5. Kapitel
Ich sitze fünf Minuten vor dem Krankenhaus im Auto, bevor ich wieder handlungsfähig bin. Meine Hände zittern noch, als ich die Kurzwahlnummer fürs Revier eintippe. Mona nimmt nach dem ersten Klingelton ab.
»Ich möchte, dass Sie eine Liste mit allen leerstehenden Gebäuden, Grundstücken und Geschäftshäusern in und um Painters Mill zusammenstellen«, falle ich mit der Tür ins Haus. »So im Radius von fünfzig Meilen.«
»Irgendwelche besonderen Kriterien?«
»Machen Sie erst mal nur die Liste, sobald ich im Revier bin, gebe ich Ihnen mehr Einzelheiten.«
Ich lasse den Motor an und fahre Richtung Highway, versuche, nicht allzu viel an das zu denken, was ich als Nächstes tun muss.
Mein Bruder Jacob, seine Frau Irene und meine zwei Neffen, Elam und James, leben neun Meilen östlich der Stadt auf einer sechsundzwanzig Hektar großen Farm, die seit achtzig Jahren im Besitz der Familie Burkholder und nur über eine unbefestigte Straße zu erreichen ist. Gemäß amischer Tradition hat Jacob, der älteste und einzige männliche Nachkomme in unserer Familie, nach dem Tod meiner Mutter vor zwei Jahren die Farm geerbt.
Als ich auf die Schotterstraße einbiege, stelle ich auf Allradantrieb um und lenke den Explorer durch hohen Schnee, bete, dass ich nicht stecken bleibe. Ich fahre viel zu schnell durch die vertraute Landschaft, in der jetzt rechts von mir ein kleiner Garten mit Apfelbäumen auftaucht, deren kahle Äste mich unter ihrem weißen Winterkleid misstrauisch zu beäugen scheinen.
Ich gehöre nicht mehr hierher, bin eine Fremde, die unbefugt heiliges Land betritt. Diese Tatsache war mir nie bewusster als jetzt, wo ich die Welt meiner Vergangenheit betrete. Für die Menschen, die mir einmal sehr vertraut waren, bin ich jetzt eine Fremde. Ich besuche sie nur selten und kenne meine beiden Neffen kaum. Aber sosehr ich mir wünsche, dass sich das ändert, ist doch die Kluft zwischen uns zu groß.
Links von mir drängen sich sechs Milchkühe um einen Futtertrog voll schneebedecktem Heu. Ein Stück weiter biegt der Weg nach rechts ab, und schnurgerade aufgereihte Getreideballen lenken meinen Blick zu dem Farmhaus dahinter. Ein schönes Bild, wie es da so mitten in der Schneelandschaft liegt, und einen Moment lang flackert in mir die Erinnerung an eine einfachere Zeit auf. Eine Zeit, als meine Schwester, mein Bruder und ich barfuß und sorglos über Weizenfelder tollten und im hohen Getreide Versteck spielten. Mir fallen die Wintertage ein, an denen wir mit unseren Cousins stundenlang auf Millers Teich Eishockey spielten. Damals hatten wir Kinder nur wenige Pflichten, mussten die Kühe und Ziegen melken, die Hühner füttern, unserer Mamm beim Bohnenpflücken helfen und, natürlich, beten.
Diese glückliche Kindheit endete abrupt in dem Sommer, als ich vierzehn wurde. An dem Tag, an dem ein Mann namens Daniel Lapp unser Haus betrat in der Absicht zu töten. An dem Tag habe ich meine Unschuld verloren. Meine Fähigkeit zu vertrauen. Und zu vergeben. Meinen Glauben an Gott und an meine Familie. Fast hätte ich auch mein Leben verloren, und in den darauf folgenden Wochen wünschte ich mehr als einmal, es wäre so gekommen.
Seit Mamms Beerdigung vor zwei Jahren war ich nicht mehr hier gewesen. Die meisten Amischen finden es wahrscheinlich beschämend, dass ich meinen Geschwistern aus dem Weg gehe, doch ich habe meine Gründe.
Wäre meine Mutter nicht vor drei Jahren an Brustkrebs erkrankt, wäre ich nie wieder nach Painters Mill zurückgekommen. Doch Mamm und ich hatten immer eine besondere Beziehung zueinander gehabt. Sie hatte mich unterstützt, als andere es nicht taten – besonders als ich ihr und meinem Vater mitteilte, nicht der Glaubensgemeinschaft beitreten zu wollen. Ich wurde nach meiner Zeit der Rumspringa, in der den Jugendlichen viele Freiheiten zugestanden werden, nicht getauft, was meine Mutter zwar nicht guthieß, aber auch nicht verurteilte. Und sie hatte nie aufgehört, mich zu lieben.
Mit achtzehn zog ich nach Columbus, wo ich ein ganzes Jahr lang arm wie eine Kirchenmaus war, unglücklich und verlorener als jemals zuvor. Die Rettung brachten eine ungewöhnliche Freundschaft und schließlich ein noch ungewöhnlicherer Job. Gina Colorosa lehrte mich, nicht amisch zu sein, und brachte mir in einem Schnellkurs all die gottlosen Gewohnheiten der »Englischen« oder Nicht-Amischen bei. Hungrig nach neuen Erfahrungen, lernte ich schnell. Ich kannte sie gerade mal einen Monat, als wir zusammen in eine Wohnung zogen und von Fast Food, Heineken-Bier und Marlboro Lights lebten. Sie arbeitete im Polizeipräsidium von Columbus in der Einsatzzentrale und verhalf mir zu einem Job in einem kleinen Revier in der Innenstadt, wo ich Anrufe entgegennahm. Diese Mindestlohn-Stelle war in den folgenden Wochen meine Welt – und meine Rettung.
Schon bald schrieben Gina und ich uns am städtischen College ein, um einen Abschluss in Strafrecht zu machen. Es war eine der besten und aufregendsten Zeiten in meinem Leben. Mamm kam mit dem Bus zu meiner Abschlussfeier nach Columbus, eine eklatante Missachtung der Ordnung, in der die Regeln unserer Kirchengemeinde festgelegt sind. Meine Mutter tat es trotzdem, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Ich machte sie mit Gina bekannt und eröffnete ihr, dass wir uns an der Polizeiakademie einschreiben wollten. Das verstand sie zwar nicht, hielt aber weiter zu mir. Es war das letzte Mal, dass ich sie vor der Krebsdiagnose gesehen hatte. Sechs Monate nach meiner Graduierung hatte Datt plötzlich einen Schlaganfall und starb. Ich war nicht auf seiner Beerdigung. Doch für meine Mamm war ich zurückgekommen, um am Ende ihres Lebens bei ihr zu sein. Und um auf der Farm mitzuhelfen. Das war jedenfalls mein Vorwand. Aber wenn ich ehrlich bin, hatte es mich schon länger in Richtung Heimat gezogen. Zurückblickend weiß ich, dass es nicht nur der bevorstehende Tod meiner Mutter war, der mich zu dem Umzug bewogen hatte. Tief im Inneren wusste ich, dass die Zeit reif war, mich meiner Familie zu stellen – und einer Vergangenheit, vor der ich seit über einem Jahrzehnt weggelaufen war.
Zwei Wochen nach dem Tod meiner Mutter, als meine Schwester Sarah und ich gerade ihre Sachen durchsahen, erschienen zwei Stadtratsmitglieder auf unserer Farm. Norm Johnston und Neil Stubblefield informierten mich, dass Delbert McCoy, der Polizeichef von Painters Mill, in einem Monat in Rente gehen würde, und wollten wissen, ob ich Interesse hätte, seine Nachfolge anzutreten.
Ich war vollkommen verblüfft, überhaupt gefragt zu werden: eine ehemalige Amische und obendrein eine Frau. Doch ich fühlte mich auch geschmeichelt, und zwar wesentlich mehr als angebracht. Erst später, als ich Zeit hatte, alles ins rechte Licht zu rücken, wurde mir klar, dass das Angebot mehr mit Kleinstadtpolitik zu tun hatte als mit meiner Erfahrung bei der Polizei. Painters Mill ist zwar eine idyllische Stadt, aber sicherlich nicht perfekt. Zwischen den Amischen und Englischen gibt es ernste kulturelle Probleme. Da der Tourismus einen Großteil der städtischen Einnahmen ausmacht, wollte der Stadtrat jemanden, der die erregten Gemüter beschwichtigen konnte, sowohl die der Amischen als auch der Englischen.
Ich war die perfekte Kandidatin: Ich hatte acht Jahre Diensterfahrung, einen Abschluss in Strafrecht und war in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. Und das Allerbeste: Ich war selbst einmal eine Amisch gewesen. Ich sprach fließend Pennsylvaniadeutsch, kannte die amische Kultur und stand ihrer Lebensweise verständnisvoll gegenüber.
Eine Woche später nahm ich das Jobangebot an. Ich quittierte meinen Dienst in Columbus, kaufte ein Haus, lud mein Hab und Gut in einen Umzugswagen und zog zurück in meine Heimatstadt. Das ist jetzt über zwei Jahre her, und ich habe meine Entscheidung nie bereut. Bis heute.
Das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, ist weiß und schlicht, mit einer großen vorderen Veranda und Fenstern wie langgezogene traurige Augen. Dahinter steht die Scheune, imposant und rot, wie zum Beweis ihrer zentralen Funktion. Das Getreidesilo daneben ragt hoch in den verhangenen Winterhimmel.
Ich parke in der Auffahrt und stelle den Motor ab. Von hier aus kann man den Garten hinter dem Haus sehen. Der Ahornbaum, den ich mit meinem Vater gepflanzt habe, als ich zwölf Jahre alt war, überragt inzwischen das Haus. Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig sich hier verändert hat, wo doch mein eigenes Leben so vollkommen anders geworden ist. Von all den Aufgaben, die ich heute Morgen zu bewältigen hatte, ist das jetzt die schwierigste. Aber dass ich mir eher den misshandelten Leichnam einer jungen Frau ansehen kann, als meiner eigenen Familie gegenüberzutreten, ist keine angenehme Vorstellung. Ich will nicht darüber nachdenken, was das über mich als Mensch aussagt, und muss mir beschämt eingestehen, dass ich bis ans Ende meiner Tage zufrieden leben könnte, ohne meine Geschwister je wiederzusehen.
Ich zwinge mich, aus dem Explorer auszusteigen. Wie schon bei Stutz, ist auch hier der Fußweg freigeschaufelt. Und zwar nicht mit einer motorisierten Schneefräse, sondern auf amische Weise mit der Schneeschaufel. Mit zittrigen Beinen und hochnervös gehe ich über die Veranda zur Eingangstür. Ich würde das zwar gern auf zu viel Kaffee, den Stress oder die Kälte schieben, doch ich weiß, dass es mit alledem nichts zu tun hat. Grund dafür ist der Mann, dem ich gleich gegenüberstehen werde, und das Geheimnis, das uns verbindet.
Ich klopfe und warte. Schritte werden laut, dann geht die Tür auf. Meine Schwägerin, Irene, ist einige Jahre jünger als ich, hat eine schöne Haut und klare, haselnussbraune Augen. Ihr Haar ist im Nacken zu einem Knoten gebunden und wird von der traditionellen Kapp bedeckt. In dem grünen Kattunkleid und der weißen Schürze repräsentiert sie den Typ Frau, der ich geworden wäre, wenn nicht das Schicksal eingegriffen und alles verändert hätte. »Guten Tag, Katie.« Sie spricht Pennsylvaniadeutsch, ihr Ton ist freundlich, doch ihre Augen können die Skepsis mir gegenüber nicht verbergen. Sie tritt zur Seite, macht die Tür ganz auf. »Wie geht’s?«
Ich trete ins Wohnzimmer, wo es nach gebratenem Schinkenspeck riecht. Im Haus ist es warm und gemütlich, doch ich weiß, wie sehr es in den Zimmern zieht, sobald die Temperatur unter null fällt.
Ich verliere keine Zeit mit netter Plauderei. »Ist Jacob da?«
Irene versteht nicht, warum ich mit meiner Familie keinen Umgang pflege. Ich habe sie nur wenige Male getroffen, doch immer den Eindruck gehabt, dass sie sich meine Schroffheit damit erklärt, dass ich unter Bann gestellt wurde. Doch die Wahrheit sieht ganz anders aus. Ich habe großen Respekt vor den Amischen und ihrer Kultur. Ich werfe ihnen nicht vor, dass sie mich in ihre Gemeinde zurückholen wollen. Doch ich verspüre nicht den Wunsch, Irene darüber aufzuklären.
»Er ist in der Scheune und repariert den Traktor«, antwortet sie.
Die Erwähnung des Traktors entlockt mir fast ein Lächeln. Mein Vater hatte nur einen Pferdepflug benutzt, doch Jacob, den viele Amische der Alten Ordnung für liberal halten, hatte letztes Jahr einen Traktor mit Stahlrädern gekauft.
»Soll ich ihn holen?«
»Ich gehe zu ihm.« Ich würde mich gern nach meinen Neffen erkundigen, kann mich aber nicht dazu durchringen und rede mir ein, keine Zeit zu haben. In Wirklichkeit weiß ich einfach nicht, wie ich auf sie zugehen kann.
Irene streicht sich die Schürze glatt und macht sich auf zur Küche. »Ich backe gerade Streuselkuchen. Möchtest du ein Stück, Katie? Und eine Tasse Tee?«
»Nein danke.« Ich bin kurz vor dem Verhungern, aber beim Betreten der Küche verspüre ich keinen Appetit. Sie ist mollig warm von der Hitze, die der Herd ausstrahlt, und anders gestrichen als bei meinem letzten Besuch. An der Wand zu meiner Rechten stehen neue Regale, die bis an die Decke reichen und mit Einmachgläsern und getrockneten Bohnen gefüllt sind. Doch keine der Veränderungen kann die Erinnerung auslöschen, die der Raum für mich enthält.
Auf dem Weg zur Hintertür bohren sich diese Erinnerungen wie krude, beharrliche Finger in mein Fleisch. Beim Passieren des Spülbeckens wird mir eng ums Herz, vor meinem inneren Auge taucht Blut darin auf, dickflüssig und rot auf weißem Porzellan. Mehr davon auf dem Boden, an meinen Händen, klebrig zwischen den Fingern …
Ich will Luft holen, doch es gelingt mir nicht. Meine Lippen und Wangen prickeln. Undeutlich nehme ich wahr, dass Irene etwas fragt, doch ich bin in Gedanken so weit weg, dass ich nicht antworten kann. Ich taste nach dem Türknauf, reiße die Tür auf. Die Kälte, die mir entgegenschlägt, reißt mich aus dem dunklen Tunnel meiner Vergangenheit. Die Erinnerungen verblassen, je näher ich der Scheune komme, und als ich sie erreiche, habe ich mich wieder beruhigt. Ich bin dankbar dafür, denn um meinem Bruder gegenüberzutreten, muss ich stark sein.
Die Scheunentür führt in eine saubere, aufgeräumte Werkstatt. Unter dem Fahrgestell eines Traktors, der mit zwei altmodischen Wagenhebern aufgebockt ist, gucken die Stiefel meines Bruders hervor.
»Jacob?«
Er gleitet unter dem Traktor hervor, setzt sich erst und steht dann auf, klopft den Dreck von Hose und Jacke. Unsere Blicke treffen sich. Er ist überrascht, mich zu sehen. Sein Gesichtsausdruck ist zwar nicht feindselig, aber auch nicht freundlich.
»Katie. Hallo.«
Mein Bruder ist sechsunddreißig Jahre alt, doch sein Vollbart ist schon mit Grau durchzogen. Sein Mund, der mich früher herzlich angelächelt hat, ist jetzt ein schmaler, stets Missbilligung ausdrückender Strich.
»Was machst du hier?« Er zieht die Arbeitshandschuhe aus und wirft sie auf den Traktorsitz.
Ich frage mich, ob er schon von dem Mord gehört hat. Die Amischen möchten zwar glauben, in einer von den Englischen getrennten Gesellschaft zu leben, doch das trifft nicht ganz zu. Meine Schwester arbeitet in der Stadt im Carriage Stop Country Shop, der hauptsächlich von englischen Touristen und Einwohnern von Painters Mill frequentiert wird. Zudem bekocht eine solide Gerüchteküche die ganze Stadt, und wer Ohren hat, der hört, selbst wenn man amisch ist.
Ich schiebe die Hände in die Jackentaschen und gehe noch tiefer in die Scheune hinein, brauche einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Der erdige Geruch von Mist und Heu erinnert mich an die Tage, die ich in meiner Kindheit in der Scheune verbracht habe. Weiter hinten stehen vier Jersey-Kühe, die rosa Euter prall mit Milch gefüllt. Rechts von mir, in Regalen aus Kiefernbrettern und Backsteinen, sind ein Dutzend rote und weiße Briefkästen aufgereiht, die wie Farmhäuser aussehen. Daneben stehen kunstvolle Vogelhäuser und Schaukelpferde mit echter Pferdemähne, und mir wird bewusst, dass Jacob das handwerkliche Geschick unseres Vaters geerbt hat.
Als ich ihn hinter mir höre, drehe ich mich zu ihm um. »In Painters Mill wurde letzte Nacht ein Mädchen ermordet«, beginne ich.
Er steht keine zwei Meter von mir entfernt da, den Kopf leicht zur Seite geneigt und einen vorsichtigen Ausdruck im Gesicht. »Ermordet? Wer?«
»Amanda Horner, eine junge Frau.«
»Ist sie eine Amisch?«
Es ärgert mich, dass ihm das wichtig ist, doch ich sage nichts. Zu viele Gefühle brodeln in mir. Wenn ich diese Büchse der Pandora erst einmal aufmache, kann ich sie vielleicht nicht wieder schließen. »Nein.«
»Was hat der Mord mit mir und meiner Familie zu tun?«
Ich sehe meinem Bruder fest in die Augen. »Die Frau wurde auf die gleiche Weise getötet wie die Mädchen Anfang der neunziger Jahre.«
In der Stille der Scheune klingt sein rasches Luftholen wie ein Flüstern. Er sieht mich an wie eine Fremde, die gekommen ist, seine Welt zu zerstören.
»Wie ist das möglich?«, fragt er kurze Zeit später.
Die gleiche Frage wütet in mir wie ein Sturm. Weil ich keine Antwort darauf habe, starre ich ihn an und tue alles, um nicht zu zittern. »Vielleicht ist es der gleiche Kerl.«
Ich kann sehen, wie in Jacobs Kopf die Gedanken zu jenem furchtbaren Tag gezerrt werden. Einem Tag, an dem alle in unserer Familie zerstört wurden, besonders ich. Er schüttelt den Kopf. »Das ist unmöglich. Daniel Lapp ist tot.«
Ich schließe die Augen vor den Worten, an die ich sechzehn Jahre lang geglaubt habe. Worte, die mir ein halbes Leben lang unermessliches Leid und große Schuldgefühle bereitet haben. Ich öffne die Augen, sehe meinen Bruder wieder an und weiß, dass er meine Gedanken lesen kann. »Ich muss ganz sicher sein«, sage ich. »Ich muss die Leiche sehen.«
Er sieht mich an, als hätte ich ihn gebeten, Gott abzuschwören.
Damals hatte ich erst Wochen nach dem Vorfall herausgefunden, dass Jacob und mein Vater die Leiche begraben hatten. Schreckliche Albträume hatten mich geplagt. Einmal war ich nachts schreiend im Bett aufgewacht, sicher, dass der Mann, der versucht hatte, mich zu töten, in meinem Zimmer war. Aber mein großer Bruder war zu mir geeilt, hatte mich tröstend in den Armen gehalten und mir verraten, dass Datt die Leiche im angrenzenden County in einem ehemaligen Getreidespeicher beerdigt hatte und dass der Mann nie wieder jemandem weh tun konnte.
»Du weißt, wo er begraben ist«, sagt Jacob. »Ich habe es dir erzählt.«
Das stimmt. Der alte Getreidespeicher wird seit zwanzig Jahren nicht mehr benutzt, ich bin schon hunderte Male dort vorbeigefahren. Aber ich habe nie angehalten, nie zu genau hingeguckt. Überhaupt gestatte ich mir nur selten, an das Geheimnis zu denken, das dort begraben liegt. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Ich kann dir nicht helfen.«
»Komm mit mir. Heute Abend. Zeig mir, wo genau.«
Er reißt die Augen auf, und ich sehe die Angst darin. Mein Bruder ist ein stoischer Mann, weshalb seine Reaktion noch schwerer wiegt. »Katie, Datt hat mich nicht mit reingenommen. Ich weiß nicht wo –«
»Ich schaffe es nicht alleine. Der Speicher ist groß, Jacob. Ich weiß nicht, wo ich nachsehen soll.«
»Daniel Lapp kann die furchtbare Tat nicht begangen haben«, sagt er.
»Jemand hat das Mädchen getötet. Jemand, der sich mit Einzelheiten dieser Morde auskennt, die damals nicht veröffentlicht wurden. Wie erklärst du dir das?«
»Kann ich nicht. Aber ich habe die … Leiche gesehen. Und all das Blut … zu viel, um zu überleben.«
»Hat er noch geblutet, als Datt ihn begraben hat?« Tote Menschen bluten nicht. Wenn Lapp zu dem Zeitpunkt noch geblutet hatte, lebte er noch. Er hätte sich aus dem flachen Grab befreien können und überleben …
»Ich weiß es nicht. Ich möchte nichts damit zu tun haben.«
»Das hast du aber.« Ich mache einen Schritt auf meinen Bruder zu, dringe in seinen Schutzraum ein. Das überrascht ihn so sehr, dass er zurückweicht und mich ansieht wie einen räudigen Hund. Ich hebe die Hand und halte ihm den Zeigefinger dicht vor die Nase. »Ich brauche deine Hilfe, verdammt noch mal. Ich muss die Gebeine finden, es führt kein Weg daran vorbei.«
Er starrt mich an, stoisch und schweigsam wie eine Statue.
»Wenn ich diesen Mistkerl nicht aufhalte, tötet er weiter.«
Jacob zuckt bei meinem Sprachgebrauch zusammen, was mir kurzfristig ein wenig Befriedigung verschafft. »Bring deine englische Art nicht in mein Haus.«
»Das hat nichts mit englisch oder amisch zu tun«, fahre ich ihn an. »Es geht darum, Menschenleben zu retten. Wenn du deinen Kopf in den Sand steckst, sterben vielleicht noch mehr Menschen. Willst du das?«
Mein Bruder senkt den Blick zu Boden, die Wangenmuskeln angespannt. Als er mich schließlich wieder ansieht, sind seine Augen um Jahre gealtert. »Seit sechzehn Jahren bitte ich Gott um Vergebung. Ich habe versucht zu vergessen, was wir getan haben.«
»Du meinst, was ich getan habe.«
»Was wir alle getan haben.«
In der Scheune wird es totenstill, wie aus Ehrfurcht vor dem Geheimnis, das gerade enthüllt wurde. Ich wusste, dass er zögern würde und dass ich ihn drängen muss. Doch eine Weigerung hatte ich nicht erwartet. Die Worte, die ich sagen muss, stecken mir wie stumpfe Rasierklingen im Hals. Ich spüre meinen Puls genau dort schlagen. Meine Wangen sind heiß. Ich bin Polizistin, ich habe einen Fall zu lösen, gemahne ich mich. Doch tief im Inneren bin ich ein Kind, das sich angesichts unfassbarer Brutalität wegduckt. Ein Mädchen, erdrückt von einem Geheimnis, das zu schwer wiegt, um es überhaupt einem Menschen aufzubürden. Ein Teenager, entsetzt von der eigenen Fähigkeit zur Gewalt.
»Wenn du in die Hölle kommst, dann nicht wegen dem, was du an jenem Tag getan hast.« Meine Stimme zittert. »Sondern wegen dem, was du heute nicht tust.«
»Allein Gott wird über mich richten, nicht du.«
Wut steigt in mir auf, ich knirsche mit den Zähnen und in meinem Kopf rauscht das Blut lautstark wie ein Güterzug. Ich mache noch einen Schritt auf ihn zu. »Wenn er wieder mordet, hast du eine weitere Tote auf dem Gewissen. Eine unschuldige Frau wird entsetzliche Qualen leiden, bis er ihr schließlich die Kehle durchschneidet. Denk darüber nach, wenn du heute Abend schlafen gehst.«
Ich wirbele herum und gehe zur Tür. Finstere Gedanken bevölkern mein Hirn, am liebsten würde ich die hübschen Briefkästen und Vogelhäuser zerschmettern, die mein Bruder mit viel Sorgfalt gebaut hat. Ich will ihm weh tun, genauso wie er mir weh tut. Doch ich reiße mich zusammen, sage mir, dass ich es auch alleine schaffen werde.
Ich stoße das Scheunentor mit beiden Handballen auf und bin schon auf halbem Weg zum Auto, als ich Jacobs Stimme hinter mir höre.
»Katie.«
Normalerweise wäre ich weitergegangen. Oder ich hätte ihn mit ein paar geschliffenen Worten beschimpft, die ihm klarmachen würden, wie weit ich mich von meinen amischen Wurzeln entfernt habe. Doch ich bleibe stehen, weil ich verzweifelt bin. Weil ich Angst habe. Weil ich nicht will, dass noch jemand stirbt.
»Ich komme mit.« Er stößt die Worte aus, doch seine Augen verraten den Widerwillen, mit dem er es tut. »Ich helfe dir.«
Tränen füllen meine Augen, und ungewollte Gefühle überwältigen mich. Weil ich nicht will, dass er meine Verletzlichkeit sieht, gehe ich weiter den Fußweg entlang.
»Ich hole dich nach Einbruch der Dunkelheit ab«, rufe ich ihm über die Schulter hinweg zu, und er starrt weiter hinter mir her.