7. Kapitel
Als John Tomasetti das Büro von Special Agent Supervisor Denny McNinch betrat und Deputy Superintendent Jason Rummel am Fenster stehen sah, war ihm klar, dass es ihm an den Kragen ging. Das letzte Mal hatte er Rummel vor sechs Monaten gesehen, als ein Ermittler des FBI, Field Agent Bryant Gant, in Toledo bei einer Hausdurchsuchung erschossen worden war. Es hieß, der stellvertretende Dienststellenleiter würde sich nur aus seinem Eckbüro herausbemühen, wenn es um Einstellungen, Rauswürfe oder Todesfälle ging. John musste nicht lange rätseln, auf welcher der drei Varianten sein persönliches Erscheinen hier beruhte.
Am Konferenztisch saß bereits die Leiterin der Personalabteilung, Ruth Bogart, wie immer in einem Kostüm von Kasper und dem obligatorischen Starbucks-Becher in Reichweite. Sie blätterte in einer braunen Akte, die dick angeschwollen war von zu vielen Formularen und zerfleddert von zu vielen Bürokratenfingern, die darin gewühlt hatten. Und diese Akte, das war ihm klar, trug garantiert Johns Namen.
Eigentlich müsste er Angst um seinen Job haben oder zumindest fürchten, sein Gehalt und seine Krankenversicherung zu verlieren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er möglicherweise dem Ende seiner Polizeikarriere, die er sich zwanzig Jahre lang aufgebaut hatte, entgegensah.
Doch das war John egal, genau genommen ging ihm derzeit so ziemlich alles am Arsch vorbei. Dass das selbstzerstörerisch war, wusste er. Aber im Moment ärgerte ihn bloß, dass man ihn von seinem Cranberry-Muffin und Kaffee weggeholt hatte.
»Sie wollten mich sprechen?«, sagte er in die Runde.
»Nimm Platz.« Denny McNinch zeigte auf einen der vier schicken Lederstühle am Tisch. Er war ein massiger Mann, trug immer zu kleine Anzüge und zog nie das Jackett aus, wahrscheinlich weil er unter den Armen triefte. John fragte sich, ob er ahnte, dass ihn alle FBI-Agenten und Verwaltungsangestellte hier hinter seinem Rücken Sumpfarsch nannten.
Als John vor zwei Jahren hierher ins Ohio Bureau of Criminal Identification and Investigation versetzt wurde, war Denny noch Field Agent gewesen. Er hatte Gewichte gestemmt und lief eine Meile mit fünfzig Pfund Gepäck auf dem Rücken in fünf Minuten. Er war ein ziemlich guter Schütze und hatte den schwarzen Gürtel in Karate – also ein echt tougher Kerl, mit dem sich keiner anzulegen wagte. Doch dann war er die politische Leiter hochgeklettert und auf diesem beschwerlichen Weg vom Vorgesetzten zum bloßen Amtsträger mutiert. Er hörte mit dem Schießen auf, dem Laufen. Durch die viele Schreibtischarbeit wurde aus dem muskulösen Mann ein schwabbeliger, und der Respekt der Kollegen verwandelte sich in gnädige Geringschätzung. Doch John empfand kein Mitleid mit Denny; es war dessen eigene Entscheidung gewesen. Außerdem gab es schlimmere Schicksale.
Rummel hingegen war von Anfang an ein Bürohengst gewesen. Er war klein, von schmächtiger Statur und hatte einen Schnauzer, der an Hitler erinnerte, was schon einigen Field Agents zu unpassender Zeit ein Lächeln entlockt hatte – in der Regel ihr letztes als Polizist. Rummel kompensierte sein körperliches Defizit mit Kotzbrockenverhalten. Als Vorgesetzter hatte er echt soziopathische Züge. Der Mann mit der Axt. Ein Raubtier mit Reißzähnen und scharfen Klauen, die er gern benutzte. Mit fünfzig spielte er bereits in der obersten Etage des BCI mit und hatte bloß aus Spaß an der Freude so mancher Karriere ein Ende gesetzt.
Als John einen Stuhl unterm Tisch hervorzog, ging er davon aus, dass auch er jetzt die Klauen zu spüren bekam. »Was gibt’s zu feiern?«, fragte er. »Hat jemand Geburtstag?«
McNinch setzte sich schweigend und ohne ihn anzusehen auf den Stuhl neben ihn. Kein gutes Zeichen.
»Spiel nicht den Klugscheißer«, murmelte er.
Rummel blieb stehen. Der kleine Mann, der gern groß wäre. Er ging zum Tisch und sah zu John hinab. »Agent Tomasetti, Sie haben eine bemerkenswerte Karriere im Polizeidienst gemacht.«
»›Bemerkenswert‹ wird in diesem Zusammenhang eher selten bemüht«, erwiderte John.
»Sie kamen mit der Empfehlung von ganz oben zum BCI.«
»Was Sie garantiert vom ersten Tag an bedauert haben.«
Rummel lächelte. »Durchaus nicht.«
John sah die drei nacheinander an. »Hört mal, wir alle hier wissen doch, dass ihr mich nicht herbeordert habt, um mir auf den Rücken zu klopfen und zu erzählen, wie bemerkenswert ich bin.«
McNinch seufzte. »Du hast den Drogentest nicht bestanden, John.«
»Ich nehme Medikamente. Das wisst ihr auch.« Es stimmte; er nahm verschreibungspflichtige Pillen, sogar mehrere Sorten. Zu viele, ehrlich gesagt, aber nach Ehrlichkeit stand ihm momentan nicht der Sinn.
Ruth Bogart ergriff zum ersten Mal das Wort. »Warum haben Sie das bei der Abgabe Ihrer Urinprobe nicht auf dem Formblatt vermerkt?«
John blickte sie düster an. »Weil es verdammt noch mal keinen was angeht, welche Medikamente ich nehme.«
Unter der Estée-Lauder-Make-up-Schicht lief Bogart rot an.
McNinch rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. »Gut, John. Kann dein Arzt das mit den Medikamenten bestätigen?« Eine vernünftige Frage vom Hüter des Friedens. Dem Mann in der Mitte. Einem Mann, der früher wie John gewesen war, bis der ganze Papierkram ihn in einen nutzlosen fetten Kerl im Anzug verwandelt hatte.
»Sicher kann er das.« Das war zwar gelogen, verschaffte ihm aber Zeit. Mehr konnte er für sich in dieser heiklen Situation nicht rausholen.
Bogart ergriff wieder das Wort. Sie war sauer, weil er sie vor ihren Kollegen in Verlegenheit gebracht hatte. »Ich brauche den Namen und die Telefonnummer Ihres Arztes.«
»Von welchem? Ich hab mehrere.«
»Der Ihnen die Pillen verschreibt.«
»Sie verschreiben mir alle Pillen.«
Bogart schüttelte den Kopf. »Den Namen, John.«
Er sah ihr an, dass sie ihn gern als Arschloch tituliert hätte, sich aber nicht traute. Ruth Bogart war viel zu politisch-korrekt, um zu sagen, was sie dachte. Doch sobald er ihr den Rücken zudrehte, würde sie ihm freudig das Messer reinstoßen.
John nannte ihr die Namen von drei Ärzten und deren Telefonnummern. Es gab noch mehr – er war bei seiner Ärzte-Tour ziemlich herumgekommen –, doch er beließ es dabei, da in vielen Staaten die Beschaffung von Rezepten bei mehreren Ärzten illegal war.
John lehnte sich im Stuhl zurück. »Wenn ihr mich beim Arsch kriegen wollt, dann beordert mich wegen meiner Leistungen oder Fehlzeiten her, aber nicht wegen ’nem Drogentest. In Anbetracht meines Werdegangs beim BCI und der Polizei in Cleveland wird es nicht einfach, mich aufgrund einer Urinprobe zu feuern.« Er senkte die Stimme. »Die Leute mögen es nicht, wenn die Guten unfair behandelt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr so ’ne negative PR braucht. Und wenn es zum Rechtsstreit kommt …« Er zuckte die Schultern.
McNinch sah ihn alarmiert an. »John, niemand will dich loswerden.«
»Wir gehen nicht davon aus, dass es zu einem Rechtsstreit kommt«, fügte Bogart hinzu.
John glaubte keinem von beiden.
Rummel legte sein ledergebundenes Notizbuch auf den Tisch und setzte sich. »Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Medikamenten und den Fehlzeiten?«
John konnte nicht anders, er musste einfach lachen. Dabei hatte er wirklich keinen Grund dazu, seine Karriere war im Eimer und sein Leben schon längst den Bach runtergegangen. Aber es gab ja immer noch Rummels ulkigen Schnauzer. Der Deputy Superintendent sah Bogart kurz an, woraufhin diese ihm ein Blatt Papier reichte. Rummel legte es auf den Tisch, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Sie haben dieses Jahr schon zehn Tage gefehlt, und wir haben erst Januar.«
»Ich hatte Grippe.«
»Zehn Tage lang?«
»Es war ’ne schlimme Grippe.«
Aus dem Augenwinkel sah John, wie Bogart die Augen rollte.
Rummel runzelte die Stirn. »John, Sie müssen sich an den Leitfaden für Angestellte genauso halten wie alle anderen auch.«
Bogart stimmte ihm zu. »Wir brauchen eine Krankmeldung von Ihrem Arzt.«
»Ich war im Krankenhaus.«
»Dann die Rechnung«, sagte sie. »Für unsere Unterlagen.«
Als Johns Blick über ihre Gesichter glitt, schlug sein Herz plötzlich schneller. Vor zwei Jahren hatte er mit großen Erwartungen die Stelle als Field Agent beim BCI angetreten. Ein neuer Job in einer neuen Stadt sollte ihm einen frischen Start ermöglichen und aus dem schwarzen Loch helfen, in dem er seit dem Fiasko von Cleveland saß. Oder vielleicht sollte der Wechsel ihn auch vor sich selbst retten. BCI war eine erstklassige Behörde und die Arbeit als Field Agent des FBI etwas ganz anderes als sein voriger Job als Drogenfahnder; seine Aufgaben waren abwechslungsreicher. Er war nicht mehr so viel auf der Straße, es gab weniger Stress und die Leute waren okay – von Rummel einmal abgesehen.
Doch wie ein Wanderer mit einem Rucksack voller Steine hatte auch John seine Probleme mit nach Columbus gebracht. Die Wut. Die Trauer. Die Empörung über die Ungerechtigkeit des Lebens. Seinen Ruf und sein Stigma.
In Columbus, abgeschnitten von den wenigen Freunden, die er noch hatte, war er dann ganz zum Einsiedler geworden. Der hoffnungsvolle Neuanfang wurde zum hoffnungslosen Albtraum. Andere Ärzte, dieselben Probleme. Die gleichen Pillen. Die gleichen Flaschen Chivas. Der neue Job wurde ein neuer Misserfolg. Die Namen hatten sich geändert, doch der Umzug selbst nichts.
Und jetzt wollten ihn die hohen Tiere beim BCI loswerden, im Alter von zweiundvierzig Jahren sah er sich mit dem Vorruhestand konfrontiert. Oder vielleicht konnte er als Wachmann im örtlichen Supermarkt arbeiten. Doch John wollte noch nicht aufhören. Denn wenn er ehrlich war, gab es da draußen kaum etwas für einen ehemaligen Polizisten mit Psychoakte, dem Ruf eines Raubeins und dem beruflichen Werdegang eines kiffenden Studenten. Zwar hatte es in Cleveland letztlich nicht zu einer Anklage gereicht, doch das Stigma würde ihm bis ans Lebensende anhaften.
Rummel sah John seelenruhig in die Augen. »Haben Sie schon mal über einen Vorruhestand nachgedacht? Unter Berücksichtigung Ihres Dienstes bei der Polizei in Cleveland könnten wir Ihnen einen Deal anbieten.«
John wusste, dass er das Angebot annehmen sollte. Der Gnadenschuss, wie bei einem verletzten Pferd. Aber mein Gott, er wollte seine Laufbahn nicht beenden, dann könnte er genauso gut gleich sterben. Selbst das hatte er schon in Betracht gezogen, war jedoch zu feige dazu.
»Was für einen Deal?«, fragte er.
Mit leuchtenden kleinen Nageraugen lehnte sich Rummel auf dem Stuhl vor. »Für den Fall, dass Sie nicht zwischen den Zeilen lesen gelernt haben: Das ist keine Bitte.«
»Akzeptier den Deal«, sagte McNinch ruhig.
»Das Angebot ist mehr als fair«, fügte Bogart hinzu. »Die kompletten Sozialleistungen und einen Dienstwagen.«
John krümmte sich innerlich. Seine Verachtung für diese Menschen hier war wie eine Schlange, die sich unter seiner Haut wand und jeden Moment hervorschießen und zubeißen konnte. »Fair ist wohl nicht das richtige Wort, oder?«
»Wir wissen, was Sie durchgemacht haben«, lenkte Bogart ein.
»Das möchte ich doch sehr bezweifeln«, stieß John zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Wir verstehen ja Ihre … Situation.« Rummels Beitrag.
John sah ihn an, fragte sich, wie oft er diese leeren Worte schon zu anderen Ermittlern gesagt hatte, die ihren Partner oder einen anderen nahestehenden Menschen verloren hatten. Falscher Hund. Wahrscheinlich machte ihm die Heuchelei sogar Spaß. Am liebsten hätte er ihn über den Tisch hinweg am Kragen gepackt und so lange mit dem Gesicht aufs Rosenholz geschlagen, bis seine Nase ein blutiger Brei war. John fühlte, wie seine Schläfen pochten und ihm das Blut in den Ohren rauschte.
Er zählte stumm bis zehn, so wie es ihm ein Pillendoktor geraten hatte, doch es half nichts. »Ich denke darüber nach«, stieß er hervor.
Denny stöhnte laut auf. »John, verdammt noch mal …«
John stieß sich vom Tisch weg und stand auf. »Wenn ihr mich loswerden wollt, schlage ich vor, ihr legt eure Karten auf den Tisch und redet Tacheles.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zur Tür.
»John!«, schrie McNinch.
John blieb nicht stehen, blickte nicht einmal zurück.
»Lassen Sie ihn gehen«, sagte Rummel ungerührt.
Als John die Tür mit beiden Händen aufriss, knallte sie so heftig gegen die Wand, dass im Flur der gerahmte Justizminister wackelte. Tastaturen verstummten, Gesichter wandten sich ihm zu: hübsche Verwaltungsangestellte, ein Field Agent mit einem Krispy-Creme-Donut in der Hand, der Typ aus der Poststelle mit seinem Wagen voller Briefumschläge. Sie alle blickten argwöhnisch drein, als könnte er jeden Moment seine Pistole ziehen und Amok laufen. Ein bisschen nachmittägliche Unterhaltung zu Milchkaffee und Cola light. Eine Tragödie im vierzehnten Stock. Wo bleibt das Popcorn?
Auf dem Weg zu seinem Büro spürte John die bohrenden Blicke im Rücken. Er ging hinein, sah sich um und fragte sich, was in ihn gefahren war. Er hätte das Angebot annehmen sollen. Er hätte ruhig bleiben sollen. Wenn es jetzt nach Rummel ging, würden sie ihn feuern. Genug Gründe hatte er ihnen ja geliefert: flüssige Nahrung zum Lunch, benebelte Nachmittage – und das auch nur, wenn er überhaupt im Dienst erschienen war. Seine Schwäche für verschreibungspflichtige Medikamente war nur das Tüpfelchen auf dem i.
Aber er hätte nicht gewusst, was er ohne die Pillen machen sollte. Wie er ohne sie durch den Tag oder – schlimmer noch – durch die Nacht kommen sollte. Im Prinzip war alles ein einziges Desaster.
Er trat ans Fenster hinter seinem Schreibtisch und starrte auf die Autos, die vierzehn Stockwerke tiefer auf der Broad Street fuhren. Der Gedanke, allem ein Ende zu setzen, kam ihm nicht zum ersten Mal. Er könnte nach Hause gehen, sich Mut antrinken – und es hinter sich bringen. Doch John war zwar ganz unten, aber nicht so weit, sich das Hirn wegzublasen.
Noch nicht.
Mit einem Seufzer wandte er sich vom Fenster ab und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder. Er dachte an Nancy und Donna und Kelly und schämte sich, was aus ihm geworden war. Der Drang, die Fotos hervorzuholen, war stark, doch er widerstand ihm. Ihr Anblick würde ihm nicht helfen, sich besser zu fühlen. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie aussahen. Wenn er an seine Frau und seine beiden kleinen Mädchen dachte, hatte er immer die Bilder jener schrecklichen Nacht vor Augen, als er sie gefunden hatte …
Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Es ist offen.«
McNinch trat sichtlich zerknirscht ein. »Tut mir leid, was gerade passiert ist.«
»War nicht anders zu erwarten.«
»Rummel weiß, dass du ein guter Polizist bist.«
»Rummel weiß absolut nichts über mich.«
McNinch setzte sich auf den Besucherstuhl und tat, als interessiere er sich für die Gedenktafeln, Belobigungen und gerahmten Diplome an der Wand. »Es war ein guter Deal«, sagte er nach einer Weile.
»Ich bin noch nicht reif für die Rente.«
»Es gibt eine Menge Dinge, die du machen könntest, John. Mit weniger Stress.«
Sein Lächeln wirkte gequält. »Meinst du so was in der Art von ›Miete dir einen Polizisten‹?«
McNinch runzelte die Stirn. »Verdammt, was weiß ich. Werd Privatdetektiv. Ein Freund von mir in Houston, ein ehemaliger Cop, arbeitet beim Sicherheitsdienst einer großen Pizza-Kette. Verdient nicht mal schlecht. Ein anderer ist Friedensrichter.«
»Schön für sie.«
»Du musst was machen, John. Rummel will dich loswerden. Er ist wie ein Hund und du bist ein verdammter Knochen. Im Moment kannst du noch selbst bestimmen, wie du aus der Tür rausgehst. In sechs Monaten hast du den Luxus vielleicht nicht mehr.«
John sah ihn düster an. »Als Luxus würde ich das nicht gerade bezeichnen.«
»Ach Mann, ich weiß, du hast Schlimmes durchgemacht –«
»Ich hab nichts Schlimmes durchgemacht«, fuhr er ihn an. »Herrgott noch mal, sprich es aus. Hör mit der beschissenen Schönrederei auf.«
Verdrossen sah Denny auf seine Hände. »Ich bin auf deiner Seite.«
»Du bist auf der Seite, die für dich gerade am bequemsten ist. Aber ich hab’s kapiert, Denny. Ich bin lang genug dabei, um zu wissen, wie’s läuft.«
»Tut mir leid, dass du so denkst.«
»Yeah, mir auch.«
McNinch erhob sich und ging zur Tür.
Auf dem Stuhl zurückgelehnt, sah John hinter ihm her. Als die Tür zufiel, zog er die Schreibtischschublade auf und holte den Flachmann raus, die Silberschicht schon ganz matt vom vielen Gebrauch. Die Ironie, dass die Flasche ein Geschenk seiner Frau gewesen war, ließ ihn jedes Mal wieder innehalten, bevor er einen Schluck daraus nahm.
Er griff seine Aktentasche, legte sie auf den Schoß und ließ sie aufschnappen. Erleichterung durchflutete ihn, als er in der Seitentasche das Pillenfläschchen ertastete. Er hasste sich dafür, was aus ihm geworden war – die kranke Parodie des Mannes, den er einmal dargestellt hatte. Ein verdammter Junkie. Er war alles, was er verachtete: schwach, abhängig, pathetisch. Er würde gern die Ärzte verantwortlich machen. Immerhin waren sie es, die ihm so eifrig die Pillen verschrieben hatten. Aber vor zwei Jahren war John ein totales Wrack gewesen, so fertig, dass er mit Selbstmordgedanken spielte. Einmal hatte er sich sogar schon den Pistolenlauf in den Mund gesteckt, hatte das Pistolenöl geschmeckt und die Angst, als seine Zähne auf den kalten Stahl klapperten.
Er drückte den Plastikverschluss auf und nahm zwei Xanax und eine Valium raus. Der Arzt hatte zwar gesagt, dass er sie nicht zusammen nehmen dürfe, doch mit der Trial-and-Error-Methode hatte er herausgefunden, welche Pillenkombination ihm am besten durch den Tag half.
Er zog die gerahmte Fotografie aus der Aktentasche und blies den Papierstaub und die Bleistiftspäne ab. Seine verstorbene Frau Nancy und seine zwei kleinen Mädchen, Donna und Kelly, lächelten, als könnte ihnen nichts auf der Welt etwas anhaben. Der Blick auf das Foto war auch nach all der Zeit nicht leichter geworden. Er hätte sie beschützen müssen.
John stellte es auf den Schreibtisch, schob sich die Pillen in den Mund und hob den Flachmann hoch. »Der ist für dich, Nancy«, flüsterte er und spülte sie mit hochprozentigem Whisky hinunter.