14. Kapitel

Sterben ist schlimm, doch Sterben von Mörderhand ist schlimmer. Ganz gleich, wie oft ich das gesehen habe, trifft mich seine Hässlichkeit und Sinnlosigkeit mit elementarer Gewalt. Ich rase mit hundertdreißig über den Highway, doch als ich die schneeglatte Thigpen Road erreiche, nehme ich den Fuß vom Gas. Die Huffman-Farm liegt am Ende eines kurzen Feldwegs, umgeben von nackten Bäumen, deren Äste sie wie knochige Finger umschließen.

Ich lenke den Explorer in die Einfahrt und folge den Reifenspuren hinters Haus.

Robbie Stedt und ein junges, mir unbekanntes Mädchen im Teenageralter sitzen aneinandergedrängt in einem Pick-up.

Ich parke den Wagen und öffne die Tür. Die Jugendlichen verlassen ihr Auto und kommen angelaufen.

»Was ist passiert?«

Stedt ist kreidebleich. Er hat Tränen in den Augen. Einen halben Meter vor mir bleibt er stehen, und ich rieche Erbrochenes. »Da drinnen ist eine Tote.«

Mein Blick wandert zu dem Mädchen. Ihre roten Wangen sind mit Wimperntusche verschmiert. Sie sieht wesentlich tougher aus als Robbie Stedt. »Wie heißt du?«, frage ich sie.

»J… Jess Hardiman.«

»Ist sonst noch jemand im Haus?« Ich ziehe die .38er aus dem Holster.

»Nur die … Tote.«

»Wo?«

»Schl… Schlafzimmer.«

»Bleibt hier. Wenn ihr jemanden seht oder Angst bekommt, steigt in den Pick-up und hupt, okay?«

Beide nicken.

Ich laufe zur Hintertür und stoße sie auf. Der Geruch von Tod und Marihuana schlägt mir entgegen. Aus dem Radio auf der Küchenablage dröhnt ein alter Led-Zeppelin-Song. Meine Nerven kribbeln wie Würmer unter der Haut. Die Angst durchströmt mich, als ich das Wohnzimmer betrete. Ich glaube zwar nicht, dass noch jemand im Haus ist, fürchte mich aber vor dem, was mich erwartet.

Ich gehe weiter zum Flur, der eng und dunkel ist. Hier riecht es strenger, nach Blut, Kot und Verwesung. Ich umgehe eine Pfütze von Erbrochenem. Die Schlafzimmertür links von mir steht offen. Ich will nicht hineinsehen, kann aber nicht anders, und eine entsetzlich aufgedunsene Leiche kommt in mein Blickfeld. Braune, bis zum Zerreißen gespannte Haut. Schlaff herabhängendes Haar. Brüste runzlig wie Dörrobst. Schwarze Füße, am Deckenbalken festgekettet. Eine feuchte, schwarze Zunge, die zwischen geschwollenen Lippen hervorquillt.

Ein Laut entfährt meinem Mund, als ich rückwärts in den Flur stolpere. Mein Atem ist schnell und flach, mein Magen ein fester Knoten. Ich schmecke bittere Galle. Plötzlich sind Schritte hinter mir. Ich wirbele herum, die Pistole im Anschlag.

Glock bleibt stehen, hebt langsam die Hände. »Herr im Himmel, ich bin’s.«

»O Mann, beinahe hätte ich Sie umgepustet.«

Er blickt in den Flur. »Haben Sie das Haus gecheckt?«

Ich schüttele den Kopf, kann meine Stimme nicht finden und bin verflucht nahe am Kotzen.

Er geht an mir vorbei und sieht ins Schlafzimmer. »Heilige Scheiße.«

Während Glock den Rest des Hauses absucht, versuche ich mühsam, mich wieder zu fangen. Als er schließlich zurück in den Flur kommt, ist mein Polizeipanzer wieder intakt.

»Alles sauber«, sagt er.

Mir gefällt nicht, wie er mich ansieht, als würde ich gleich durchdrehen. »Verdammt noch mal, Glock, ich hätte Detrick um Unterstützung bitten sollen«, bringe ich mühsam hervor. »Ich hätte eine SoKo bilden sollen.«

»Damit hätten Sie das hier auch nicht verhindert. Sie ist schon eine Weile hier. Hinterher ist man immer schlauer.«

Als Glock ins Funkgerät spricht, gehe ich in das Wohnzimmer. Durchs Fenster sehe ich Robbie Stedt und seine Freundin, die immer noch an derselben Stelle stehen wie vorhin.

Glock stellt sich neben mich. »Pickles und Skid sind auf dem Weg.«

Ich deute mit dem Kopf zu den Teenagern. »Wir müssen mit ihnen reden. Ich übernehme den Jungen.«

»Die Kleine sieht tough aus.«

»Sie sind tougher.«

»Ich bin eben ein Marine«, sagt er, als erkläre das alles.

Ich gehe durch die Hintertür hinaus auf Robbie zu. Die Luft ist von unglaublicher Frische, und ich trinke sie wie Wasser. Robbie sieht mich kurz an, dann senkt er den Blick. »Komm her«, sage ich.

Glock geht mit dem Mädchen zum Streifenwagen. Robbie sieht hinter ihnen her, plötzlich verängstigt wie ein kleiner Junge.

»Ist alles okay?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »So was hab ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen.«

Ich zeige auf den Explorer. »Komm, wir setzen uns ins Warme.«

Er wirft einen letzten Blick auf seine Freundin und folgt mir dann zum Wagen, wo er sich auf den Beifahrersitz setzt, während ich mich hinters Lenkrad schiebe. »Willst du eine rauchen?«, frage ich.

»Ich rauche nicht.«

Er holt Luft. »Jedenfalls keine Zigaretten.«

»Über Pot sehe ich ausnahmsweise mal hinweg.«

»Danke.«

Ich lasse den Motor an und drehe die Heizung auf. »Was habt ihr hier draußen gemacht?«

»Nichts.«

Ich suche Blickkontakt mit ihm, doch er wendet den Kopf ab. »Du hast nichts zu befürchten«, sage ich. »Ich muss nur wissen, wie ihr die Tote gefunden habt.«

Robbie, fix und fertig, schüttelt den Kopf. »Wir haben die Schule geschwänzt. Wollten nur ein bisschen hier rumhängen.« Er zuckt die Schulter. »Ich fasse es einfach nicht, dass das passiert ist.«

»War jemand hier, als ihr ankamt?«, frage ich.

»Nein.«

»Habt ihr was angefasst? Rumgeschoben?«

»Wir sind nur reingegangen, haben Bier getrunken. Dann haben wir das … Ding im Schlafzimmer gesehen. Himmel …«

Die beiden Jugendlichen haben mit der Tat nichts zu tun, so viel ist klar. »Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

Er schüttelt den Kopf. »Mein Dad bringt mich um.«

»Ich überlasse es dir, es ihnen zu erklären.« An seinem Gürtel steckt ein Mobiltelefon. »Du musst sie jetzt anrufen.«

Er stößt einen Seufzer aus und zieht das Telefon aus der Hülle.

Ich rufe Doc Coblentz an, dessen Nummer ich inzwischen auswendig kenne. »Wir brauchen Sie auf der Huffman-Farm an der Thigpen Road«, erkläre ich ohne Umschweife.

»Sagen Sie mir, dass es sich um einen Autounfall oder Herzinfarkt handelt.«

»Ich wünschte, es wäre so.«

»Großer Gott.« Ein tiefer Seufzer dringt an mein Ohr. »Ich bin in zehn Minuten da.«

· · ·

Ich stehe mit Doc Coblentz und Glock im Schlafzimmer des alten Hauses, wo wir versuchen, die Überreste der Frau nicht anzustarren, die vom Deckenbalken hängt. Coblentz greift in seine Arzttasche und holt ein verschweißtes Päckchen Mentholsalbe heraus. »Hier, das hilft.«

Ich reiße es auf und tupfe mir etwas davon unter die Nase, halte es Glock hin, doch er schüttelt den Kopf. »Meine Mutter hat mir das Zeug immer als Kind gegeben. Ich kann den Geruch nicht ausstehen.«

Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht gelacht, doch heute Morgen knicke ich nur das obere Ende des Päckchens um und stecke es in die Jackentasche.

Wir haben Plastikhüllen über die Schuhe gestreift und Plastikschürzen umgebunden, um den Tatort nicht zu kontaminieren, aber auch, um uns vor Infektionen zu schützen. »Dem vielen Blut nach zu urteilen«, beginnt der Arzt, »würde ich sagen, er hat sie hier umgebracht.«

»Warum hat er seine Vorgehensweise geändert?«, frage ich mich laut.

Glock hat eine Theorie auf Lager. »Maximale Wirkung.«

Der Doktor und ich sehen ihn an. Ich bin keine Expertin für Serienmörder, doch ich stimme mit Glock überein. Wer immer das getan hat, will Angst und Schrecken verbreiten. Er will uns zeigen, zu welchen Blutbädern er fähig ist. Ich habe gelesen, dass viele Serienmörder erwischt werden wollen. Nicht weil sie gern im Gefängnis sitzen, sondern weil sie so das Urheberrecht an ihren Werken beanspruchen können.

»Er wusste, dass er hier ungestört ist«, sage ich.

»Der nächste Nachbar ist acht Meilen weit weg«, fügt Glock hinzu.

Ich will die Leiche nicht ansehen, doch mein Blick wird wie magisch von ihr angezogen. Die Verwesung hat eingesetzt. In ihrem Körper haben sich Gase gebildet, die ihn fast bis zur Unkenntlichkeit aufblähen. Die Haut ist größtenteils schwarz, mit kleinen grünen Flecken. Doch das Gesicht ist am schlimmsten. Die Augen sind vollkommen verschwunden, die feuchte, schwarze Zunge hängt zwischen abgebrochenen Zähnen heraus.

»Wir brauchen Fotos, bevor wir sie abhängen«, sage ich zu Glock.

»Ich hole die Polaroid.« Er verschwindet ein wenig zu hastig.

Vor zehn Minuten sind die Eltern der beiden Teenager angekommen, um ihre Kinder abzuholen. Robbie Stedts Vater wollte sich Zutritt ins Haus verschaffen, doch glücklicherweise war Glock da, um ihn aufzuhalten. Ich erklärte ihm, dass es sich hier um einen Tatort handelt und es hilfreich wäre, wenn er seinen Sohn aufs Polizeirevier brächte, wo T. J. ihm Fingerabdrücke abnehmen und seine Aussage protokollieren könnte. Falls wir hier doch Fingerabdrücke finden, was ich bezweifle, können wir die beiden wenigstens ausschließen.

Doch verängstigte Eltern und traumatisierte Jugendliche sind mein geringstes Problem. Eine Viertelstunde zuvor hatte ich das Sheriffbüro von Holmes County angerufen und offiziell um Amtshilfe ersucht. Ich bin sicher, dass der Anzugmann bald hier eintreffen wird, und spüre schon jetzt, wie mir die Kontrolle über den Fall entgleitet.

Skid und Pickles sind draußen und sichern den Ort mit Absperrband. Wenn sie damit fertig sind, werden sie die Scheunen und Nebengebäude inspizieren sowie nach Schuhabdrücken und Reifenspuren suchen. Aber bei dem Schnee, der jetzt in dicken Flocken vom Himmel fällt, stehen die Chancen schlecht, dass sie irgendwas Brauchbares finden.

Glock kommt mit der Polaroidkamera zurück. Ein Gemisch von Schnee und Graupel klatscht an die Fenster, als er zu knipsen beginnt. Das Surren des winzigen Motors scheint übermäßig laut in der Stille des eiskalten Hauses. Ich trage mehrere Schichten Kleidung und lange Unterhosen, doch ich friere bis auf die Knochen.

»Was glauben Sie, wie lange sie schon hier ist?«, frage ich.

Doc Coblentz schüttelt den Kopf. »Schwer zu sagen, Kate. Die Temperatur ist ein wichtiger Faktor.«

»Sie sieht steifgefroren aus.«

»Das trifft für jetzt zu. Aber wenn Sie sich erinnern, vor zwei Wochen gab es Tage, an denen die Temperatur weit über dem Gefrierpunkt lag.«

Das stimmt. Fast eine Woche lang hatten wir über zehn Grad, bevor eine arktische Kaltfront Einzug hielt. »Dann ist sie also schon eine ganze Weile hier.«

»Ich würde sagen, dass diese Leiche die dritte Verwesungsstufe erreicht hat. Es gibt eine starke Gasaufblähung. Die anfänglich grünliche Färbung geht bereits in Schwarz über. Dieser Abschnitt dauert normalerweise vier bis zehn Tage.« Er zuckt die Schultern. »Aber bei den derzeitigen Temperaturen muss der zeitliche Rahmen wesentlich weiter gesteckt werden. Zudem gibt es in dieser Jahreszeit nur wenige oder keine Aktivitäten von Insekten, was ebenfalls eine große Rolle beim Verwesungsprozess spielt.«

»Was halten Sie für am wahrscheinlichsten?«

»Zwei Wochen, vielleicht drei.«

Zwei Frauen in drei Wochen, denke ich nur. Dass ein Mörder aus dem Nichts kommt und in so einem Tempo tötet, ist selten. Wodurch wurde die Eskalation ausgelöst?

Ich trete näher an die Tote heran. Ihre Haare sind blutverklebt. Irgendwann hatte sich ihr Darm entleert, und Kot war ihren Rücken hinuntergelaufen und auf den Boden gefallen. Mein Herz hämmert und mein Kopf dröhnt. »War sie noch am Leben, als er sie aufgehängt hat?«

»Dem vielen Blut auf dem Boden nach zu urteilen, hat ihr Herz noch geschlagen.«

»Was ist mit den Wunden?«, frage ich.

Der Doktor sieht Glock an. »Haben Sie Fotos von dem Blut auf dem Boden gemacht?«

Glock nickt. »Ja.«

Coblentz tritt in den mit Blut kontaminierten Bereich, hinterlässt einen Schuhabdruck. Obwohl er zwei Paar Latexhandschuhe trägt, zucke ich zusammen, als er die Tote am Kiefer anfasst, um die Wunde zu betrachten. »Ich werde mehr wissen, wenn ich sie im Leichenschauhaus habe, aber auf den ersten Blick sieht die Wunde hier der des ersten Opfers sehr ähnlich. Sehen Sie das? Sie ist kurz und tief, mit glatten Rändern. Sieht nicht so aus, als hätte die Messerschneide Zähne gehabt.«

Ich versuche, mir die Tote mit dem unbeteiligten Blick einer Polizistin anzusehen. Das bin ich der jungen Frau schuldig. Dieser Stadt. Und mir selbst. Aber meine Gefühle und der Ekel, den ich verspüre, sind wie ein wildes Tier, das an der Käfigtür rüttelt.

In düsterem Schweigen suchen wir den Tatort eine Stunde lang nach Spuren ab. Ich hülle gerade die Hände des Opfers in Plastiktüten, als ich ein Geräusch an der Tür wahrnehme. Ich blicke auf und sehe Sheriff Nathan Detrick im Zimmer stehen. Er sieht aus wie vom Blitz getroffen.

»Allmächtiger Gott«, sagt er mit Blick auf die Leiche.

In meinen zwei Jahren als Chief of Police bin ich ihm erst einmal kurz begegnet.

Er ist ein kräftiger Mann von ungefähr fünfzig Jahren, stemmt Gewichte und joggt wahrscheinlich auch. Aber selbst sein Körper, der früher sicher den Neid aller Männer über vierzig geweckt hat, die sich in Bodybuilding-Läden Muskeln angezüchtet haben, zeigt Spuren des Alters. Er hat eine Glatze, was ihm gut steht. Ich ertappe mich jedoch bei der Frage, ob er den Schädel rasiert, um die kahlen Stellen zu vertuschen, oder ob er bereits von Natur aus glatzköpfig ist.

Er lässt mir keine Zeit, darüber nachzugrübeln. »Da haben Sie ja einen Riesenschlamassel am Hals.«

Ich ziehe die Latexhandschuhe aus, als er mit ausgestreckter Hand auf mich zukommt. Obwohl ich gerade eine grausige Arbeit verrichte, schüttelt er, ohne zu zögern, meine Hand. »Nathan Detrick zu Ihren Diensten.«

Er hat einen festen, aber nicht schmerzhaften Händedruck, was ich ihm hoch anrechne. Seine Augen sind stahlblau, sein Blick ist offen und direkt. Ich empfinde seine Gegenwart als beruhigend, was mich überrascht, und zum ersten Mal wird mir klar, dass ich die Last dieses Falles nicht alleine tragen will.

»Danke fürs Kommen.« Er scheint ein intelligenter Mann zu sein und ich sehe an seinen Augen, dass er mich abschätzt und sich ein Urteil bildet.

»Wir sind uns schon mal begegnet.« Er hört auf, meine Hand zu schütteln, lässt sie aber nicht los.

»Die Benefizveranstaltung im Fairlawn-Altersheim letzte Weihnachten«, erwidere ich.

»Natürlich. Jetzt fällt es mir wieder ein. Das Fleisch war zäh wie Leder.«

»Und der Weihnachtsmann betrunken.«

Er antwortet mit einem herzhaften Lachen. »Aber wir haben Geld für einen guten Zweck gesammelt, oder?«

Ich nicke, beschränke so unseren Smalltalk angesichts der Umstände auf ein Minimum.

Er lässt meine Hand los und wendet sich der Toten zu. »Ich habe Ihre Pressemitteilung gelesen. Ich kann es nicht fassen, der Schlächter ist zurück.«

»Die letzten Tage waren hart.«

»Wir sind froh, dass Sie uns angerufen haben.« Er senkt die Stimme. »Nur zu Ihrer Information. Dieser ganze Zuständigkeitenquatsch interessiert mich nicht. Das hier ist Ihr Baby.«

Ich frage mich, ob er das wirklich so meint – und ob der Anzugmensch vom BCI genauso denkt. »Das weiß ich zu schätzen.«

Es ist offensichtlich, warum dieser Mann bei seiner Kandidatur fürs Sheriffsamt haushoch gewonnen hat. Geradeheraus und charismatisch, besitzt er Führungsqualitäten, die ich bewundere. Ein großer Teddybär, der uns alle vor unserer eigenen Unfähigkeit rettet. Doch über die Jahre habe ich viele Arten von Gesetzeshütern kennengelernt und weiß, dass sich ein Teddy ganz schnell in einen menschenfressenden Grizzlybär verwandeln kann, wenn man ihn gegen den Strich bürstet. Erst letzte Woche hat mir T. J. erzählt, dass Detrick mitten in einem hässlichen Scheidungskrieg steckt. Außerdem geht das Gerücht um, er sei jähzornig.

»Ich brauche Hilfe, um sie runterzuholen«, meldet sich der Doktor.

Um am Tatort nicht übermäßig Spuren zu vernichten, habe ich angeordnet, dass nur Glock, ich, der Coroner und nun auch Detrick sich im Haus aufhalten dürfen. Deshalb müssen wir dem Doktor helfen, sie herunterzunehmen und in den Leichensack zu legen.

Doc Coblentz tritt ein paar Schritte von der Toten zurück, hinterlässt dickflüssige, ölige Spuren auf dem Boden. Ich hole die dreisprossige Aluminiumtrittleiter, die Glock mitgebracht hat, und obwohl meine Stiefel durch Plastikhüllen vor Blut geschützt sind, schaudert mir, als ich sie abstelle und dabei auf den verschmutzten Boden trete.

»Ich mache das.« Glock schiebt die Leiter näher zur Leiche und stellt sich auf die oberste Sprosse. »Wenn ihr sie anhebt und die Spannung von der Kette nehmt, kann ich sie abhängen.«

»Vorsicht«, sagt Doc Coblentz schnell. »Das Fleisch kann sich ablösen, passen Sie auf, dass sie Ihnen nicht aus den Händen gleitet.«

Ich zucke zusammen, als Detrick mir die Hand auf die Schulter legt. »Sie ist bestimmt schwer. Lassen Sie mich das machen.«

Ich will mich über ihn ärgern, ärgere mich aber mehr über mich selbst: Zum ersten Mal seit langem möchte ich zur Seite treten und einen anderen meinen Job machen lassen.

Doc Coblentz zeigt Detrick die Schutzkleidung. Nachdem er die Hüllen über die Schuhe gezogen, die Schürze um den Anorak gebunden und die Latexhandschuhe angezogen hat, nickt der Sheriff. Der Doktor steht auf einer Seite der Toten und Detrick auf der anderen, als Glock oben auf der Leiter nach dem Haken am Ende der Kette greift. »Hebt sie an«, sagt er.

Die beiden Männer hieven sie gleichzeitig hoch, Glock löst sie vom Haken, und sie legen die Tote behutsam auf den Boden, wobei ihr Kopf zur Seite rollt und schwarze Flüssigkeit über den Holzboden läuft. Am liebsten würde ich die Augen schließen, um dem Anblick zu entfliehen. Stattdessen hole ich die Kamera und mache Fotos. Irgendwie verschafft mir die Linse den Abstand, den ich jetzt brauche, und so nehme ich den Deckenbalken und die Kette auf.

Dann lasse ich die Kamera sinken. Keiner spricht. Alle Blicke sind auf die Tote gerichtet. Mir ist kalt, doch mein Rücken ist schweißnass. »Wir müssen die Kette eintüten.« Dass meine Stimme total normal klingt, überrascht alle, mich eingeschlossen.

Ich hole einen Müllbeutel aus der Kiste, die ich mitgebracht habe, halte ihn auf, und Glock legt die Kette hinein. »Wenn wir den Kettenhersteller rausbekommen«, sage ich, »finden wir vielleicht den Laden, in dem er sie gekauft hat.«

»Wahrscheinlich ist es das Beste, sie ans BCI-Labor zu schicken«, schlägt Detrick vor.

»Ja, denke ich auch.«

Auf der anderen Seite des Zimmers öffnet der Doktor den Reißverschluss des Leichensacks und klappt ihn auf. Er kommt zurück und geht neben der Toten in die Hocke, einen zutiefst sorgenvollen Ausdruck im Gesicht. »Sie hat Schnitte auf dem Unterleib. Wie die anderen.«

Meine Füße tragen mich näher heran. Ich hebe die Kamera und mache schnell hintereinander vier Fotos.

»Sieht wie die römische Zahl XXII aus«, sagt Glock.

»Er ist es«, flüstert Detrick. »Er ist zurück. Nach all den Jahren.«

Ich will fluchen und schreien, dass das unmöglich ist. Ich hab ihn erschossen. Er ist tot.

Doc Coblentz stößt einen Seufzer aus. »Helfen Sie mir, sie umzudrehen.«

Glock hockt sich neben ihn, legt beide Hände sanft, fast ehrfürchtig auf die Hüften der Frau. Der Doktor fasst sie an der Schulter und gemeinsam drehen sie sie auf den Bauch. Ich mache mehr Fotos.

»Herr im Himmel.«

Der Schock in der Stimme des Arztes reißt mich aus meinen Gedanken. Ich lasse die Kamera sinken, wobei ich ein schmales Objekt zwischen den Gesäßbacken der Frau sehe.

Detrick tritt zurück. »Gütiger Gott.«

Glock erhebt sich zu voller Größe.

Coblentz berührt das Objekt, das zuvor nicht sichtbar war, zieht es aber nicht heraus. »Irgendein Fremdkörper.«

Ich werde von Ekel geschüttelt.

»Lassen Sie uns das arme Kind wegbringen.« Er legt den Sack neben die tote Frau, streicht ihn glatt und rollt sie mit Glocks Hilfe hinein.

Als er den Reißverschluss zuzieht, bricht etwas in mir los. Ich bin normalerweise nicht zimperlich, aber mein Magen rebelliert heftig. Mir ist bewusst, dass mich alle anstarren, als ich Latexhandschuhe, Schuhhüllen und Schürze ausziehe und in den Sondermüllsack werfe, den jemand an den Türknauf gehängt hat. Ich spüre Detricks Blick, eile aber, ohne ihn anzusehen, an ihm vorbei aus dem Zimmer. Mir wird schwarz vor Augen, als ich den Flur entlang in die Küche taumele. Ich sehe John Tomasetti im langen schwarzen Mantel und den gewienerten Schuhen auf der hinteren Veranda stehen. Innerlich fluchend stoße ich die Tür auf, er sieht mich merkwürdig an und sagt etwas, als ich an ihm vorbeieile, doch ich bin zu erschüttert, um ihn zu verstehen.

Kalte Luft beißt sich durch den Schweiß auf mein Gesicht. Vage nehme ich den Krankenwagen wahr, der mit laufendem Motor in der Einfahrt steht. Am Ende des Wegs befindet sich ein Übertragungswagen von ProNews16, dessen Abgase Wölkchen in der eisigen Luft bilden. Glocks Dienstwagen wird von einem Streifenwagen aus Holmes County flankiert. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, bis ich die Tür des Explorers aufreiße und mich hinters Lenkrad schiebe. Mein Atem geht stoßartig, ich möchte weinen, habe mir dieses Ventil aber schon vor Jahren versagt, so dass ich nicht mehr weinen kann. Ich habe heute noch nichts gegessen, doch die Magensäure kommt mir hoch, und ich stoße die Tür auf und übergebe mich in den Schnee.

Nach einer Weile lässt die Übelkeit nach. Ich ziehe die Tür zu, umfasse das Lenkrad und lege die Stirn auf beide Hände. Ein Klopfen an der Fensterscheibe erschreckt mich fast zu Tode. Der Anzugmann vom BCI steht neben dem Explorer, das Gesicht unergründlich wie ein Stein. Er ist der Letzte, mit dem ich jetzt reden will, aber wie es aussieht, habe ich keine andere Wahl.

Anstatt das Fenster runterzulassen, mache ich die Tür auf und zwinge ihn so einen Schritt zurück.

»Ist alles okay?«

»Klar. Kotzen macht mir Spaß.« Ich gleite vom Sitz und werfe die Tür zu. »Was glauben Sie denn?«

Er ist amüsiert, was mir total stinkt. Einen Moment lang sind nur die Graupel zu hören, die aufs Dach meines Wagens klopfen. Ich friere und zittere, und es kostet mich einige Mühe, nicht mit den Zähnen zu klappern.

»Sie bringen die Tote in die Leichenhalle«, sagt er. »Ich dachte, Sie wollen das vielleicht wissen.«

Ich nicke, finde meine Beherrschung wieder. »Danke.«

Er blickt über die Schulter zurück zu dem Nachrichtenauto. »Die Aasgeier riechen Blut.«

»Wenn die Meldung von dem zweiten Mord erst einmal durch den Äther rauscht, werden wir noch viel mehr davon zu sehen bekommen.«

»Vielleicht sollten Sie überlegen, eine Pressekonferenz zu geben. So können Sie bestimmen, wie Sie mit denen umgehen. Und Gerüchte sofort im Keim ersticken.«

Das ist eine gute Idee. Ich bin so sehr auf den Fall konzentriert, dass ich die Problematik mit den Medien völlig ignoriert habe. »Ich werde etwas in die Wege leiten.«

Er sieht mich mit dem typischen Böser-Bulle-Blick an, der bestimmt schon manchen bockigen Täter veranlasst hat, ihm das Herz auszuschütten. »Ich weiß, dass Sie mich nicht hier haben wollen –«

»Es hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun«, unterbreche ich ihn.

»Genau das Gleiche haben die über Sie gesagt.« Er sieht wieder amüsiert aus. »Diplomatie stinkt, oder?«

»Sieht so aus.«

Er starrt mich noch immer an, und zwar mit einer solchen Intensität, dass mir langsam unwohl wird. »Ich bin ein ziemlich guter Polizist«, sagt er. »Und ich bin hier. Also warum nutzen Sie das nicht aus? Vielleicht kann ich sogar helfen.«

Er hat natürlich recht. Aber die Vorstellung, dass dieser Mann seine Nase in den Fall steckt, lässt mich schaudern. Ich schweige, und das ist alles, was er braucht.

Tomasetti wirft mir einen letzten Blick zu, dreht sich um und geht zu dem schwarzen Tahoe, der an der Straße parkt. Während ich ihm hinterhersehe, klingen seine Worte in meinen Ohren nach. Ich bin ein ziemlich guter Polizist. Ich frage mich, ob er gut genug ist, einen sechzehn Jahre alten Fall aufzuklären – mit all den Geheimnissen, die er birgt.