»Fünfunddreißig, dahinten, am Ende.«
Ich parke den Explorer vor einem etwa vier Meter breiten und 18 Meter langen blauweißen Liberty Mobile Home, Baujahr um 1980. Die seitliche Wohnzimmererweiterung sieht etwas zusammengeschustert aus, doch insgesamt macht die Parzelle, in deren Auffahrt ein Ford F-150 Pick-up neueren Datums steht, einen gepflegten Eindruck. Am Küchenfenster hängt eine grüne Gardine und um die Sturmtür eine verbliebene Weihnachtslichterkette. Die Mülltonne am Bordstein quillt über. Ein ganz normales Zuhause kurz vor einer furchtbaren Erschütterung.
Ich würde mir lieber die Hand abhacken, als Belinda Horner in die Augen zu sehen und sie auffordern zu müssen, eine Tote zu identifizieren, die ganz bestimmt ihre Tochter ist. Aber genau das ist meine Aufgabe, ich habe keine Wahl.
Auf dem Weg zum Wohnmobil dringt der eisige Wind durch meinen Parka bis auf die Knochen. Während Glock neben mir die Kälte verflucht, steige ich schlotternd die Stufen hinauf und klopfe. Augenblicklich geht die Sturmtür auf, als würden wir erwartet. Vor mir steht eine Frau mittleren Alters mit blond gefärbtem Haar und dunklen Ringen unter den müden Augen. Sie sieht aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.
»Mrs Horner?« Ich zeige ihr meine Dienstmarke. »Ich bin Kate Burkholder, Chief of Police von Painters Mill.«
Ihr Blick huscht von mir zu Glock und heftet sich dann auf unsere Dienstmarken. Kurz flackert Hoffnung in ihren Augen auf, doch ihre Angst ist nicht zu übersehen. Im Grunde weiß sie, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn Polizisten persönlich vorbeikommen. »Geht es um Amanda? Haben Sie sie gefunden? Ist sie verletzt?«
»Dürfen wir hereinkommen?«, frage ich.
Sie macht einen Schritt zurück und öffnet die Tür ganz. »Wo ist sie? Steckt sie in Schwierigkeiten? Hatte sie einen Unfall?«
Der überheizte Wohnwagen ist vollgestopft mit Dutzenden bunt zusammengewürfelten Möbelstücken. Ich rieche eine Mischung aus Schinken vom Frühstück, Hackbraten von gestern Abend und Haarspray. Im Fernsehen läuft eine Gameshow, in der ein strahlender Kandidat gerade ein Angebot für eine Jukebox abgibt. »Sind Sie allein, Ma’am?«
Sie sieht mich an. »Mein Mann ist auf der Arbeit.« Ihr Blick huscht von mir zu Glock und wieder zurück. »Was ist los? Warum sind Sie hier?«
»Ma’am, ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht.«
Sie reißt entsetzt die Augen auf, weiß instinktiv, was ich als Nächstes sagen werde. In ihrem Blick erkenne ich dieselbe Vorahnung von etwas Grauenvollem, wie ich sie in meinem Inneren gespürt habe.
»Es ist möglich, dass wir Ihre Tochter gefunden haben, Ma’am. Eine junge Frau, auf die Ihre Beschreibung passt –«
»Gefunden?« Ein kurzes, hysterisches Lachen. »Was meinen Sie mit gefunden? Warum ist sie nicht hier?«
»Es tut mir leid, Ma’am, aber die Frau, die wir gefunden haben, ist tot.«
»Nein.« Sie hebt die Hand, als wolle sie mich fernhalten. Ihr wilder Gesichtsausdruck könnte einen Zug zum Halten bringen. »Sie irren sich. Das stimmt nicht. Jemand hat einen Fehler gemacht.«
»Ich muss Sie bitten, uns ins Krankenhaus nach Millersburg zu begleiten und sie zu identifizieren.«
»Nein.« Sie stößt das Wort halb schluchzend, halb stöhnend aus. »Das kann nicht sein. Das ist sie nicht.«
Ich blicke zu Boden, um ihr Zeit zu geben, das Unfassbare zu begreifen, und nutze die paar Sekunden, meine eigenen Gefühle in den Griff zu bekommen. Ich will nicht darüber nachdenken, wie unerhört es im Grunde ist, hier zu stehen und das Leben dieser Frau zu zerstören. »Gibt es jemanden, den Sie anrufen und herbitten können, Ma’am? Ihren Mann oder sonst jemand in der Familie?«
»Ich brauche niemanden. Amanda ist nicht tot.« Sie schnappt nach Luft, drückt die Hand auf den Bauch. »Sie lebt.«
»Es tut mir leid.« Selbst in meinen Ohren klingen die Worte hohl.
Sie ballt die Hände zu Fäusten und presst sie an die Schläfen. »Sie ist nicht tot. Das hätte ich gespürt.« Unsägliches Leid steht in ihren Augen, als sie mich anblickt. »Die Polizei hat einen Fehler gemacht. Das hier ist eine kleine Stadt. Andauernd passieren Fehler.«
»Sie ist noch nicht identifiziert, aber wir glauben, dass sie es ist«, sage ich. »Es tut mir sehr leid.«
Ruckartig wendet sie sich von uns ab und geht ans andere Ende des Zimmers. Ich werfe Glock einen Blick zu. Er sieht so aus, wie ich mich fühle, nämlich dass er lieber ganz weit weg wäre und nicht in diesem überheizten, vollgestopften Wohnwagen, wo die Welt dieser Frau gerade zusammenbricht. Unsere Blicke treffen sich. Sein Nicken tut mir gut, und ich frage mich, ob er weiß, wie sehr ich im Moment dieses kleine Zeichen von Unterstützung brauche.
Zum ersten Mal ergreift er das Wort. »Mrs Horner, ich weiß, wie schwer das ist, aber wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Sie dreht sich um und blickt ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Tränen glänzen in ihren Augen. »Wie ist sie …«
Sie weiß, dass noch mehr kommt, ich sehe es in ihren Augen. Manche Menschen haben einen sechsten Sinn für drohendes Unheil. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, als wäre sie auf alles gefasst, die müden Augen – all das verrät mir, dass sie im Leben schon einiges eingesteckt hat.
»Die Frau, die wir gefunden haben, wurde ermordet«, antworte ich.
Belinda Horner stößt einen Laut aus, halb Schrei, halb Wehklage. Sie starrt mich an, als wollte sie auf mich, die Überbringerin dieser furchtbaren Nachricht, losgehen. Ich wappne mich, doch sie verharrt auf der Stelle, bleibt endlose Sekunden bewegungslos stehen, wie festgefroren. Dann läuft ihr Gesicht tiefrot an. »Nein!« Ihre Lippen zittern. »Sie lügen.« Ihr Blick schießt zu Glock. »Sie alle beide!«
Da ich ihr nicht in die leidvollen Augen sehen kann, konzentriere ich mich auf einen Fleck im Teppichboden. Doch dann stößt sie einen wilden Klageschrei aus, ich blicke wieder auf und sehe, dass sie vornübergebeugt dasteht, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Als sie mich ansieht, ist ihr Gesicht tränenüberströmt. »Bitte sagen Sie mir, dass das nicht stimmt.«
Es ist nicht das erste Mal, dass ich schlechte Nachrichten überbringen muss. Vor zwei Jahren, gleich in meiner ersten Woche hier, musste ich Jim und Marilyn Stettler mitteilen, dass ihr sechzehn Jahre alter Sohn mit seinem nagelneuen Mustang frontal gegen einen Telefonmast gerast war und sich selbst und seine vierzehnjährige Schwester getötet hatte. Das war mit das Schlimmste, was ich im Laufe meiner Polizeiarbeit tun musste. Danach habe ich mich zum ersten Mal im Leben allein betrunken. Aber nicht zum letzten Mal.
Ich gehe zu Belinda Horner, lege ihr die Hand auf die Schulter und drücke sie sanft. »Es tut mir so leid.«
Sie schüttelt meine Hand ab und sieht mich an, als wolle sie mich in Stücke reißen. »Wie konnte das passieren?« Sie schreit jetzt, überwältigt vom Kummer und einer ohnmächtigen Wut, die außer Kontrolle zu geraten droht. »Wie konnte ihr jemand weh tun?«
»Wir wissen es nicht, Ma’am, aber ich verspreche, dass wir alles tun, um es herauszufinden.«
Sie starrt mich weiter an, dann packt sie ihre Haare, als wolle sie sie ausreißen. »O Gott. Harold. Ich muss Harold anrufen. Wie soll ich ihm denn sagen, dass unsere Kleine tot ist?«
Das Telefon steht in der Ecke, ich gehe hin und nehme den Hörer ab. »Mrs Horner, lassen Sie mich anrufen. Sagen Sie mir seine Nummer?«
Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, verschmiert die Wimperntusche. Mit zittriger Stimme nennt sie die Nummer. Als ich wähle, verfluche ich die Gewissheit, dass auch Harold Horners Welt gleich zusammenbrechen wird. Aber ich will die Frau nicht alleine lassen. Trotzdem muss ich einen Mord aufklären, und das kann ich nicht von hier aus.
Horner nimmt nach dem ersten Klingeln ab. Ich sage, wer ich bin und dass es zu Hause einen Notfall gibt. Er fragt nach seiner Frau, und ich erwidere, dass ihr nichts fehlt. Als er nach seiner Tochter fragt, sage ich, er soll nach Hause kommen, und lege auf.
Belinda Horner steht am Fenster, die Arme um sich geschlungen. Glock ist zur Tür gegangen und schaut auf die öde Landschaft hinaus. Seine Stirn ist schweißnass; mir läuft das Wasser den Rücken hinunter.
»Mrs Horner, wann haben Sie Amanda das letzte Mal gesehen?«, frage ich.
Der Blick, den sie mir jetzt zuwirft, lässt mich frösteln. »Ich will sie sehen«, sagt sie mit ausdrucksloser Stimme. »Wo ist sie? Wo ist mein Kind?«
Bevor ich antworten kann, sinkt sie in die Knie. Ich eile zu ihr hin, doch Glock ist schneller und fängt sie unter den Armen auf, kurz bevor sie auf den Boden schlägt. »Ruhig, Ma’am, ruhig«, beschwichtigt er sie.
Glock und ich führen sie zum Sofa. »Ich weiß, es ist schwer, Mrs Horner«, sage ich. »Bitte beruhigen Sie sich.«
Sie blickt mich aus tränennassen Augen an. »Wo ist sie?«
»Im Krankenhaus in Millersburg. Der Geistliche dort ist für Sie da, falls Sie ihn brauchen.«
»Ich bin nicht religiös.« Sie steht auf und blickt sich um, verharrt aber auf der Stelle, als wüsste sie nicht, wo sie ist und was sie tun soll. »Ich will sie wirklich sehen.«
»Ja, natürlich, aber haben Sie bitte noch einen Moment Geduld.« Ich versuche erneut, die Information zu bekommen, die ich brauche. »Mrs Horner, wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«
»Vor zwei Tagen. Sie ist … ausgegangen. Sie war beim Friseur gewesen und hatte sich in der Mall einen neuen Pullover gekauft, braun mit Pailletten am Halsausschnitt. Sie sah so schön aus.«
»War sie mit jemandem zusammen?«
»Mit Connie, ihrer Freundin. Sie wollten in die neue Bar gehen.«
»Wie heißt die?«
»Brass Rail.«
Meine Polizisten sind schon ein paar Mal dorthin gerufen worden. Die Bar wird von hormongesteuerten jungen Leuten frequentiert, die zu viel trinken und Gott weiß was sonst noch alles treiben. »Wie heißt Connie mit Nachnamen?«
»Spencer.«
Ich ziehe meinen Notizblock aus der Tasche und schreibe es auf. »Um wieviel Uhr ist Amanda hier weggegangen?«
»So gegen sieben Uhr dreißig. Sie war immer zu spät dran, hat immer erst alles in letzter Minute gemacht.« Sie schließt die Augen und schluchzt. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das hier kein böser Traum ist.«
»Hatte Amanda einen Freund?«
»Nein. Sie war so eine gute Tochter. Jung und hübsch und klug dazu. Klüger als ich und ihr Dad zusammen.« Ihre Lippen zittern. »Im Herbst wollte sie zurück aufs College.«
Es gibt keine Worte, um sie zu trösten.
»Dürfen wir uns ein wenig in ihrem Zimmer umsehen?«, frage ich.
Sie starrt mich aus blicklosen Augen an.
»Können Sie uns bitte ihr Zimmer zeigen, Ma’am?«, fragt Glock behutsam.
Sie geht leise wehklagend zum Flur, ich bleibe dicht hinter ihr. Wir passieren ein winziges Bad mit rosa Handtüchern und farblich passendem Duschvorhang. Vor der nächsten Tür bleibt sie stehen, stößt sie auf. »Das ist ihr Zimmer mit ihren Sachen.« Ihr ganzer Körper bebt, so heftig schluchzt sie. »O mein Baby, meine süße Tochter.«
Ich trete an ihr vorbei ins Zimmer und versuche, es mit dem unvoreingenommenen Blick einer Polizistin zu betrachten, kein leichtes Unterfangen bei all dem Leid um mich herum.
Ein Einzelbett, ungemacht. Mit rosa Rüschenbettwäsche und rosa Tagesdecke. Die Bettwäsche eines kleinen Mädchens, denke ich. Die hat sie wahrscheinlich seit ihrer Kindheit.
Auf dem Nachttisch stehen eine Lampe, ein Wecker und mehrere gerahmte Fotos. Ich nehme das Foto mit Amanda und einem jungen Mann darauf in die Hand. »Wer ist das?«
Belinda kämpft gegen ihre Tränen. »Donny Beck.«
»Ihr Freund?«
Sie nickt. »Exfreund. Er war verrückt nach Amanda.«
»Und sie?«
»Sie mochte ihn, aber mehr nicht.«
Ein anderes Foto zeigt Amanda auf dem Rücken eines Rotfuchses; sie grinst, als hätte sie gerade das Kentucky Derby gewonnen.
»Sie liebt Pferde.« Belinda Horner sieht aus, als wäre sie in den letzten fünf Minuten um zehn Jahre gealtert. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, ihre Wangen sind eingefallen und ihr verlaufenes Make-up erinnert an einen traurigen Clown. »Harold und ich hatten ihr zum Highschool-Abschluss Reitstunden geschenkt. Das konnten wir uns eigentlich nicht leisten, aber sie hat sich so darüber gefreut.«
Ich stelle das Foto wieder zurück. »Hat sie Tagebuch geführt, Ma’am? Oder einen Terminkalender gehabt?«
»Ich weiß es nicht.« Sie nimmt einen verschlissenen Teddy, riecht daran. Dann drückt sie ihn fest an sich und bricht in Tränen aus. »Ich will sie wiederhaben.«
Ich blicke mich im Zimmer um, hoffe, irgendetwas zu entdecken, das mir mehr über Amanda Horner verrät. So diskret wie möglich sehe ich in ihrem Nachttisch nach, finde nichts, dann suche ich in der Kommode zwischen T-Shirts, Socken und Unterwäsche nach irgendeinem Hinweis.
Eine zugeschlagene Autotür kündigt Harold Horner an. Ohne etwas zu sagen, läuft Belinda aus dem Zimmer. »Harold! Harold!«
Glock und ich sehen uns betreten an. »Mein Gott«, sage ich, und er stimmt mir nickend zu.
Als ich ins Wohnzimmer komme, fliegt die Eingangstür auf.
»Ich bin so schnell wie möglich gekommen.« Harold Horner ist ein hochgewachsener Mann. Er trägt ein rotes Flanellhemd und eine Jeansjacke, ist kahlköpfig und hat die schwieligen Hände eines Arbeiters. Seine Augen haben die gleiche Farbe wie die seiner Tochter. Er blickt uns der Reihe nach an. »Wo ist Amanda?«
Ich zeige ihm meine Dienstmarke und stelle mich vor. »Ich fürchte, wir haben traurige Nachrichten, Sir.«
»O Gott, nein. Was ist passiert? Was ist los?«
»Sie ist tot«, stößt Belinda Horner aus. »Unser Kind ist tot. O Harold, lieber Gott.« Er geht zu ihr, und sie bricht in seinen Armen zusammen.
»Unser süßes kleines Mädchen kommt nie wieder nach Hause.«
Ich setze Glock am Polizeirevier ab mit dem Auftrag, rüber ins Brass Rail zu fahren. Eigentlich möchte ich selbst hin, delegieren fällt mir schwer, aber ich muss unbedingt mit Doc Coblentz sprechen. Und den erneuten Anblick der Toten möchte ich keinem meiner Officers zumuten.
Glock hatte zuvor schon die Reifen-und Schuhabdrücke am Tatort genommen, ein mühsames Unterfangen, und Mona hatte alles per Kurier ins einhundert Meilen entfernte BCI-Labor in London, Ohio, geschickt. Die Kurierkosten überschreiten zwar unser Budget, aber ich kann auf keinen meiner Mitarbeiter verzichten. Notfalls muss ich es aus der eigenen Tasche bezahlen.
Im Labor werden alle Abdrücke eingescannt und am Computer mit denen von unseren Leuten und Fahrzeugen abgeglichen, die am Tatort waren. Mit etwas Glück bleibt am Ende mindestens einer übrig, der nicht zu den anderen passt und uns einen ersten Hinweis auf die Identität des Mörders gibt. Aber meine diesbezügliche Hoffnung hält sich in Grenzen.
Um kurz vor zwölf parke ich beim Haupteingang des Pomerene Hospital in Millersburg. Ich gehe an der Information vorbei zum Aufzug, fahre ins Kellergeschoss, wo ich die Schwingtüren mit dem schwarzgelben Symbol für Biogefährdung aufstoße und Doc Coblentz in seinem verglasten Büro am Schreibtisch sitzen sehen, weil die Jalousien hochgezogen sind. Als er mich sieht, steht er auf. In dem weißen Laborkittel und den ausgebeulten lohfarbenen Hosen wirkt er unförmig wie ein Hefekloß.
»Chief Burkholder.« Er reicht mir zur Begrüßung die Hand. »Die Eltern waren vor ein paar Minuten hier und haben sie identifiziert.« Er schüttelt den Kopf. »Eine nette Familie. Es ist schlimm mit anzusehen, was ihnen passiert ist.«
»Haben sie mit dem Geistlichen gesprochen?«
»Pfarrer Zimmerman hat sie mit in die Kapelle genommen.« Er nickt zum Zeichen, dass er anfangen will. »Mit der Autopsie habe ich noch nicht begonnen. Bis jetzt gibt es nur vorläufige Ergebnisse.«
»Ich kann alles gebrauchen.« Die Vorstellung, Amanda Horners Leiche gleich wieder zu sehen, erfüllt mich mit Grauen. Doch ich brauche Fakten und muss meine Gefühle ignorieren. Im Moment sind Informationen mein wichtigstes Werkzeug. Ich will den Kerl kriegen, der das getan hat. Am liebsten würde ich ihm ins Gesicht schießen, damit er niemandem mehr das antun kann, was er den Horners angetan hat.
Diese Gedanken helfen mir, der Aufforderung des Doktors nachzukommen, mir Schutzkleidung aus der Nische hinten im Zimmer zu holen.
»Geben Sie mir Ihre Jacke«, sagt er und hält die Hand hin. Widerstrebend ziehe ich den Parka aus, den er draußen vor der Tür an einen Haken hängt. Ich binde mir schnell eine sterilisierte Schürze um und streife Plastikhüllen über die Stiefel.
Doc Coblentz zeigt auf einen angrenzenden Raum, dessen Tür mit einem noch größeren Symbol für Biogefährdung beklebt ist. »Es ist kein schöner Anblick«, sagt er.
»Das sind Mordopfer nie.«
Nach einer weiteren Schwingtür kommen wir schließlich in den Autopsieraum. Obwohl er ein eigenes, separates Lüftungssystem hat, riecht es hier nach Formalin und einigen anderen Dingen, die ich lieber nicht identifiziere. An der hinteren Wand stehen vier fahrbare Seziertische aus Edelstahl. In der Mitte des Raums ist eine riesige Waage zum Wiegen von Leichen, eine kleinere für einzelne Körperteile befindet sich auf einem stählernen Unterschrank, neben verschiedenen Tabletts, Flaschen und Instrumenten.
Der Doktor nimmt ein Klemmbrett vom Regal und geht mit mir zum fünften Seziertisch, der einzige benutzte. Er schlägt das Tuch zurück, so dass Amanda Horners Gesicht und Hals freiliegen. Ihre Haut ist jetzt grau. Jemand hat ihre Augen zugemacht, doch das linke Lid ist wieder aufgegangen. Ein klebrig aussehender Schleier bedeckt den Augapfel.
Doc Coblentz schüttelt seufzend den Kopf. »Dieses arme Kind ist einen grausamen Tod gestorben, Kate.«
»Folter?«
»Ja.«
Ich versuche die Wut, die in mir aufsteigt, zu ignorieren. »Wissen Sie schon die Todesursache?«
»Sie ist mit ziemlicher Sicherheit verblutet.«
»Gibt es schon Hinweise auf die Art des Messers?«
»Ein scharfes, ohne Zähne. Wahrscheinlich mit kurzer Klinge.« Er zeigt mit einem langen Watteträger auf den Schnitt am Hals. »Das hier ist die tödliche Wunde. Die Verletzung durch einen scharfen Gegenstand ist deutlich sichtbar, der Einstich relativ klein.« Er wirft einen Blick aufs Klemmbrett. »Acht Komma eins Zentimeter.«
»Ist das von Bedeutung?«
»Es sagt mir, dass der Täter wusste, wo er die Schlagader trifft.«
»Medizinische Ausbildung?«
»Oder es ist nicht das erste Mal.«
Ich will nicht darauf eingehen und stelle meine nächste Frage. »Wie hat er sie unter Kontrolle gebracht? Mit Medikamenten, Drogen?«
»Ich mache noch eine toxikologische Untersuchung.« Er sieht mich über seine Brille hinweg an. »Aber ich glaube, er hat eine Elektroschockpistole benutzt.«
»Was lässt darauf schließen?«
Er streift Einmalhandschuhe über die dicken Finger und schiebt das Tuch bis hinab zu ihrem Unterleib.
Ich bin seit über zehn Jahren Polizistin, habe Schießereien, blutige familiäre Auseinandersetzungen und grauenerregende Verkehrsunfälle gesehen. Doch der unverblümte Anblick von toten Menschen bereitet mir noch immer Probleme. Die Angst vor dem Tod ist ein Urinstinkt, der in Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Ganz gleich, wie viele Tote ich schon gesehen habe, ich werde mich nie daran gewöhnen.
»Sehen Sie diese roten Male?«, fragt er.
Auf der Stelle, wo er mit dem Watteträger hinzeigt, erkenne ich zwei kleine, kreisrunde Flecken an der linken Schulter, die wie Abschürfungen aussehen. Zwei weitere befinden sich über ihrer rechten Brust und einer auf dem linken Bizeps. Würde es sich hier nicht um die Leiche eines Mordopfers handeln, könnte ich mir sicher einreden, Windpocken oder irgendwelche anderen gutartigen Hautveränderungen vor Augen zu haben. Aber als Polizistin weiß ich, dass diese Male viel unheilvoller sind.
»Abschürfungen?« Ich beuge mich näher dran. »Verbrennungen?«
»Verbrennungen.«
»Die meisten Elektroschockpistolen hinterlassen keine Male.«
»Richtig«, räumt er ein. »Das trifft vor allem zu, wenn sie durch Kleidung hindurch benutzt werden.«
»Dann hat er sie damit betäubt, als sie nackt war?«
Er zuckt die Schultern. »Wahrscheinlich. Aber diese Male sehen anders aus als die, die ich von früher kenne.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die Verbrennungen hier sind schlimmer. Ich glaube, er hat die Stromstärke der Pistole manipuliert.«
Ich betrachte die Male und gebe mir Mühe, nicht zu schaudern. Vor zehn Jahren habe ich die Polizeiakademie in Columbus besucht. Zu unserer Ausbildung gehörte es, dass mutige Schüler sich freiwillig zur Verfügung stellten, mit der Elektroschockpistole angeschossen zu werden. Aus Neugier habe ich mich gemeldet, und obwohl die Stromstärke ziemlich gering war, bin ich auf dem Hintern gelandet. Ich will mir nicht vorstellen, einem Psychopathen mit einer frisierten Elektroschockpistole ausgeliefert zu sein.
»Glauben Sie, er hat die Pistole selbst zusammengebastelt?«, frage ich.
»Zumindest hat er sie verändert.« Er nickt. »Jedenfalls steht fest, dass er sie damit mehrere Male angeschossen hat.«
Ich sehe mir die Furchen um ihre Handgelenke genauer an und fröstele beim Anblick des hellen Knochens. »Womit zum Teufel hat er sie gefesselt?«
»Draht. Und augenscheinlich ziemlich lange.« Er schüttelt den Kopf so heftig, dass seine Wangen wabbeln. »Sie hat sich gewehrt.«
Painters Mill ist umgeben von Farmen. Viele Bauern machen Heu, es gibt also Unmengen Draht für Heuballen. Selbst wenn wir die Marke herausfinden, können wir unmöglich seine Herkunft zurückverfolgen.
Der Arzt hebt das Tuch hoch. »Ihre Fußgelenke waren mit einer Kette zusammengebunden. Große, leicht angerostete Kettenglieder. Den Druckstellen nach zu urteilen hat er sie daran aufgehängt, als sie noch lebte.«
Vor meinen Augen steigt ein Bild auf, über das ich lieber nicht nachdenken möchte. Ich weiß nur, dass wir es hier nicht mit einem menschlichen Wesen zu tun haben. Nicht einmal mit einem Tier. Nur ein Ungeheuer ist zu solchen Gräueltaten fähig.
Mit dem distanzierten Habitus des Wissenschaftlers zieht der Doktor das Tuch jetzt ganz weg. Ich muss mich zusammennehmen, als Amanda Horners Leichnam in voller Größe vor mir liegt. Mein Blick fällt auf multiple Verbrennungen und Abschürfungen in grauem Fleisch. Ich bin nicht zimperlich, aber mir ist flau im Magen. Mein Herz schlägt zu schnell und Speichel sammelt sich in meinem Mund. Ich weiß, was der Arzt gleich sagen wird, denn auch ich starre auf die Schnitte in ihrem Unterleib, über dem Nabel.
Jetzt, wo die Wunde gesäubert wurde, ist das ins Fleisch geritzte XXIII eindeutig erkennbar. Ich merke, dass ich die Luft anhalte, und atme aus.
»Wollen Sie ein Glas Wasser, Kate?«
Die Frage ärgert mich, aber ich widerstehe der Versuchung, ihn anzufahren. »Haben Sie Fotos davon?«
»Ja.«
Mein Blick wandert zu den leichten Prellungen auf der Innenseite der Oberschenkel. »Wurde sie sexuell missbraucht?«
»Es gibt kleine vaginale Einrisse. Und auch anale. Zudem habe ich Verbrennungen um den After herum gefunden, vermutlich von einer Art elektrischem Instrument. Ich habe Abstriche gemacht, glaube aber nicht, dass er Samen hinterlassen hat.«
»Was ist mit Haaren oder Fasern?«
»Nein, und nein.«
»Dann hat er ein Kondom benutzt.«
»Genau genommen ein Kondom mit Gleitbeschichtung. Ich habe Spuren von Glycerin und Methylparaben in der Vagina und um den Anus gefunden.«
Ich denke nach. »Wie kann ein Mann so nah an sie rankommen, um sie zu vergewaltigen, und keine Haare hinterlassen?«
»Dazu habe ich zwei Hypothesen.«
»Und die lauten?«
»Er könnte seine Körperhaare rasiert haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Serienvergewaltiger alles tut, um keine DNA zu hinterlassen.«
»Und die zweite?«
»Er könnte mit irgendeinem Objekt in sie eingedrungen sein. Vielleicht kann ich mehr sagen, wenn die Ergebnisse der Abstriche aus dem Labor zurückkommen.«
»Dann weiß der Mörder also etwas über forensische Untersuchungen und Beweismittel.«
»Wer weiß das heutzutage nicht?« Er zuckt mit den Schultern. »Die Leute sehen sich im Fernsehen CSI an. Jeder ist ein Experte.«
»Machen Sie wegen der Laborergebnisse ein wenig Druck, ja?«
»Ganz bestimmt.«
Meine Anspannung lässt ein wenig nach, als der Doktor den Leichnam wieder zudeckt. »Was ist mit dem Todeszeitpunkt?«
»Ich habe sofort die Körpertemperatur gemessen, als sie hergebracht wurde, also um drei Uhr dreiundfünfzig.« Er wirft einen Blick aufs Klemmbrett. »Lebertemperatur achtundzwanzig Komma sechs Grad Celsius. Ich würde sagen, der Todeszeitpunkt liegt zwischen sechzehn und neunzehn Uhr gestern Nachmittag.«
Belinda Horner hatte ihre Tochter zuletzt am Samstag gegen neunzehn Uhr dreißig gesehen, sie muss also irgendwann danach entführt worden sein. »Wenn er sie irgendwann Samstagnacht entführt hat, war sie ziemlich lange in seiner Gewalt, bevor er sie umbrachte.« Bei der Vorstellung wird mir übel. Am liebsten würde ich den kranken Mistkerl in die Finger bekommen und vergessen, dass ich Polizistin bin.
»Ich fürchte ja.« Er zeigt auf die Tote. »Wer immer das getan hat, hat sich Zeit genommen, Kate. Er hatte keine Eile und hat sie eine Weile am Leben gelassen.«
Ich habe Mühe, meine Stimme zu kontrollieren. »Also hat er sie wahrscheinlich an einen Ort gebracht, wo er sich sicher fühlte. Wo er wusste, dass man nichts hört.« Solche Orte gibt es auf dem Land, wo die Farmen oft meilenweit auseinanderliegen, mehr als genug.
Ich sehe den Arzt an. »Wurde sie geknebelt?«
»Sieht nicht so aus. Es gibt keine Reste von Klebeband auf der Haut oder von Fasern im Mund.« Er verzieht das Gesicht. »Sie hat sich auf die Zunge gebissen.«
Er hat ihr beim Schreien zugehört, denke ich. »Dann kennt er also einen einsamen Ort, wo er kommen und gehen kann, wie er will. Einen Ort, der so abgelegen ist, dass niemand sie hören konnte.«
»Oder er hat ein Haus mit Keller oder schalldichtem Raum.«
Ich verspüre einen fast manischen Drang, endlich aktiv zu werden. In meinem Kopf überschlagen sich die Dinge, die ich tun muss. Zum Beispiel Leute befragen. Ich muss entscheiden, welche Aufgaben ich delegiere und welche ich selbst übernehme. Ich werde die Hilfe aller meiner Kollegen brauchen und auch unseren Hilfspolizisten einsetzen. Meine Erschöpfung ist wie weggeblasen, stattdessen spüre ich den eisernen Willen, dieses Monster zu fassen.
Als hätte er gemerkt, dass ich keine Fragen mehr habe, zieht der Doktor die Latexhandschuhe aus. »Ich rufe Sie an, sobald ich fertig bin.«
»Danke, Doc. Sie haben mir sehr geholfen.«
Auf dem Weg zur Tür fällt mir doch noch eine Frage ein. »Haben Sie noch die ausführlichen Autopsieberichte von den früheren Opfern? In unseren Akten befinden sich nur die Zusammenfassungen.«
»Die sind meines Wissens im Archiv, aber ich kann sie kommen lassen.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir von allem, was Sie haben, so schnell es geht, Kopien ins Büro schicken lassen.«
Er hält meinem Blick stand, doch sein Gesichtsausdruck verdüstert sich. »Ich hatte damals gerade meine Assistenzzeit im Krankenhaus beendet, Kate, und Dr. Kours bei allen vier Autopsien assistiert.« Er stößt ein freudloses Lachen aus. »Ich schwöre bei Gott, als ich die Leichen gesehen habe, wäre ich um ein Haar zur Zahnmedizin gewechselt.«
Ich will nicht wissen, was als Nächstes kommt, bleibe aber stehen.
»Wenn man so etwas sieht, vergisst man es nie wieder.« Er tritt vor mich. »Amanda Horner ist auf genau die gleiche Weise gestorben wie jene Mädchen.«
Obwohl ich auf diese Aussage gefasst war, wird mir eiskalt.
»Ihnen ist sicher nicht entgangen, dass die Nummer, die in den Unterleib der Opfer geritzt ist, von neun auf dreiundzwanzig angestiegen ist«, sagt der Doktor. »Das macht mir Sorgen.«
»Wir sind nicht einmal sicher, dass wir es hier mit demselben Mörder zu tun haben«, erwidere ich. »Könnte auch ein Nachahmungstäter sein.«
Er wirft die Handschuhe in den Behälter für Sondermüll. »Ich kann es einfach nicht glauben, dass es einen Mann gibt, oder sogar zwei, die zu solchen grauenhaften Taten fähig sind. Und schon gar nicht, dass sie aus unserer Stadt stammen.«
Er nimmt die Brille ab und wischt sich mit dem Taschentuch über den Nasenrücken, und mir wird klar, dass dieser gestandene Arzt wegen der Dinge, die er heute gesehen hat, aus der Fassung geraten ist.
»Die Tat trägt seine Handschrift«, sagt er. »Da wette ich meine Karriere drauf.«
Ich starre ihn an, sage mir, dass er unrecht hat. Doch zum allerersten Mal verspüre ich einen Anflug von Zweifel, und eine leise Stimme in meinem Hinterkopf fragt, ob der Schuss aus der Schrotflinte an jenem grauenhaften Tag vor sechzehn Jahren wirklich tödlich war.
Ein halbes Leben lang habe ich mit der Überzeugung gelebt, einen Mann umgebracht zu haben. Ich habe mir vergeben und auch Gott um Vergebung gebeten. Ich habe meine Tat rationalisiert, mein Schweigen, das Schweigen meiner Familie. Und irgendwie habe ich gelernt, damit zu leben. Doch dieser Mord stellt das nun alles in Frage.
»Kate?«, sagt der Arzt, die weißen Augenbrauen sorgenvoll zusammengezogen.
»Es ist alles okay«, sage ich schnell und gehe zur Tür. Ich spüre den Blick des Arztes in meinem Rücken, als ich sie aufstoße, und bin unter der Uniform nassgeschwitzt, als ich schließlich den Korridor erreiche.
Es gibt nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob der Mann, auf den ich vor all den Jahren geschossen habe, wirklich tot ist: Ich muss mit zwei Menschen sprechen, mit denen ich seitdem kaum Kontakt hatte. Zwei Menschen, die an dem Tag dabei waren, als die Gewalt mein Leben für immer veränderte. Dem Tag, als ein vierzehnjähriges Amisch-Mädchen die Schrotflinte ihres Vaters nahm und einen Mann tötete. Oder vielleicht doch nicht?