31. Kapitel

Das Klingeln des Telefons reißt mich aus einem unruhigen Schlaf. Ich taste auf dem Nachttisch nach dem Hörer und drücke ihn ans Ohr, noch bevor ich ganz wach bin. »Hallo?«

»Ist dort Chief Kate Burkholder?«

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich noch immer Polizeichefin, und jemand will mir berichten, dass es im Fall einen Durchbruch gegeben hat. Doch schon im nächsten Moment erinnere ich mich, dass ich entlassen bin. Mir fällt wieder ein, dass Jonas Hershberger verhaftet wurde. Und dass ich mit John Tomasetti geschlafen habe.

Ich setze mich auf. »Ja, am Apparat.«

»Hier ist Teresa Cardona. Ich arbeite beim BCI in der Abteilung Verbrechensanalyse. John Tomasetti bat mich, Ihnen den letzten VICAP-Bericht zu schicken.«

Ich spüre Johns Abwesenheit. Das Haus fühlt sich wieder genauso leer an wie sonst. Ich schiebe die Beine über die Bettkante und greife nach dem Morgenmantel. »Ja, den würde ich gern sehen.«

»Ich habe Ihre E-Mail-Adresse nicht.«

Ich nenne sie ihr. »Wie schnell können Sie ihn schicken?«

»Wenn Sie wollen, sofort.«

»Ja, sehr gern. Danke.« Ich lege auf, bin gleichzeitig freudig erregt und niedergeschlagen. Endlich bekomme ich das Resultat des Abgleichs der Täterhandschrift mit anderen Verbrechen. Doch der Ursache meiner Niedergeschlagenheit gehe ich lieber nicht auf den Grund. Wie gern würde ich glauben, der Schmerz in meiner Brust rühre vom Verlust meines Jobs und dem voraussichtlichen Ende meiner Polizeikarriere her. Doch ich bin ehrlich genug, mir einzugestehen, dass es mehr mit Johns Abreise zu tun hat, die ohne jeden Abschied geschah. Aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Ich habe heute früh genug um die Ohren, auch ohne die Zweifel am Morgen danach.

Zehn Minuten später sitze ich mit einem Kaffee bewaffnet am Küchentisch und öffne das E-Mail-Programm. Ich habe tatsächlich Post von T. Cardona, klicke den Anhang an und lade die Pdf-Datei herunter. Einhundertfünfunddreißig Seiten, ein endloser Datenstrom mit Informationen über die Opfer, zugefügte Wunden, sexuelle Handlungen des Täters, Waffen sowie Dutzenden anderen Kriterien. Ich werde eine Menge Kaffee brauchen, um das alles zu durchforsten.

Ich beginne mit zugefügte Wunden. Gegen Mittag bin ich vom vielen Kaffee und der Informationsüberflutung total nervös; außerdem fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich versuche trotzdem, mich weiter auf die Berichte zu konzentrieren, doch meine Gedanken wandern immer wieder zu John. Letzte Nacht war eine absolute Ausnahmesituation gewesen. Vielleicht ist es ein Überbleibsel meiner amischen Erziehung, aber mit einem Mann zu schlafen ist eine große Sache für mich. Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken. An all das, was wir miteinander geteilt und geredet haben.

Die meisten Menschen würden ihn für seinen Akt der Selbstjustiz verurteilen. Und obwohl ich selbst einmal diesen schmalen Grat beschritten habe, finde ich es falsch, jemandem das Leben zu nehmen. Doch ich weiß auch, dass es einen seelischen Schmerz gibt, der für das menschliche Herz zu schwer zu ertragen ist. Manche Verbrechen kann der Verstand einfach nicht akzeptieren. Ich hoffe, dass John so etwas wie Frieden finden wird.

Um zwei Uhr dreißig reißt mich ein Klopfen an der Hintertür aus der Arbeit. Ich bin überglücklich, als ich sie aufmache und Glock sehe. »Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn Besucher durch die Hintertür kommen«, sage ich zur Begrüßung.

»Ich hab keine Lust auf irgendein Gerede.« Er klopft sich den Schnee von der Jacke und tritt ein. »Eklig da draußen.«

»Der Wettermann hat bis morgen zwischen fünfzehn und zwanzig Zentimeter Neuschnee angekündigt.«

»Scheiß Winter.« Dann fällt sein Blick auf den von Papierbergen umgebenen Laptop auf dem Küchentisch.

»Sie machen den Eindruck, als könnten Sie eine Pause vertragen.«

Ich mache die Tür hinter ihm zu. »Gibt’s was Neues in dem Fall?«

»Wir suchen immer noch auf Hershbergers Farm nach Beweisen.«

»Und, was glauben Sie?«

»Hershberger sitzt bis zum Hals in der Scheiße.«

Ich schenke zwei Tassen Kaffee ein. »Glauben Sie, dass er’s war?«

»Die Beweise sind erdrückend. Der Schuh, den wir gefunden haben, gehörte Amanda Horner. Ihre Mutter hat ihn heute Morgen identifiziert. Es gibt Unterwäsche mit DNA, wir warten auf das Laborergebnis.«

»Finden Sie nicht, dass plötzlich alles irgendwie sehr einfach ist?«

»Aber er könnte nie in den Besitz des Schuhs und der Unterwäsche gekommen sein, ohne Kontakt mit dem Opfer gehabt zu haben.«

»Habt ihr schon CODIS gecheckt?« CODIS ist das Akronym für Combined DNA Index System, eine vom FBI betriebene DNA-Datenbank mit rechtsverbindlichen DNA-Proben.

»Das Ergebnis steht noch aus.«

Ich gebe ihm die Tasse. »Wie halten sich Pickles und Skid?«

»Detrick lässt sie draußen in der Kälte im Schweinemist wühlen.«

Ich hasse die Vorstellung, dass Detrick die Scheißarbeit von meinen Mitarbeitern machen lässt, besonders da Pickles nicht mehr der Jüngste ist. »Und, spielt sich Detrick groß auf?«

»Stolziert rum, als hätte er Jack the Ripper verhaftet, und erzählt, dass er uns alle mit auf einen großen Jagdausflug nimmt, wenn wir den Fall wasserdicht machen.«

»Netter Ansporn, wenn man Rehen gern eine Kugel verpasst.«

»Die meisten seiner Jungs finden das klasse. Detrick war anscheinend mal ein bedeutender Jagdführer in Alaska.«

»Detrick, der große weiße Jäger.«

Glock scheint wenig beeindruckt. »Und wie geht es Ihnen so, Chief?«

Ich muss an Tomasetti denken, verbanne die Gedanken aber schnell aus meinem Kopf. »Ich weiß, dass das jetzt verrückt klingt, aber ich bin vollkommen sicher, dass Jonas Hershberger unschuldig ist.«

Glock sieht mich überrascht an. »Er ist ein merkwürdiger Vogel.«

»Es gibt einige merkwürdige Vögel, aber das macht sie noch nicht zu Psychopathen.«

»Wir haben massenhaft Beweise.«

»Glock, ich kenne Jonas. Er kann nicht fahren. Er hat keinen Zugang zu einem Schneemobil. Er kann die Morde nicht begangen haben.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Haben Sie überprüft, ob er in den sechzehn Jahren dazwischen umgezogen ist?«

»Er wohnt seit seiner Kindheit im selben Haus. Er hat es vor acht Jahren geerbt, nachdem seine Eltern mit ihrer Kutsche tödlich verunglückt sind.« Er hält inne. »Wir haben ein paar Fünfzig-Gallonen-Fässer gefunden, in denen er Abfall verbrennt, und Ascheproben ans Labor geschickt. Mal sehn, ob er die Kleider da drin verbrannt hat.«

»Habt ihr irgendwelche Pornos oder S&M-Videos gefunden? Sexspielzeug? Folterinstrumente? Irgendwas in der Art?«

»Nein, aber er schlachtet Schweine auf der Farm. Er hat Messer und weiß, sie zu benutzen.«

»Viele Amische schlachten für den Eigenbedarf. Mein Vater hat auch Rinder geschlachtet.«

»Aber wie erklären Sie sich dann die Beweise?«

»Gar nicht. Ich weiß, sie sind erdrückend. Es ist nur … es passt einfach nicht. Zum Beispiel die sechzehn Jahre dazwischen und dann drei Morde in einem Monat. Was war der Auslöser?« Ich mache eine Pause. »Haben Sie mit Jonas geredet?«

Er nickt. »Detrick und ich haben ihn heute Morgen eine Stunde lang verhört. Erst wollte er nicht englisch sprechen, nur pennsylvaniadeutsch. Als er schließlich doch redete, stritt er alles ab. War total beleidigt, als wir ihn über die Frauen ausfragten. Detrick hat ihn ziemlich hart rangenommen, aber er ist nicht umgefallen.«

»Halten Sie ihn für schuldig?«

»Er ist verdammt stur und wortkarg. Schwer zu beurteilen.«

»Hat er einen Anwalt?«

»Er hat nicht danach gefragt.«

Ich nicke, beunruhigt von der Vorstellung, dass Jonas allein und obendrein Detrick ausgeliefert ist.

Glock reibt sich mit der Hand den Nacken. »Ach Chief, wir vermissen Sie total. Mir ginge es echt besser, wenn Sie das alles leiten würden.«

Als mir Tränen in die Augen zu steigen drohen, trinke ich schnell einen Schluck Kaffee.

»Ich hab gehört, dass sich Detrick mit Janine Fourman und Auggie Brock hinter verschlossenen Türen getroffen hat, an dem Abend, bevor Sie rausgeflogen sind«, sagt Glock.

»Wie haben Sie das erfahren?«

»Die Sekretärin im Rathaus hat angerufen, nachdem sie von Ihrem Rausschmiss gehört hat. Ich lese nur zwischen den Zeilen, aber ich wette, Detrick hat mit denen nicht übers Wetter geredet.«

Wut erfüllt mich, wenn ich mir vorstelle, dass da Dinge gesagt wurden mit der Konsequenz, dass ich wahrscheinlich alles verlieren werde. »Dieser verdammte Mistkerl.«

»Haben Sie was von Tomasetti gehört?«

Schamesröte steigt mir ins Gesicht, eine wirklich dämliche Reaktion. Glock weiß nicht, dass Tomasetti und ich die Nacht miteinander verbracht haben. Trotzdem kann ich ihm nicht in die Augen sehen. »Ich glaube, er ist heute in aller Frühe abgefahren.«

»Wow.« Er lacht laut, offensichtlich überrascht von meiner Reaktion. »Sie und Tomasetti? Ich glaub’s ja nicht.«

»Es ist wohl besser, wenn wir das nicht weiter erörtern.«

Er räuspert sich und wirft einen fragenden Blick auf den papierbedeckten Küchentisch.

»Ich gehe ein paar Sachen nach«, sage ich.

»Dass Sie nicht Ihr Haushaltsbuch führen, war mir schon klar.«

»Tomasetti hat mir ein paar Daten mit vergleichbarer Täterhandschrift zukommen lassen. Ich sehe sie mir unter dem Aspekt eines Wohnortwechsels an.«

»Schon was gefunden?«

»Noch nicht. Aber es ist eine Menge Material.« Ich halte inne. »Gibt’s Neuigkeiten von den Johnstons?«

»Morgen ist die Beerdigung.«

Ich nicke. »Und wie geht’s LaShonda?«

»Sie ist dick wie ein Haus.« Beim Gedanken an seine hochschwangere Frau huscht ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Kann jetzt jeden Tag kommen.«

»Sagen Sie ihr schöne Grüße, ja?«

»Mach ich, Chief. Muss jetzt los.« Er geht zur Tür, öffnet sie und tritt hinaus. »Wir werden in Schnee ersticken.«

»Yeah.«

»Rufen Sie an, wenn Sie was brauchen.«

Er verschwindet um die Ecke, und ich fühle mich plötzlich furchtbar einsam. Ausgegrenzt und abgeschnitten, als wäre ich ganz allein auf dieser Welt. Schnee wirbelt vom grauen Himmel herab, und mir wird bewusst, wie wichtig es für mich ist, hier in Painters Mill zu leben – und wie viel ich verliere, wenn ich nicht um meine Wiedereinstellung kämpfe.

Ich setze mich an den Tisch und lese weiter im VICAP-Bericht, einer düsteren, eintönigen Lektüre. Mord. Vergewaltigung. Serienverbrechen mit allen dazugehörigen verstörenden Details. Um sechs Uhr abends flimmern mir die Worte vor den Augen, die sich anfühlen, als hätte ich Sand drin. Meine Ohren schmerzen, weil ich ewig lange telefoniert habe. Und doch bin ich keinen Schritt weitergekommen. Zweifel beginnen an mir zu nagen. Vielleicht habe ich unrecht. Vielleicht ist Jonas Hershberger doch schuldig. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich ihn kannte. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Zeit und bestimmte Ereignisse das Leben eines Menschen von Grund auf ändern können. Ich bin selbst das beste Beispiel dafür. Mit dem Gefühl, mich festgefahren zu haben, hole ich die Flasche Wodka und ein Wasserglas aus dem Hängeschrank, schenke es mir viel zu voll und nehme den gefährlichen ersten Schluck. Zurück am Laptop, logge ich mich bei OHLEG ein, um zu sehen, ob meine früheren Anfragen Früchte getragen haben – und stelle fest, dass mein Account deaktiviert ist.

»Mist.« Damit ist auch mein letzter Zugang zu Polizeidaten weg. Ich starre auf den Monitor, frustriert und wütend und ohne eine Idee, was ich als Nächstes machen kann.

Spontan gehe ich zu einer bekannten Suchmaschine, tippe »Einritzungen«, »Unterleib« und »Ausbluten« ein und klicke auf Suche. Ich rechne kaum damit, auf nützliche Informationen zu stoßen, dafür gibt es zu viel schrägen Mist im Internet. Doch außer Links zu Romanauszügen, einer bizarren Kurzgeschichte, einer College-Hausarbeit über Medien und Gewalt gibt es auch einen zum Fairbanks Daily News-Miner, was mich ziemlich schockiert. Ich klicke ihn an und lese:

DRITTE LEICHE IM TANANA RIVER ANGESCHWEMMT

Alaska State Trooper berichten, dass am späten Dienstag eine noch nicht identifizierte Frau von Jägern gefunden wurde. Die Frau ist weiß und wahrscheinlich Ende zwanzig. Laut Trooper Robert Mays »war ihre Kehle durchgeschnitten« und sie hatte »an ein Ritual erinnernde Einritzungen auf dem Unterleib«. Das ist die dritte Leiche, die in den letzten sechs Monaten am Ufer des abgelegenen Tanana River gefunden wurde, und die Menschen in der Region sind äußerst beunruhigt. »Wir halten unsere Türen verriegelt«, sagt Marty West, ein Einwohner von Dot Lake. »Ohne mein Gewehr gehe ich nirgendwo mehr hin.« Die Leiche wurde zur Autopsie nach Anchorage gebracht.

Ich starre den Bildschirm an. Mein Herz schlägt heftig. Die Ähnlichkeit ist zu frappierend, um sie zu ignorieren. VICAP hatte nichts ausgespuckt, aber das ist nicht ungewöhnlich, denn örtliche Polizeidienststellen haben erst vor kurzem begonnen, die Datenbank verbreitet zu nutzen. Manche alte Daten wurden wegen Arbeitskräftemangel gar nicht in die Datenbank eingegeben.

Auf der Uhr über dem Herd ist es kurz vor acht. Alaska liegt in der Alaska Standard Time Zone, also vier Stunden früher. Ich google die Telefonnummer der Polizei in Fairbanks, wähle sie, werde zweimal weiterverbunden und erfahre schließlich, dass Detective George »Gus« Ogusawara vor sieben Jahren in Rente gegangen ist. Ich frage den Polizisten nach Ogusawaras Telefonnummer, doch er will sie mir nicht geben und meint stattdessen, ich solle es mal in Portland oder Seattle versuchen.

Ich gehe wieder ins Internet. Glücklicherweise ist Ogusawara ein ungewöhnlicher Name und ich lande schon bei der zweiten Nummer einen Treffer. »Ist dort George Ogusawara?«, frage ich.

»Und wer sind Sie?« Eine Tenorstimme mit einem starken asiatischen Akzent.

Ich stelle mich schnell als Chief of Police vor. »Waren Sie früher Ermittler in Fairbanks?«

»Ich war Detective in Fairbanks, Ma’am. Bin als Detective Lieutenant in Ruhestand gegangen vor sieben Jahren. Wo Sie jetzt Richtigen gefunden, was wollen Sie wissen?«

»Ich ermittle in einer Serie von Morden, die mit denen in Fairbanks Anfang der 1980er Jahre große Ähnlichkeit haben.«

»Schlimme Zeit, die Morde damals, hat allen Albträume gemacht, einschließlich mir. Was Sie wollen wissen?«

»Ich habe gelesen, dass der Mörder jedem Opfer etwas auf den Unterleib geritzt hat.«

»Ja, bevor er sie gefoltert und getötet hat. Der Kerl ist krankes Dreckschwein, kann ich Ihnen versichern.«

»In dem Bericht, der mir vorliegt, steht nicht, was er eingeritzt hat. Ich wollte wissen, ob Sie sich vielleicht noch daran erinnern können?«

»So was vergisst selbst hartgesottener Cop wie ich nicht. Er hat Zahlen eingeritzt. Römische Zahlen. Eins, zwei, drei.«

»Wurde der Mörder gefasst?«

»Er war einziger Grund ich bin nicht in Rente gegangen, bis ich schließlich zu alt war und nicht mehr konnte.« Er hält inne. »Sie glauben, Sie haben ihn erwischt?«

Ich will ihm nicht zu viel erzählen, bin sowieso schon zu weit gegangen, als ich sagte, ich sei Chief of Police. »Ich bin nicht sicher. Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir über die Morde sagen können?«

»Die waren das Schlimmste, was ich je gesehen. Wirklich übler Kerl, der Mörder.«

»Sie waren mir eine große Hilfe, vielen Dank.«

Er will noch etwas sagen, doch ich lege auf. Was mache ich jetzt mit diesen neuen Informationen? Drei ähnliche Morde in Alaska, über dreitausend Meilen weit weg. Wenn es wirklich derselbe Mörder ist, was hat ihn dann bewogen, von Ohio nach Alaska und zurück nach Ohio zu ziehen?

Ich setze mich wieder an den Computer und lese alles über den Tanana-River-Mörder, was die Suchmaschine mir bietet. Als ich einen kleinen Artikel im Tanana Leader überfliege, gefriert mir beim Anblick eines Namens das Blut.

Nate Detrick, ein Jagdführer bei den Yukon Hunting Tours, entdeckte die Leiche und informierte die Polizei …

Ich traue meinen Augen kaum. Wie groß ist die Chance, dass ein Mann zweimal im Leben mit verblüffend ähnlichen Morden, die Tausende Meilen voneinander entfernt geschehen sind, in Berührung kommt? Jetzt erinnere ich mich dunkel an eine Bemerkung, die Glock heute Nachmittag gemacht hatte:

Detrick war anscheinend mal ein bedeutender Jagdführer in Alaska.

In dem Moment fällt mir ein, dass ich bei meinen Recherchen schon mal auf den Namen des Sheriffs gestoßen bin. Gespannt rufe ich noch einmal die Website von Holmes County Auditor auf, und ein eiskalter Schauer erfasst mich, als ich lese, dass Nathan Detrick und seine Frau Grace im September 1994 ihr zweihundertdreißig Quadratmeter großes Grundstück in Millersburg verkauft haben.

Ich will die Verbindung, die mein Verstand gerade hergestellt hat, nicht wahrhaben. Es muss ein Zufall sein. Nathan Detrick ist Polizist. Ihn zu verdächtigen ist mehr als lächerlich. Er ist über jeden Verdacht erhaben.

Oder nicht?

Detrick gehört zu der Handvoll Menschen, die in den ausschlaggebenden sechzehn Jahren aus Painters Mill weggezogen waren. Er hat in Alaska gelebt, wo es ähnliche Morde gegeben hat, und ich bin schon lange genug Polizistin, um zu wissen, dass das eine Weiterverfolgung der Spur rechtfertigt.

Beim Blick auf meine Hände sehe ich, dass sie zittern. Ich weiß, dass ich falsch liege. Zufälle gibt es wirklich, und ich bin bescheuert, Detrick zu verdächtigen. Aber der Sheriff entspricht dem Profil weitaus besser als Jonas, und mein Polizistenbauch sagt mir, weiterzugraben.

Mir fällt die Liste mit den registrierten Schneemobilen ein, um die ich Pickles gestern gebeten hatte, und ich wühle in den Papieren auf dem Tisch, bis ich sie finde. Es ist eine getippte Liste mit den Namen der Leute, die in Coshocton County und Holmes County ein blaues oder silbernes Schneemobil angemeldet haben. Mittendrin taucht auch Detrick auf. Er besitzt ein blaues Yamaha.

»Das kann nicht wahr sein«, flüstere ich. »Niemals.«

Ich setze mich wieder an den Computer, um mir Detrick etwas genauer anzusehen. Nach einer halben Stunde stoße ich in der Dayton Daily News vom Juni 1986 auf einen Zeitungsartikel über einen aufstrebenden jungen Polizeibeamten, der kürzlich von Fairbanks, Alaska, nach Dayton versetzt worden war. Ein gut aussehender, junger Detrick lächelt, flankiert von seiner Frau, in voller Uniform in die Kamera. Laut Zeitungsdatum war das genau zwei Monate nach dem letzten Mord in Alaska.

Ich fange an, in dem Zeitraum, in dem Detrick dort war, in und um Dayton nach ähnlichen Morden zu suchen. Es gibt ein Dutzend Websites, die mich immer weiter zu anderen führen – Zeitungen, Fernseh-und Radiosites, ein paar öffentlich zugängliche Polizeiwebsites, sogar eine Crime-Stopper-Site –, doch ich finde nichts. Erst als ich meine Suche auf die umliegenden Staaten ausweite, springt mir in der Archiv-Rubrik der Kentucky Post eine Geschichte ins Auge.

LEICHE AM FLUSSUFER IDENTIFIZIERT

Die nackte Leiche einer Frau, die ein Jogger letzte Woche am Ohio River gefunden hatte, wurde als die der zwanzig Jahre alten Jessie Watkins identifiziert. Laut des amtlichen Leichenbeschauers von Kenton County, Jim Magnus, war die Kehle der Frau durchschnitten. Die Polizei von Covington und das Kenton County Sheriff’s Office »setzen alles in Bewegung, um den Täter zu finden«, verlautete es aus einer ungenannten Polizeiquelle am Montag. Watkins, eine aktenkundige Prostituierte, war zuletzt in einer Bar in Cincinnati gesehen worden. Zurzeit gibt es noch keinen Verdächtigen.

Ich öffne eine Landkarten-Website und tippe die Städte Dayton, Ohio, und Covington, Kentucky, ein. Covington ist ungefähr eine Autostunde von Dayton entfernt. Machbar an einem Abend, wenn man genug Zeit zur Verfügung hat.

Als Nächstes suche ich in Michigan nach ähnlichen Verbrechen, aber ohne Erfolg. Unbeirrt versuche ich es in Indiana, klicke mich eine Stunde lang von einer Website zur nächsten. Als ich gerade aufgeben will, stoße ich auf eine Zeitungsnotiz über den Mord an einer jungen Wanderarbeiterin, deren Leiche in einem Maisfeld zwischen Indianapolis und Richmond gefunden wurde.

WANDERARBEITERIN TOT AUFGEFUNDEN

Die Polizei tappt bei dem Mord an der einunddreißig Jahre alten Lucinda Ramos, deren Leiche am Montag in einem Maisfeld an der Interstate 70 nahe New Castle gefunden wurde, noch immer im Dunkeln. »So etwas hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen«, sagte Dick Welbaum, der Farmer, der um ein Haar mit seinem Traktor über die Leiche gefahren wäre. Eine anonyme Quelle aus dem Amt des Coroners von Henry County sagte, dass die Tote »an ein Ritual erinnernde Einritzungen« auf dem Unterleib hatte. Auf die Frage, ob es sich um einen Kultmord handeln könnte, verweigerte Mick Barber vom Henry County Sheriff’s Office jeglichen Kommentar. Allerdings sagte er, dass das Sheriff’s Office mit dem New Castle Police Department sowie der State Police zusammenarbeitet, um den oder die Täter zu finden.

Wieder »an ein Ritual erinnernde Einritzungen«. Laut Landkarten-Website braucht man mit dem Auto von New Castle, Indiana, nach Dayton eine Stunde und zwanzig Minuten. Ich finde die Telefonnummer der Indiana State Police im Internet und habe innerhalb weniger Minuten Ronald Duff von der Kriminalpolizei am Apparat.

Ich stelle mich als Chief of Police vor und komme sofort zur Sache. »Ich interessiere mich für einen Mordfall, den Sie 1988 untersucht haben. Der Name des Opfers war Lucinda Ramos.«

»Seit damals hab ich eine Menge Gehirnzellen weniger. Ich hole mir schnell die Akte.«

Er hätte sich weigern können, mit mir zu reden, weil ich mein privates Telefon benutze. Wenn ein Polizist nicht sicher ist, mit wem er spricht, ruft er manchmal die Polizeidienststelle an, bei der der Anrufer behauptet zu arbeiten, und lässt sich dann verbinden. Doch da ich nach einem lange zurückliegenden, ungeklärten Fall gefragt habe, hat er es vermutlich nicht für nötig befunden, meine Identität zu verifizieren.

Nach ein paar Minuten kommt er wieder ans Telefon. »Glauben Sie, eine Spur in diesem Fall zu haben?«, fragt er.

»Wir haben drei Tote hier in Painters Mill. Ich suche in den umliegenden Staaten nach ungeklärten Mordfällen mit der gleichen Täterhandschrift.«

»Wenn ich helfen kann, gern. Wonach suchen Sie konkret?«

»In dem mir vorliegenden Bericht werden Einritzungen bei der Toten erwähnt. Können Sie mir vielleicht mehr darüber sagen?«

Am anderen Ende höre ich Papier rascheln. »Ich hab den Bericht des Coroners vorliegen. Darin steht, ich zitiere: ›Einritzungen in der Haut sind oberflächlich und acht Zentimeter über dem Nabel.‹

»Und was stellen die Einritzungen dar?«

Wieder Papierrascheln. »Ich finde keine Aufzeichnung darüber, aber ich habe ein Foto des Opfers hier. Moment, ich hole meine Brille.« Eine kurze Pause. »Sieht irgendwie aus wie ein großes I und ein V.«

»Wie eine römische Zahl?«

»Möglich.«

Ich traue meinen Ohren kaum. »Gab es einen Grund, warum diese Information nicht in VICAP eingegeben wurde?«

»Wir haben hier erst 2001 angefangen, VICAP zu benutzen, und bis jetzt sind noch keine Archivdaten gespeichert. Zu wenig Personal und Geld, das kennen Sie ja wahrscheinlich selbst.«

»Können Sie das Foto scannen und mir mailen?«

»Sicher. Wie lautet denn Ihre E-Mail-Adresse?«

Ich nenne sie ihm und lege auf. Am liebsten würde ich sofort John anrufen, doch das scheint mir verfrüht. Bis jetzt habe ich nichts weiter als einen Verdacht begründende Sachverhalte. Man könnte meine Verdächtigung Detricks als den Versuch einer verbitterten, wütenden ehemaligen Polizeichefin auslegen, ihrem Nachfolger eins auszuwischen. Ich brauche mehr Beweise, bevor ich andere Leute involviere. Zudem bin ich nicht einmal selbst davon überzeugt, mit Detrick richtig zu liegen. Wenn ich jetzt voreilig handele, kann die ganze Sache für mich zum Boumerang werden.

Also setze ich mich wieder an den Laptop und bringe alle Informationen, die ich übers Telefon und Internet erhalten habe, in einen zeitlichen Rahmen. Vom Februar 1980 bis Dezember 1985 arbeitete Detrick als Jagdführer bei Yukon Hunting Tours. Alle drei Morde in Fairbanks geschahen in diesem Zeitraum. Anfang 1986 zog er nach Dayton, Ohio, wo er bei der Polizei anfing und bis 1990 als Streifenpolizist eingesetzt war. Die Morde in Kentucky und Indiana ereigneten sich in der Zeit, als er in Dayton wohnte. Nach meiner Rechnung waren Lucinda Ramos das vierte Opfer und Jessie Watkins das fünfte. 1990 bekam er bei der Polizei von Holmes County einen Job als Deputy und siedelte nach Millersburg um; jetzt begannen die sogenannten Schlächter-Morde. Zu der Zeit tötete er vier Frauen, Opfer sechs bis neun. 1994 verkaufte er sein Haus und zog nach Columbus, wo er bis 2005 blieb und zum Detective befördert wurde. In diesem Zeitraum bin ich noch auf keine ähnlichen Morde gestoßen, habe allerdings auch noch nicht genau recherchiert. 2006 kam er zurück nach Painters Mill, kandidierte als Sheriff und errang einen erdrutschartigen Sieg. Die kürzlichen Morde begannen mit Opfer Nummer zweiundzwanzig. Mir fehlen zwölf Opfer aus der Zeit, als er in Columbus gelebt und gearbeitet hat. Davon abgesehen, passt der Zeitablauf wie O. J. Simpsons blutiger Handschuh.

In dem Moment klingelt das Telefon und ich schrecke hoch. »Hallo?«

»Chief«, höre ich Mona mit gedämpfter, dringlicher Stimme sagen. »Sie sollten wohl besser herkommen.«

Es ist fast Mitternacht. Ihrem Ton nach zu schließen gibt es schlechte Neuigkeiten. »Was ist passiert?«

»Jonas Hershberger hat gerade versucht, sich aufzuhängen.«