18. Kapitel
Als ich das Zimmer betrete, stehen die Augspurgers verängstigt am hinteren Fenster und starren mich an, als hielte ich den Schlüssel zur Welt in der Hand. Auch Tomasetti sieht mir erwartungsvoll entgegen.
Ezras Blick ist flehentlich. Bonnie bricht amische Verhaltensregeln und drängt sich an ihren Mann. In ihren hellen Augen erkenne ich Verzweiflung und Hoffnung, verbunden mit einer Angst, die jeder Mutter erspart bleiben sollte.
»Heute Morgen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden.« Ich reiche Ezra das Foto. »Sie hat einen Leberfleck am linken Knöchel.«
Zitternd nimmt er das Blatt Papier. Bonnie legt die Hand auf den Mund, doch der schmerzvolle Laut, der ihm entfährt, wird dadurch nicht gedämpft. Ezra starrt das Foto auf dem zitternden Blatt an.
Ein Mord ist selten in der amischen Gemeinde. Die meisten Mitglieder sterben eines natürlichen Todes, wobei der Tod als endgültige Hingabe zu Gott betrachtet und mit Würde angenommen wird. Kummer findet leise und in der Privatsphäre seinen Ausdruck. Doch der Laut, der jetzt aus Ezra Augspurgers Mund bricht, erinnert mich daran, dass nicht alle Amischen stoisch sind. Es sind Menschen wie andere auch, und der Verlust eines Kindes bereitet unerträglichen Schmerz. Sein grimmiger, kummervoller Schrei durchdringt mich wie kalter Stahl. Er neigt den Kopf und presst das Foto an seine Wange.
»Es tut mir leid.« Ich berühre Ezras Schulter, doch er reagiert nicht.
Bonnie sinkt auf einen Stuhl und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Ich spüre, wie mich meine eigenen Gefühle übermannen, und wende mich ab, nur um festzustellen, dass Tomasetti mich eindringlich ansieht. Sein Gesicht ist ernst, doch er ist lange nicht so erschüttert, wie ich es bin. Aber er weiß auch nicht, wie freundlich Ellen Augspurger gewesen ist. Er kennt diese Gemeinde nicht. Die Gutherzigkeit der Amischen, die ich auch selbst erlebt habe, ist ihm vollkommen fremd.
Ich stelle mir vor, wie dieses vom Kummer überwältigte Ehepaar ins Leichenschauhaus fährt, male mir ihre Fragen aus und weiß bereits, wie schwer mir die Antworten fallen werden. Sie werden Ellens Leichnam mit nach Hause nehmen wollen, sie weiß einkleiden und in einen einfachen Holzsarg legen. Ich werde sie darüber informieren müssen, dass man eine Autopsie vorgenommen hat, eine Maßnahme, die elementare amische Werte verletzt, doch sie werden sich nicht beklagen.
»Wie ist sie gestorben?« Ezras leidvoller Blick bohrt sich in meine Augen.
»Sie wurde ermordet«, antworte ich.
Bonnie ringt um Luft. »Mein Gott.«
Ezra starrt mich an, als würde ich lügen. Ich kenne ihn fast mein ganzes Leben lang, er ist ein anständiger, hart arbeitender Mann, der bereits mehr als genug Leid erfahren hat. Aber ich weiß auch, dass er zu Jähzorn neigt.
»Das akzeptiere ich nicht.« Obwohl der Raum kalt ist, steht ihm der Schweiß auf der Stirn, und auf seinem Hals breiten sich rote Flecken aus.
»Es tut mir leid«, bringe ich hervor.
Er beugt den Kopf nach vorn, legt die Finger auf die Stirn und drückt so fest, als wolle er sich die Nägel in die Haut graben.
»Ezra, wer ist der Bischof in eurem Bezirk?«, frage ich.
»David Troyers.«
Ein Kirchenbezirk besteht aus zwanzig bis dreißig Familien, in dem sich ein Bischof, zwei oder drei Prediger und ein Diakon die Führungsrolle teilen. Ich kenne David Troyers und weiß, dass er einer der wenigen Amischen ist, die ein Telefon besitzen.
Ezra hebt den Kopf, versucht, sich zusammenzureißen. »Wir wollen Ellen nach Hause bringen.«
»Natürlich«, erwidere ich auf Pennsylvaniadeutsch.
»Wo ist sie?«
»Im Krankenhaus in Millersburg.«
»Ich will sie nach Hause bringen.« Ein Schluchzen entfährt ihm, als er die Schultern aufrichten will, die vom Gewicht unsäglichen Leids nach unten gedrückt werden.
»Ich würde euch gern zum Krankenhaus fahren«, sage ich.
»Nein.«
»Ezra, Millersburg ist fast zehn Meilen weit weg.«
»Nein!« Er schüttelt den Kopf. »Bonnie und ich nehmen die Kutsche.«
Sein Kummer ist so groß, dass ihm wahrscheinlich nicht klar ist, wie viele Stunden er insgesamt unterwegs sein wird. Hilfesuchend wende ich mich Bonnie zu, doch sie starrt mich nur an. Ungeweinte Tränen glitzern in ihren Augen, und sie presst ihre Hand auf den Mund, als wolle sie die Schreie zurückhalten, die in ihrem Inneren wüten.
»Draußen sind es minus sieben Grad«, sage ich. »Es sind besondere Umstände, Ezra. Bitte, lasst mich euch fahren.«
Bonnie steht ruckartig auf. »Wir kommen mit dir.«
»Nein!« Der Amisch-Mann knallt mit der Faust aufs Pult. »Wir nehmen die Kutsche!«
Ich hatte schon viele schlechte Tage im Leben. Doch meistens habe ich akzeptiert, dass zu den guten Tagen auch schlechte gehören, und geglaubt, dass sie sich am Ende die Waage halten. Ich werde eine Menge gute Tage brauchen, um den heutigen auszugleichen.
Da ich Ezra nicht überreden konnte, sie zum Krankenhaus zu fahren, war mir nichts anderes übrig geblieben, als ihnen im Explorer zu folgen. Insgesamt hatten die Fahrt und die Identifizierung von Ellen über drei Stunden gedauert. Jetzt ist es nach Mitternacht, ich bin müde und mir ist so kalt, dass ich mir nicht vorstellen kann, je wieder warm zu werden. Ich sollte nach Hause gehen und versuchen zu schlafen, doch mein Kopf läuft auf Hochtouren und ich habe keine Lust, wertvolle Stunden zu verlieren, in denen ich mich doch nur unruhig im Bett wälze.
»Die Angehörigen zu benachrichtigen ist immer das Schlimmste.«
Stirnrunzelnd blicke ich Tomasetti auf dem Beifahrersitz an.
Er bemerkt es nicht. »Wenn man ein brutales Bandenmitglied zerfetzt auf der Bahre liegen sieht, glaubt man, die Welt ist nun besser geworden. Aber so etwas …«
»Das ist zynisch«, erwidere ich.
»Yeah, aber auch die Wahrheit.«
»Ich teile Ihre Meinung nicht.«
»Sie sind bloß noch nicht lange genug bei der Polizei.«
Tomasetti ist schon den ganzen Abend lang mein Schatten. Seine Anwesenheit ärgert mich mehr, als es sollte, obwohl er bis jetzt ruhig war. Und die Ironie, dass ausgerechnet ich ihn auf den neuesten Stand des Falls bringe, entgeht mir natürlich nicht.
»Wollen Sie ihnen bis nach Hause hinterherfahren?«, fragt er.
»Die Straßen sind schlecht. Ich will nicht, dass ihnen in dieser Nacht noch mehr passiert.«
Er blickt wieder aus dem Fenster, auf die abgeernteten Kornfelder. Die Nacht ist klar und still, die Temperatur auf ungefähr minus fünfzehn Grad gefallen. Am Himmel spielen Sterne Verstecken hinter vorbeiziehenden hohen Wolken.
Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte ich David Troyers, den Bischof der Augspurgers, angerufen. Was mir wirklich bei den Amischen gefällt, ist die Nachbarschaftshilfe, die Familien erfahren, denen das Schicksal übel mitgespielt hat. Es tröstet mich zu wissen, dass Ezra und Bonnie nach Hause kommen und dort eine Familie vorfinden werden, die morgen alle Haushalts-und Farmarbeiten übernimmt, die Tiere füttert, Essen kocht und bei den Vorbereitungen für die Beerdigung hilft.
Ezras Pferd hält den ganzen Weg bis zur Augspurger-Farm einen gleichmäßigen Trab. Als die Kutsche in ihre Straße einbiegt, blinke ich zum Abschied ein paar Mal mit meinen Scheinwerfern und fahre zurück in die Stadt.
»Und wohin geht’s jetzt, Chief?«
Ich blicke Tomasetti an, dessen dunkle Augen mich eindringlich fixieren. Einem Blick standzuhalten ist nicht leicht, doch wenn man es dann geschafft hat, ist das Losreißen sogar noch schwerer. Ich erkenne Verletzung in diesen Augen und frage mich kurz, wo sie wohl herrührt. Und auch, ob in meinen das Gleiche zu sehen ist. Polizist zu sein, ohne Schaden zu nehmen, ist schwer.
Ich bin ihm noch nie zuvor begegnet, doch sein Gesicht hat etwas Vertrautes. »Ich kann Sie ins Motel oder zum Bahnhof bringen«, sage ich. »Ihre Entscheidung.«
»Zum Bahnhof bitte.«
»Sind Sie ein Nachtschwärmer?«
Er verzieht den Mund. »Ich leide unter Schlaflosigkeit.«
Obwohl ich mit vielen verschiedenen Menschen zu tun habe, verunsichert mich Tomasetti. Ich möchte mir einreden, gegen seinen seltsam durchdringenden Blick immun zu sein, doch das gelingt mir nicht. Jedenfalls nicht heute Nacht, wo mir die eigenen Geheimnisse durch den Kopf spuken.
»Wer hat Sie angerufen?«, frage ich nach einer Weile.
Er antwortet mit der Nonchalance eines Mannes, der an einem sonnigen Tag übers Wetter spricht. »Norm Johnston. Der Bürgermeister. Und die Frau mit dem großen Mund.«
Janine Fourman. Fast hätte mir seine treffende Beschreibung ein Lächeln entlockt. »Die drei Musketiere.«
»Wollen die Sie loswerden?«
»Sie wollen, dass sich die Morde in Luft auflösen.«
»Wurden Sie deshalb nicht über mein Kommen informiert?«
Ich sehe ihn finster an. »Sie haben mich nicht informiert, weil sie Angst haben, dass die Morde die Touristen vertreiben.«
»Ich bin froh, dass Sie mich aufgeklärt haben«, sagt er.
Sein sarkastischer Unterton nervt mich. Im Laufe der Jahre bin ich vielen Polizisten wie ihm begegnet. Meistens Veteranen. Älter. Sie besitzen zwar Erfahrung, doch ihnen ist die Menschlichkeit abhandengekommen, um ein guter Cop zu sein. Je mehr sie sehen, desto weniger fühlen sie. Ihr Job ist ihnen zunehmend egal. Sie werden zynisch, bitter und teilnahmslos. Ihretwegen haben Polizisten einen schlechten Ruf.
»Wie lange leiten Sie die Dienststelle schon?«, fragt er.
»Zwei Jahre.«
»Waren Sie davor auch Polizistin?«
Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu rollen. »Ich habe nicht als Friseurin gearbeitet, falls Sie das meinen.«
Ein Mundwinkel geht nach oben. »Ist das Ihr erster Mordfall?«
»Haben Sie das auch von Norm Johnston?«
»Er sagt, Sie sind unerfahren.«
Seine Offenheit überrascht mich. »Was hat er denn sonst noch so erzählt?«
Er wirkt amüsiert. »Wollen Sie mich etwa aushorchen?«
»Ich will nur die Wahrheit wissen.«
»Die Wahrheit zu sagen bringt mir normalerweise Ärger ein.«
»Ich habe das Gefühl, das ist Ihnen egal.«
Er sieht einen Moment aus dem Fenster, dann wieder zu mir. »Und, wie steht’s mit Ihrer Erfahrung?«
Ich hebe die Schulter, lasse sie fallen. »Ich hab in Columbus gearbeitet. Sechs Jahre bei der Streife. Zwei als Detective bei der Mordkommission.«
Selbst im düsteren Licht des Armaturenbretts kann ich sehen, wie seine Braue hochgeht. »Davon haben die mir nichts gesagt.«
»Hab ich auch nicht erwartet. Und was haben Sie gemacht?«
»Drogenfahndung, meistens.«
»Detective?«
»Yeah.«
»Seit wann?«
»Seit es Dinosaurier gibt. Und falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, ich bin einer davon.« Er lächelt, doch ich verkneife es mir.
»Sie kommen mir bekannt vor«, sage ich stattdessen.
»Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie noch brauchen.«
Ich weiß nicht, wie er das meint. »Brauchen wozu?«
»Was Pseudo-Berühmtheiten angeht, sind Sie wohl nicht auf dem Laufenden.«
Eine vage Erinnerung kommt mir, irgendetwas in einer Zeitung oder im Fernsehen über einen Cop in Cleveland oder Toledo, dessen Familie umgebracht wurde. Jemand war gewaltsam in sein Haus eingedrungen. Ein Polizist mit Auszeichnungen, der anscheinend Selbstjustiz geübt hatte …
Als ich Tomasetti jetzt anblicke, kann ich meine Überraschung nicht verbergen.
»Yeah, der bin ich.« Er wirkt belustigt. »Sie haben echt Glück, was?«
Unfähig, ihm in die Augen zu sehen, richte ich den Blick auf die Straße. »Toledo? Letztes Jahr?«
»Cleveland«, korrigiert er mich. »Vor zwei Jahren.«
»Ich habe die Geschichte am Rande verfolgt.«
»Sie und der halbe Staat.«
Ich will ihn fragen, ob er es wirklich getan hat, lasse es aber. Unter Polizisten herrschte damals allgemein die Überzeugung, dass John Tomasetti durchgeknallt war. Er hatte den Mörder seiner Familie gejagt und Rache geübt. Niemand konnte etwas beweisen, doch das hatte den Staatsanwalt nicht davon abgehalten, ihn vor eine Grand Jury zu bringen.
»Und wie sind Sie dann beim BCI gelandet?«, frage ich nach einer Weile.
»Der Commander wollte mich loswerden und hat mich empfohlen, und die Dummköpfe vom BCI sind drauf reingefallen.« Er schenkt mir ein freudloses Lächeln. »Sollen wir uns betrinken und darüber reden?«
»Müssen Sie trinken, um zu reden?«
»Meistens.«
Eine Zeitlang schweigen wir, dann fragt er: »Es ist nicht leicht, die Detective-Prüfung zu schaffen, Chief. Was hat Sie dazu bewogen, so eine ruhmreiche und karriereträchtige Position gegen die Polizeiarbeit in einer Kleinstadt einzutauschen?«
Ich zucke die Schultern, bin leicht verunsichert. »Ich bin hier geboren.«
Er nickt, als würde er das verstehen. »Wieso sprechen Sie fließend deutsch?«
Er meint das Gespräch mit den Augspurgers. »Das ist Pennsylvaniadeutsch.«
»Eine merkwürdige Sprache.«
»Die Amischen sprechen sie.«
»In diesem Teil von Ohio gibt es sehr viele Amische.« Ich spüre, dass er mich prüfend ansieht, sich wundert.
»Inzwischen leben mehr Amische in Ohio als in Pennsylvania.« Eine Statistik, die ihm wahrscheinlich vollkommen egal ist.
»Dann wird hier im College Pennsylvaniadeutsch angeboten, oder was?«
»Meine Eltern haben es mir beigebracht.«
Ich sehe, wie sein Verstand arbeitet. Er weiß nicht, wie er die Information einordnen soll – wie er mich einordnen soll. Unter anderen Umständen hätte ich die Situation genossen. Er will nicht fragen. Aber einem Mann wie John Tomasetti dürfte political correctness egal sein. Als er es schließlich ausspricht, steigt er in meiner Achtung: »Sie sind also eine Amische, ja?«
»War.«
»Wow. Johnston hat erwähnt, dass Sie Pazifistin sind.«
»Für den Fall, dass Sie nicht zwischen den Zeilen lesen können, Johnston redet nur Scheiße.«
»Das hab ich schon kapiert.« Er stößt einen Pfiff aus. »Eine waffentragende, fluchende, ehemals amische Polizeichefin. Ich fass es nicht.«
Zum Glück sind bei unserer Ankunft die Parkplätze vor dem Polizeirevier nicht belegt. Mona sitzt zurückgelehnt in der Zentrale, die hochhackigen Stiefel auf dem Schreibtisch. In der einen Hand hält sie einen halb gegessenen Apfel, in der anderen ein Buch über forensische Wissenschaft mit einem CSI-ähnlichen Cover. Ihr Fuß wippt im Takt eines Pink-Floyd-Remix, den sie so laut aufgedreht hat, dass sie uns nicht kommen hört.
»Sieht so aus, als hätte die Nachtschicht auch ihre Vorteile«, sage ich.
Das Buch klappt zu und der Apfel fällt ihr aus der Hand. Die Stiefel gleiten vom Schreibtisch. »Hallo, Chief.« Zu meiner Überraschung errötet sie. »Von dem Buch krieg ich ’ne Gänsehaut.« Sie hält mir die Telefonzettel hin. »Bis vor ungefähr zwanzig Minuten hat das Telefon nonstop geklingelt.«
»Irgendwann müssen die Leute wohl schlafen.«
»Gott sei Dank. Inzwischen rufen absolut Verrückte an. Ein Medium aus Omaha behauptet, sie wäre in ihrem ersten Leben ein Opfer des Schlächters gewesen. Oh, und so ein Spinner aus Columbus wollte Ihnen sagen, dass Sie als amische Frau nicht Polizistin sein sollten.« Sie zerknüllt den rosa Zettel und wirft ihn in den Papierkorb. »Ich hab ihn geradegerückt.«
»Danke.« Ich nehme die Zettel. »Sind Sie so nett und machen uns Kaffee?«
»Ich kann auch einen gebrauchen.« Ihr Blick fällt auf Tomasetti – und bleibt hängen. Ich sehe, wenn eine Frau Interesse an einem Mann hat, doch jetzt bin ich überrascht. Tomasetti ist nicht gerade ein schöner Mann. Seine Augen sind zu stechend, sein Mund ist zu schmal und die Nase höckerig. Er ist wahrscheinlich nur knapp über vierzig, aber er hat die Falten eines älteren Mannes mit einem harten Leben.
Was finden junge Frauen an Männern, die ihr Vater sein könnten? »Mona, das ist John Tomasetti vom BCI in Columbus.«
Er reicht Mona die Hand. »Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sie schütteln sich die Hände, wobei Mona übers ganze Gesicht strahlt. »Wir sind froh, Sie bei uns zu haben.«
Ich rolle die Augen und begebe mich in mein Büro, ziehe die Jacke aus und werfe den Computer an. Dann telefoniere ich mit Glock. »Irgendwas über Lapp?«, frage ich.
»Nix. Entweder er hält seine Weste sauber oder er ist tot.«
»Graben Sie weiter.« Glock hat das sicher nur so hingesagt, beschwichtige ich mich; er kann gar nicht wissen, dass Lapp tot ist. Wenn er tot ist. »Habt ihr irgendwas bei den Augspurgers gefunden?«
»Es gab ein paar alte Reifenspuren, die aber durch den Neuschnee und die Verwehungen so gut wie unkenntlich waren.«
»Konnten Sie trotzdem Abdrücke nehmen?«
»Nein, Fehlanzeige. Entweder der Kerl hat Glück oder er kennt sämtliche Tricks von uns.« Er hält inne. »Wir haben Leute befragt, aber keiner hat was gesehen. Der Kerl ist ein verfluchter Geist.«
Tomasetti kommt mit zwei Bechern Kaffee in mein Büro. Ich bedeute ihm, sich zu setzen. »Danke für die Infos, Glock. Machen Sie Schluss für heute.«
»Sie auch.«
Ich lege auf. Tomasetti stellt eine Tasse vor mich auf den Schreibtisch und lässt sich auf dem Stuhl gegenüber nieder. »Wenn Sie versuchen, mich mit Ihrem wunderbaren Kaffee für sich einzunehmen«, sage ich, »haben Sie gerade gepunktet.«
»Ich kann noch eine Kanne machen.«
Ich schenke ihm ein kleines Lächeln.
Er lächelt nicht zurück. »Haben Sie irgendwas gefunden?«
Ich gebe ihm eine Zusammenfassung des Gesprächs mit Glock.
Er reibt sich die Hände wie ein Mann, der sich aufs Essen freut, und fragt: »Haben Sie Zeit, mich auf den neuesten Stand zu bringen?«
»Wir haben nicht viel.« Ich reiche ihm die alte Schlächter-Akte. »Das sind die Unterlagen aus den frühen Neunzigern.«
Er zieht eine Lesebrille aus der Brusttasche und schlägt die Akte auf. Während er liest, checke ich das Faxgerät. Doc Coblentz hat tatsächlich einen ersten Autopsiebericht von Ellen Augspurger geschickt. Ich gehe damit raus zum Kopierer, überfliege die Angaben.
Zum Tod führte ein tiefer Schnitt am Hals, der die Halsschlagader durchtrennt hat. Todesursache: Verbluten.
Er hat keine Fotos gefaxt, doch das ist auch nicht nötig. Ich muss nur die Augen schließen, um alles vor mir zu sehen: ihren teilweise verfaulten Körper, wie er im Huffman-Haus vom Deckenbalken hängt. Das schmerzverzerrte Gesicht von Bonnie und Ezra Augspurger, als sie vom Tod ihrer Tochter erfahren.
Mein eigenes Geheimnis geht mir durch den Kopf und ich frage mich, was vor all den Jahren passiert wäre, hätte ich nicht das Gewehr meines Vaters genommen und mich selbst verteidigt. Vielleicht wäre ich wie Ellen Augspurger oder Amanda Horner gestorben, mein misshandelter Körper nur noch ein Beweisstück. Ich starre auf Doc Coblentz’ Bericht und wünschte, ich hätte Daniel Lapp in den Kopf geschossen und nicht in den Bauch.
Als ich zum Schreibtisch zurückkehre, blickt Tomasetti von der Akte auf. Er hat sich auf einem Block Notizen gemacht. »Was ist Ihre Theorie?«, fragt er.
»Entweder ist es der Mörder von damals, oder wir haben es mit einem Nachahmer zu tun.«
»Es ist kein Nachahmer.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Weil die Tatsache, dass römische Zahlen in den Unterleib der Opfer geritzt waren, nie öffentlich gemacht wurde.« Mit einem Blick über den Brillenrand hinweg gibt er mir zu verstehen, dass das doch wohl offensichtlich ist.
»Vielleicht ist die Information durchgesickert.«
»Dann hätte es in den Zeitungen gestanden.«
Er hat recht, doch ich sage nichts.
»Die Ähnlichkeit ist zu offenkundig. Es ist der gleiche Mann«, sagt er kopfschüttelnd.
»Und wie erklären Sie die zeitliche Lücke?«
»Er hat woanders gelebt. Sehen Sie sich doch die Nummerierung an, wie weit sie auseinanderklafft.« Seine stechenden Augen sind prüfend auf mich gerichtet. »Haben Sie schon irgendetwas davon in VICAP eingegeben?«
VICAP ist das Akronym für Violent Criminal Apprehension Program, eine FBI-Datenbank, mit deren Hilfe man charakteristische Aspekte, Muster und Modi Operandi von schweren Verbrechen abgleichen kann. Wir beide wissen, dass das schon längst hätte geschehen sollen, und Tomasetti fragt sich, warum ich es nicht getan habe.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen«, erwidere ich.
»Ich gebe diese markanten Tatdetails hier sofort ein.«
»Ich habe auch Anfragen bei OHLEG laufen«, füge ich hinzu.
»Wo wir gerade beim Thema Ressourcen sind, gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie das FBI nicht eingeschaltet haben?«
In seiner Frage klingt kein unterschwelliger Vorwurf mit, nur simple Neugier. Als könnte es einen guten Grund geben, dass ich etwas unterlassen habe, das ich hätte tun sollen. Aber den gibt es natürlich nicht. Er hat mich in die Enge getrieben, aus der ich nur mit einer Lüge herauskomme. »Einige Stadtratmitglieder waren besorgt, dass es dem Tourismus schaden könnte. Painters Mill sollte keine negativen Schlagzeilen in der überregionalen Presse machen.«
»Sie kommen mir aber nicht wie jemand vor, der sich solchem Druck beugt.«
Weil ich keine Lust habe, dieses spezielle Loch noch tiefer zu graben, blättere ich in der Akte vor mir. Mein Herz schlägt heftig. Ich spüre seinen Blick und weiß, dass er sich ein Urteil bildet. Über meine Kompetenz. Über mich. »Haben Sie eine Theorie hinsichtlich der Lücke?«, frage ich nach einer Weile.
»Die Nummerierung weist darauf hin, dass es andere Opfer gibt, von denen wir nichts wissen.« Er klopft mit dem Finger auf den Aktendeckel. »Dieser Typ treibt keine Spielchen mit Cops, und ich glaube auch nicht, dass er aufgehört hat zu töten. Dafür besitzt er nicht die Selbstkontrolle. Ich glaube, in den letzten sechzehn Jahren hat er irgendwo anders weitergetötet. Es sei denn, er war außer Gefecht gesetzt, saß im Gefängnis oder lag im Krankenhaus.«
Ich blicke auf die Papiere vor ihm auf dem Schreibtisch. Mit seiner kleinen, leicht schrägen Handschrift hat er bereits zwei Seiten seines Blocks gefüllt. »Haben Sie schon ein Profil erstellt?«
»Ein vorläufiges.« Er spricht, ohne seine Notizen zu konsultieren. »Es handelt sich um einen Mann, weiß, zwischen fünfunddreißig und fünfzig. Er arbeitet Vollzeit, hat aber keine regelmäßigen Arbeitszeiten. Er gilt als erfolgreich und hat wahrscheinlich eine Führungsposition inne. Er ist ein Kontrollfreak und impulsiv, kann seinen Drang aber bis zu einem gewissen Grad beherrschen. Er ist verheiratet, hat aber Eheprobleme. Vielleicht hat er Kinder, die entweder erwachsen sind oder Teenager. Er gilt als guter Vater. Es ist nicht klar, ob seine Frau von seiner dunklen Seite weiß. Wenn ja, kennt sie nicht das Ausmaß. Sie weiß nicht, dass er tötet. Niemand verdächtigt ihn. Vielleicht ist er impotent und nimmt Medikamente. Gewalt erregt ihn wesentlich mehr als Sex. Das Bereiten von Schmerzen verschafft ihm sexuelle Befriedigung, wobei der Drang zum Foltern vorrangig ist, das Töten selbst zweitrangig. Es sind die Momente, kurz bevor das Opfer sein Leben aushaucht, die ihn erregen.
Als Kind hat er vielleicht Tiere gequält und eventuell Ärger gekriegt, wenn er sie getötet hat. Als Jugendlicher oder Teenager hat er vielleicht psychische Probleme gehabt. Diese Probleme wurden diagnostiziert oder auch nicht. Von seiner Persönlichkeit her ist er ein Sucht-Charakter, was er jedoch geschickt verbergen kann. Er ist ein klassischer Psychopath. Er ist egozentrisch und hat wahrscheinlich eine große Pornosammlung, hauptsächlich S&M-Sachen. Er steht wahrscheinlich auf Bondage und könnte Filme oder Videos auf dem Computer haben. Er verbringt viel Zeit damit, sich die Tat vorzustellen, bevor er sie tatsächlich dann begeht. Er genießt die Planungsphase. Nachdem er den Mord begangen hat, verbringt er ziemlich viel Zeit damit, ihn immer wieder neu zu durchleben.«
Würde es sich hier um einen anderen Fall handeln, könnte ich dem Profil vielleicht zustimmen, wäre vielleicht sogar beeindruckt. Aber keiner seiner Punkte beschreibt Daniel Lapp.
Tomasetti reicht mir die Seiten. »Es ist alles vorläufig und Änderungen sind vorbehalten.«
Ich nicke und konzentriere mich auf das Profil. Beim Lesen der Einzelheiten fröstelt mich.
-
Täter ist körperlich stark. Hat möglicherweise physisch anstrengenden Job oder treibt regelmäßig Sport.
-
Er muss alles unter Kontrolle haben und reagiert möglicherweise wütend, wenn sie ihm entgleitet.
-
Er will als attraktiv wahrgenommen werden. Hinsichtlich seiner äußeren Erscheinung ist er penibel und bemüht sich, auf Frauen zu wirken.
-
Er gibt sich charmant und harmlos.
-
Er fühlt sich in Gesellschaft von Frauen wohl. Er pflegt Umgang mit Frauen und wurde wahrscheinlich von Frauen aufgezogen, z.B. von Mutter und/oder Schwestern.
-
Er lebt in einer festen Beziehung, in der es jedoch Probleme gibt. Er ist wütend, dass die Beziehung nicht mehr funktioniert, hat aber das Gefühl, sie selbst nicht retten zu können.
-
Er kann bei passender Gelegenheit spontan sein, zieht es aber vor zu planen.
-
Er ist immer auf dem neuesten Nachrichtenstand und verfolgt den Fall ganz genau. Er genießt die Aufmerksamkeit der Medien.
Wieder muss ich an Daniel Lapp denken. »Meiner Meinung nach sollten wir die Ermittlung nicht auf Leute beschränken, die diese Kriterien erfüllen, und damit andere Verdächtige ausschließen.«
»Gewöhnlich finden die Leute, dass ich als Profiler ziemlich gut bin.«
»Ich wollte Sie nicht beleidigen.« Ich reiche ihm die Blätter.
»Das haben Sie nicht.« Er nimmt sie. »Womit stimmen Sie nicht überein?«
»Ich halte es lediglich für verfrüht, schon irgendwen auszuschließen.«
Er mustert mich seltsam, als versuche er, mich zu dechiffrieren. Ich weiche seinem Blick aus und konzentriere mich auf meine Notizen. »Der Kerl ist offensichtlich in einer Phase, wo alles eskaliert«, sage ich. »Glauben Sie, es gab einen Auslöser dafür?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass etwas in seinem Privatleben passiert ist. Möglicherweise im Zusammenhang mit einer Frau. Einer Ehefrau oder Freundin. Er kann nicht gut mit Ablehnung umgehen und könnte sich rächen.«
»Er hasst Frauen?«
»Er hasst sie, aber er begehrt sie auch. Auf abartige Weise.«
»Wie wählt er seine Opfer aus?«, frage ich.
»Eine Frau fällt ihm ins Auge. Er beobachtet sie eine Zeitlang. Ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Dabei lernt er ihren Tagesablauf kennen und findet heraus, wann sie am schutzlosesten ist. Wann er sie kriegen kann.«
»Ich habe die Befragung der Zeugen auf die Stunden vor dem Verschwinden der Opfer begrenzt. Wenn dieser Kerl seine Opfer schon Tage vor der Verschleppung belauert hat, sollten wir besser mit allen reden, die mit Amanda Horner und Ellen Augspurger bereits vier oder fünf Tage vor ihrem Verschwinden Kontakt hatten.«
»Da stimme ich zu.«
»Bevorzugt er einen bestimmten Frauentyp?«
»Beide Opfer sind jung, Anfang und Mitte zwanzig. Attraktiv. Zierlich.«
»Das trifft auf viele Frauen in dieser Stadt zu.«
Er nickt. »Fragen Sie weiter.«
»Wo tötet er?« Ich denke laut. Was mir gerade in den Sinn kommt. Brainstorming.
»Er braucht Abgeschiedenheit«, sagt er. »Einen Ort, an dem ihn niemand hören kann.«
»Keller.«
»Leerstehende Wohnhäuser oder sonstige Gebäude.«
»Ein schalldichter Raum.«
Er wirft mir eine Hürde hin. »Wenn er eine Frau hat, würde sie von dem Raum oder Keller wissen.«
»Nicht, wenn er woanders ist. Außerhalb. In einem Mietobjekt.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Warum glauben Sie, dass die Frau nicht involviert ist?«
»Falls sie eine abhängige Persönlichkeit hat und er sie dominiert, wäre es möglich«, räumt er ein. »Aber ich halte das für unwahrscheinlich. Diese Morde sind zu brutal. Der Kerl hält sich nicht zurück. Er ist allein. Hemmungslos. Er lebt seine Phantasien vollkommen ungestört aus.«
Plötzlich herrscht Schweigen. Wir sehen uns an. Tomasetti wirkt aufgeregt, wie ein Spürhund, der eine Fährte wittert.
»Aufgabenverteilung«, sagt er nach einer Weile. »Ich muss wissen, wer wofür zuständig ist. Ihre Polizisten. Das Büro des Sheriffs. Damit wir keine Kraft verschwenden, weil alles doppelt gemacht wird.«
Ich blättere in meinem Notizblock zu der Seite, wo die Aufgabenverteilung notiert ist. »Mona kann das für Sie tippen.«
»Das Profil wird heute Nacht fertig.«
Ich nicke. »Geben Sie es morgen früh Mona, sie verteilt es dann.«
Er nimmt sich die Schlächter-Akte. »Kann ich die haben?«
»Wenn Sie sie morgen wieder mitbringen.« Ich frage nicht, wann er vorhat zu schlafen.
Tomasetti steht auf und streckt sich, wobei die Sig-Sauer-Halbautomatik in seinem Schulterholster zum Vorschein kommt. Mir fällt auf, dass er für einen Cop ungewöhnlich gut gekleidet ist: perfekt sitzendes Oxford-Hemd, teure Krawatte, gut geschnittener Anzug. Details, die mir nicht auffallen sollten.
»Dann bis morgen früh.« Er geht zur Tür.
Ich sehe hinter ihm her, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Wir haben nicht viel erreicht, aber das Profil ist ein Anfang. Und ich habe das Gefühl, ich kann mit ihm zusammenarbeiten. Er ist ein Gewinn für unser Team, ich hoffe nur, das reicht aus.
Ich trete zum Fenster und blicke hinaus auf die menschenleere Straße, den glitzernden Schnee im Schein der Laterne. Meine Gedanken wandern zum Mörder, und ich frage mich, ob ihn gerade sein schauriger Hunger quält. Ob er irgendwo dort draußen Ausschau nach seinem nächsten Opfer hält. Ob er es womöglich schon gefunden hat.