15. Kapitel

Es ist drei Uhr nachmittags, als ich die Huffman-Farm verlasse. Ich fühle mich, als hätte ich den Morgen in der Hölle verbracht. Die drei Stunden am Tatort haben mir total zugesetzt. Von unterwegs rufe ich Lois an. Sie klingt gestresst. »Die Presse rennt uns die Tür ein, Chief. Ich schwöre, mir stehen die Haare zu Berge.«

Ich sage ihr nicht, dass sicher noch mehr auf dem Weg sind. »Ich möchte, dass Sie eine Pressekonferenz organisieren.«

»Sie wollen noch mehr von denen hier haben?«

»Sie haben doch sicher auch schon gehört, dass man die Feinde um sich scharen soll.«

»Sie sind ’ne echte Masochistin.«

»Wir nehmen das Highschool-Auditorium. Sechs Uhr.«

»Ich kümmere mich drum.«

»Rufen Sie alle meine Officer an und sagen Sie ihnen, wir treffen uns um vier Uhr. In dem Raum, den Sie dafür eingerichtet haben. Das wird unsere Kommandozentrale.« Ich nenne die Namen aller Mitglieder meiner kleinen Truppe, einschließlich ihren. »Benachrichtigen Sie auch Detrick und Tomasetti.«

»Den Tomasetti, der wie ein Mafioso aussieht?«

Ihr Kommentar entlockt mir ein Lächeln. »Und überprüfen Sie, ob es Vermisstenanzeigen gibt. Weiblich, weiß, zwanzig bis dreißig Jahre alt, blond. Fangen Sie mit den fünf Countys an. Wenn da nichts ist, beziehen Sie Columbus, Wheeling, Massillon, Canton, Newark, Zanesville …«

»Nicht so schnell.«

»… Steubenville mit ein. Fragen Sie jeweils bei der Bezirks-und bei der städtischen Behörde nach.«

»Mache ich.«

»Stellen Sie mich zu T. J. durch, ja?«

Es klickt in der Leitung, und kurz darauf meldet sich T. J. »Hallo, Chief.«

»Haben Sie die Aussagen der Teenager?«

»Lois tippt sie gerade.«

»Gibt’s schon was über Patrick Ewell?« Ewell ist der Mann, der die Kondome im Super Vale Grocery bar bezahlt hatte.

»Ich hab ihn überprüft: Ewell, Patrick Henry. Sechsunddreißig Jahre alt. Wohnt mit seiner Frau Martha und seinen zwei Teenagern in der Parkersburg Road. Keine Eintragung im Polizeiregister, keine Festnahmen, nicht mal ’n Strafzettel für zu schnelles Fahren.« Die Tonlage von T. J.’s Stimme verändert sich. »Aber jetzt kommt’s: Er arbeitet im Schlachthof.«

Es ist eine dürftige Spur, aber in meiner Verzweiflung gehe ich allem nach. »Finden Sie heraus, was er dort arbeitet. Und auch, ob er Samstagabend im Brass Rail war.«

»Wird gemacht.«

Ich würde lieber selber mit Ewell reden, aber zuerst muss ich die Identität des zweiten Opfers herausfinden. »Überprüfen Sie, ob es eine Verbindung zwischen Ewell und Amanda Horner gibt.«

»Okay.«

Ich denke darüber nach, was wir von Ewell wissen. »Warum kauft ein verheirateter Mann mit zwei großen Kindern Kondome?«

»Na ja, hm … zur Verhütung?«

»Man sollte meinen, dass ein Paar, das so lange verheiratet ist, bessere Methoden hat.«

T. J. räuspert sich. Dass ein vierundzwanzig Jahre alter Mann bei so einem Gespräch verlegen wird, gibt mir Hoffnung, dass die Welt noch nicht ganz so verkommen ist, wie es mir gerade vorkommt. »Danke, T. J.«

»Nicht der Rede wert.«

Als ich auf den Parkplatz vom Pomerene Hospital einbiege, fühle ich mich schon fast wieder wie ein menschliches Wesen. Ich parke in der Nähe des Eingangs in der zweiten Reihe und eile zur Drehtür, weil mir Graupeln auf Kopf und Schulter trommeln. Die Rothaarige am Informationsschalter beäugt mich etwas zu interessiert. Im Vorbeigehen schenke ich ihr ein ziemlich nettes Lächeln, doch sie ignoriert es und wendet sich wieder ihrem Computer zu.

Im Kellergeschoss des Krankenhauses ist es ruhig und nicht so hell wie in den oberen Stockwerken. Meine Stiefelschritte klingen dumpf auf dem gefliesten Boden, als ich das gelbschwarze Symbol für Biogefährdung passiere, durch mehrere Schwingtüren gehe und schließlich zu Doc Coblentz komme, der in seinem Büro am Schreibtisch sitzt. »Doc?«

»Ah, Chief Burkholder. Ich habe Sie erwartet.« Er kommt in seinem weißen Laborkittel und der marineblauen Hose auf mich zu. »Wissen Sie schon, wer die Tote ist?«

»Wir überprüfen gerade Vermisstenanzeigen.« Ich atme tief ein, versuche, mich auf das vorzubereiten, was gleich kommt. »Gibt es schon einen ersten Autopsiebericht?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich habe sie gesäubert und gerade die Voruntersuchung abgeschlossen. Kommen Sie mit.«

Dazu habe ich zwar gar keine Lust, aber ich muss diese junge Frau identifizieren. Irgendwo da draußen gibt es Menschen, die ihr nahestehen, die sich Sorgen machen. Vielleicht hat sie Kinder. Menschen, deren Leben sich durch ihren Tod unwiderruflich verändert.

Ich gehe zuerst zu der Nische, hänge meine Jacke auf und ziehe die Schutzkleidung über. Als ich zurückkomme, erwartet mich der Doktor bereits. »Die Schnitte auf ihrem Unterleib scheinen die römische Zahl XXII zu sein.«

»Nach Eintritt des Todes?«

»Vor Eintritt des Todes.« Wir passieren die zweite Schwingtür und kommen in den grau gekachelten Raum, der mir inzwischen verhasst ist.

Entlang der hinteren Wand befinden sich drei stählerne Seziertische, ein vierter steht unter dem grellen Licht einer großen Deckenlampe. Ich erkenne die menschliche Silhouette unter dem blauen Tuch und atme tief durch.

Doc Coblentz nimmt das Klemmbrett von der Ablage, zieht einen Stift aus der Brusttasche seines Laborkittels, sieht durch den Leseteil seiner Bifokalbrille, notiert etwas auf dem Blatt und legt das Brett zurück auf die Ablage. »Ich bin seit fast zwanzig Jahren Arzt, und nun seit acht Jahren Coroner. Das hier ist das Beunruhigendste, was ich je gesehen habe.«

Behutsam zieht er das Tuch weg. Beim Anblick der bräunlichgrünen Haut trete ich bestürzt einen Schritt zurück. Ihr Unterkiefer hängt runter und offenbart so die Zunge im Mundinneren. Die Wunde an ihrem Hals gleicht einem schwarzen, aufklaffenden Schlund.

Mein Blick wird angezogen von der römischen Zahl auf ihrem Unterleib. Die Schnitte sind ungelenk, aber die Ähnlichkeit mit der Wunde auf Amanda Horners Körper ist unverkennbar. »Todesursache?«

»Wie gehabt: Ausblutung. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten und sie ist verblutet.«

Ich muss sie mir genauer ansehen, ihre Haare, ihre Fingernägel, ihre Zehen – alles was hilft, um sie zu identifizieren. Doch meine Füße weigern sich, näher heranzutreten.

»Er hat sie vergewaltigt, auch anal.«

»DNA

»Ich habe Abstriche gemacht, aber es gab keinerlei Flüssigkeit.«

»Er hat ein Kondom benutzt?«

»Wahrscheinlich. Ich weiß mehr, wenn die Ergebnisse vorliegen.« Der Arzt stößt einen Seufzer aus. »Er hat das Mädchen gefoltert, Kate. Sehen Sie sich das hier an.«

Er geht um den Seziertisch herum und holt vom Unterschrank ein rostfreies Tablett so groß wie ein Backblech. »Das war in ihrem After.«

Ich kann mich nicht überwinden, einen Blick auf das Ding zu werfen. Ich kann nicht mal dem Doktor in die Augen sehen, senke nur den Kopf und reibe mir die schmerzende Stelle zwischen den Augen. »Nach Eintritt des Todes?«

»Davor.«

Ich atme tief durch und zwinge mich, auf das Tablett zu sehen. Der Gegenstand ist ein Metallrohr, ungefähr eineinhalb Zentimeter Durchmesser und zwanzig Zentimeter lang. An einem Ende ist ein winziger Ösenhaken befestigt, das andere läuft spitz zu. Es sieht selbst gemacht aus und ist offensichtlich mit irgendetwas zurechtgeschliffen worden.

»Vergewaltigung mit einem Fremdkörper?« Ich frage mich, ob der Mörder vielleicht impotent ist. Eventuell war er bei einem Urologen wegen Erektionsstörungen. Ich nehme mir vor, das zu überprüfen.

»Das war meines Erachtens nicht der Grund, warum und wie er den Gegenstand benutzt hat.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich glaube, er ist Bestandteil eines selbst gebastelten Stromkreises.« Der Doktor nimmt das Teil in die Hand. »Das hier ist Kupfer, sehen Sie?« Er fährt mit dem durch Handschuhe geschützten Finger das Rohr entlang. »Als ich auf der Highschool war, habe ich stundenweise bei einem Elektriker gearbeitet. Kupfer ist einer der besten Stromleiter, die es gibt.«

Ich kenne mich mit Strom kaum aus. Aber ich weiß, dass er als Folterinstrument benutzt wird. Auf der Polizeiakademie hatte ich einmal gelesen, dass mexikanische Drogenkartelle mit Strom foltern, um Exempel zu statuieren.

Die Augen des Doktors drücken die gleiche Fassungslosigkeit und das Entsetzen aus, die auch mir den Hals zuschnüren. »Der Mörder hat also möglicherweise Erfahrung mit Elektrizität. Oder ist zumindest ein Bastler.« Das ist ein viel zu nettes Wort für einen Mann, der ein Folterinstrument gebaut hat. Väter basteln sonntagnachmittags in der Garage. Monster basteln nicht.

»Das erklärt auch die Brandwunden, die Amanda Horner erlitten hat.«

»Ja.«

»Warum hat er es zurückgelassen«, frage ich mich laut. Doch ich kenne die Antwort bereits: Er ist stolz auf sein grausames Instrument. Er wollte, dass wir es finden.

Der Doktor schüttelt den Kopf. »Das ist Ihr Gebiet, Kate, nicht meins. Ich kann nur definitiv sagen, dass er sie damit gefoltert hat und dass es wahrscheinlich elektrisch geladen war.«

Eine ganze Minute lang sind nur die surrenden Neonlampen und die brummenden Kühlaggregate zu hören. Ich versuche, meine Gedanken zu sammeln, meine Fragen zu formulieren, doch mein Verstand weigert sich. »Ich nehme das ins Täterprofil mit auf.«

Ich starre auf die tiefen Furchen an ihren Gelenken. Den aufgeblähten Unterleib. Ihre Hände und Füße. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie zu Lebzeiten ausgesehen hat. Da fällt mir plötzlich auf, dass sie weder Finger-noch Fußnägel lackiert hat. Diese Frau ist vollkommen ungeschminkt. Keine Strähnchen in den Haaren, keine Löcher in den Ohrläppchen. Kein Schmuck.

Sie ist schlicht.

· · ·

Als ich am Polizeirevier eintreffe, säumen schon ein Dutzend Fahrzeuge die Straße. Auf meinem reservierten Platz steht ein Übertragungswagen von ProNews16, so dass ich gezwungen bin, einen halben Block entfernt zu parken. Auf dem Weg ins Gebäude klemme ich eine Vorladung unter den Scheibenwischer des Wagens.

Drinnen geht es zu wie im Irrenhaus. Lois und Mona sind beide in der Zentrale, wo sie versuchen, die pausenlos klingelnde Telefonanlage in den Griff zu bekommen. T. J. sitzt mit dem Rücken zum Raum an seinem Arbeitsplatz, den Telefonhörer am Ohr. Glock hämmert in seiner Box auf die Computertastatur ein. Ich frage mich, wo Skid und Pickles stecken, bis mir klar wird, dass sie wahrscheinlich noch auf der Huffman-Farm sind.

Steve Ressler entdeckt mich und kommt mit hochroten Wangen auf mich zu. »Stimmt es, dass eine zweite Tote gefunden wurde?«

»Ja«, antworte ich im Gehen.

Er läuft neben mir her. »Wer ist das Opfer? Ist sie schon identifiziert? Ist die Familie benachrichtigt? Ist es der gleiche Mörder?«

»Ich muss arbeiten, Steve«, sage ich. »Die Pressekonferenz ist um achtzehn Uhr.«

Er bombardiert mich mit einem Dutzend weiterer Fragen, doch ich ignoriere sie alle und laufe weiter in Richtung meines Büros.

»Chief!« Monas Haare sind noch wilder als sonst. Der Eyeliner ist etwas zu dick geraten, passt aber zu dem rosa Lidschatten und dem knallroten Lippenstift. Sie ist sozusagen kameratauglich.

»Wie lange geht das schon so?«, frage ich.

»Ein paar Stunden. Ich bin geblieben, um Lois zu helfen.«

»Ich weiß das zu schätzen.« Von der anderen Seite des Raums wirft Steve Ressler mir einen bösen Blick zu. »Benehmen die sich wenigstens anständig?«

»Ressler ist ein penetranter Arsch. Norm Johnston ist jenseits von Gut und Böse.«

»Sagen Sie allen, die fragen, dass es heute um achtzehn Uhr eine Pressekonferenz im Highschool-Auditorium gibt.«

»Geht klar.«

In meinem Büro stelle ich den Computer an und besorge mir einen Kaffee, während er hochfährt. Mein Telefon klingelt, und ich sehe, dass alle vier Leitungen blinken. Ich ignoriere es und rufe Lois an.

»Haben Sie die Vermisstenanzeigen überprüft?«, frage ich.

»Da war nichts, Chief.«

Meine Gedanken wandern zu der jungen Frau in der Leichenhalle. Ich sollte überrascht sein, dass es noch keine Vermisstenanzeige gibt, bin es aber nicht. »Erinnern Sie die anderen an unser Meeting um vier.«

»Also das, das vor zehn Minuten anfangen sollte.«

»Und schicken Sie mir Glock her, ja?«

»Klar, mach ich.«

Ich denke noch über das zweite Opfer nach, als Glock eintritt. »Was gibt’s?«

»Schließen Sie die Tür.«

Er greift hinter sich und stößt die Tür ins Schloss.

»Ich möchte, dass Sie alles stehen und liegen lassen«, beginne ich.

Er geht zum Besucherstuhl und setzt sich. »In Ordnung.«

»Was ich jetzt sage, muss unter uns bleiben. Niemand darf wissen, was Sie machen oder warum. Und ich kann Ihnen nicht alles verraten.«

»Dann sagen Sie mir, was Sie können, und ich kümmere mich drum.«

Ich bin heilfroh, dass er gewillt ist, mir blind zu vertrauen. »Ich möchte, dass Sie alles, wirklich alles über einen Mann namens Daniel Lapp herausfinden.«

»Wer ist er?«

»Er ist von hier. Amisch. Seit sechzehn Jahren hat ihn niemand mehr gesehen.«

Die Bedeutung der Zeitspanne entgeht ihm nicht, und zum ersten Mal wirkt Glock überrascht. »Er ist amisch?«

»Damals haben die Leute geglaubt, er hätte das amische Leben hinter sich gelassen.«

»Hat er Familie hier?«

Ich nicke. »Einen Bruder. Ich habe schon mit ihm gesprochen.«

»Hat er helfen können?«

»Nein.«

Glock sieht mich ein wenig zu eindringlich an. »Kann ich erfahren, warum wir uns für ihn interessieren?«

»Nein. Sie müssen mir einfach vertrauen, ja?«

Er nickt. »Okay. Mal sehn, was ich ausgraben kann.«

Einfach so. Keine Fragen. Kein Vorwurf, im Dunkeln gelassen zu werden. Ich habe ein wenig Gewissensbisse. Vielleicht weil ich dieses Vertrauen nicht verdiene?

»Hat das Priorität?«, fragt er kurz darauf.

»Höchste«, erwidere ich und hoffe inständig, er findet das, was ich nicht finden konnte.