8. Kapitel

Als ich auf dem Polizeirevier eintreffe, sind alle sechs Parkplätze belegt, auch meiner. Am liebsten würde ich dem Besitzer einen Strafzettel verpassen, doch er hat Glück, weil ich nämlich Wichtigeres zu tun habe. Ein Ford Crown Victoria mit allen polizeilichen Extras verrät mir, dass die Leute vom Holmes County Sheriff’s Department eingetroffen sind. Ich kann Hilfe gut gebrauchen, habe aber keine Lust, um irgendwelche Zuständigkeiten zu konkurrieren, nur weil Sheriff Nathan Detrick im Herbst wiedergewählt werden will.

Ich parke neben dem Feuermelder und gehe zur Eingangstür. Der Geräuschpegel, der mir von drinnen entgegenschlägt, kann mit dem einer Highschool-Cafeteria während der Mittagspause problemlos konkurrieren. In der Zentrale sitzt Lois und sieht genauso gestresst aus wie ihr malträtiertes Haar. Über sie gebeugt steht eine Frau mittleren Alters in einem rosa Parka und mit großen Perlenohrringen. Ich stöhne innerlich, als mir klar wird, dass die Frau Janine Fourman ist.

Janine ist die Vorsitzende des Painters Mill Ladies Club, ihr gehören der Carriage Stop Country Store am Verkehrskreisel sowie der Tea and Candle Shop in der Sixth Street. Sie ist Mitglied des Stadtrats, Gründungsmitglied der Historischen Gesellschaft, eine professionelle Wichtigtuerin und Quelle vieler Gerüchte.

Glock und der Deputy des Sheriffs von Holmes County sehen von ihrem Gespräch auf. Glock gibt mir zu verstehen, dass er dem Deputy mein Anliegen vermittelt hat: Helfen Sie uns, aber versuchen Sie nicht, uns die Show zu stehlen.

Der Deputy mustert mich von oben bis unten, als hätte er eine unscheinbare Frau mit Kapp und bequemen Schnürschuhen erwartet. Als ich auf ihn zutrete, hält er mir die Hand hin. »Deputy Hicks«, stellt er sich vor.

Hicks ist ein gedrungener, vor Muskeln strotzender Mann mit einem Hals so dick wie ein Telefonmast. Irgendwo bin ich ihm schon mal begegnet, kann mich aber nicht mehr erinnern wann und wo. Ich schüttele seine Hand. Sie ist feucht und sein Händedruck ist zu fest. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Ich soll Ihnen von Sheriff Detrick ausrichten, dass Sie auf unsere Unterstützung zählen können, falls Sie sie brauchen.«

»Danke für das Angebot.«

Er blickt Glock an, als wären sie schon gute Freunde. »Officer Rupert hat mich gerade über den Fall informiert. Ist ja ’ne üble Sache.«

Ich denke an Belinda Horner. »Besonders für die Familie.«

»Gibt’s schon einen Verdächtigen?«

»Wir überprüfen ein paar Leute und warten auf die Autopsie-und Laborergebnisse.«

»Glauben Sie, es ist derselbe wie damals?«

Da es hinter mir ganz still geworden ist, drehe ich mich um. Alle im Raum haben die Ohren gespitzt, in den Augen ein erwartungsvolles Glühen. Sie wollen Einzelheiten wissen, zur Anregung der dunklen Seiten ihrer Phantasie, aber auch Beruhigendes zur Besänftigung ihrer Ängste, damit sie sich keine Gedanken über einen Verrückten machen müssen, der in ihrer Stadt Amok läuft.

Ich schüttele den Kopf. »Wir haben nichts Konkretes, was die Annahme erhärtet.«

»Aber es sieht doch ganz danach aus, oder?« Er blickt mich neugierig an, ein Polizist, der einen rätselhaften Mord mit unerwarteter Wendung zu schätzen weiß. »Ich meine, die Wahrscheinlichkeit, dass in einer so kleinen Stadt zwei Mörder auf identische Weise töten, ist doch sehr gering.«

Ich antworte nicht. Stattdessen sehe ich ihn eindringlich an, wie einen Verdächtigen, der sich zu weit vorgewagt hat. Hicks versteht den Wink und fragt nicht weiter.

Da ich ihn nicht verärgern will, erzähle ich ihm von dem bevorstehenden Briefing und dass er gern dazukommen kann.

Ich kann sehen, dass ihn die Einladung freut. Er wird auf dem Laufenden gehalten, gehört dazu. »Ich muss wieder zurück. Der Sheriff wollte Sie nur wissen lassen, dass wir zur Verfügung stehen, falls Sie mehr Leute brauchen.«

Normalerweise hätte ich das Angebot sofort angenommen. Ich hätte eine Sonderkommission gebildet, in der die Kräfte mehrerer Behörden gebündelt würden und neben dem Büro des Sheriffs auch die State Highway Patrol und das Ohio Bureau of Criminal Identification and Investigation involviert. Doch das geht jetzt nicht. Ein halbes Dutzend übereifrige Polizisten im Nacken hätte mir gerade noch gefehlt.

Ich nehme mir vor, Detrick später anzurufen, um ihm persönlich zu danken und alle Vorwürfe, dass zu wenig gemacht wird, zurückzuweisen. »Wenn wir mehr Erkenntnisse haben, melde ich mich bei euch. Wir werden jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können.«

»Klingt gut.« Er nickt kurz und geht.

Ich schenke Glock ein Lächeln. »Danke.«

»Keine Ursache.«

»Das Briefing ist in zwei Minuten.« Im Gehen füge ich hinzu: »Mein Büro, sagen Sie allen Bescheid, ja?«

Glock salutiert grinsend und eilt an seinen Schreibtisch.

Ich will mir noch schnell die Telefonnachrichten aus der Zentrale abholen, als Janine Fourman sich mir in den Weg stellt. »Chief Burkholder, ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«

Der Wunsch, sie zu ignorieren, ist stark, doch ich widerstehe ihm. Sie ist eine gewichtige Frau, sowohl körperlich als auch hinsichtlich ihres Ansehens in der Gemeinde. Ich bin lange genug hier, um zu wissen, dass ich für jede Unhöflichkeit ihr gegenüber büßen müsste. Letztes Jahr hatte Janine bei der Bürgermeisterwahl kandidiert und verloren, aber nur, weil ein paar Leute herausfanden, dass sich hinter der Nette-Tante-Fassade eine Kreatur mit scharfen Krallen verbirgt. Auch mir gegenüber hat sie diese Krallen schon ein oder zwei Mal ausgefahren, und ich verspüre nicht den Wunsch, mich verbal misshandeln zu lassen, wenn ich einen Mord aufzuklären habe.

»Janine, ich habe gleich ein Meeting mit meinen Mitarbeitern.«

Sie ist etwa Mitte fünfzig, hat gefärbte schwarze Haare, kleine braune Augen und die kompakte Statur eines milchgefütterten Mastrinds. »Dann komme ich gleich zur Sache. In der ganzen Stadt redet man nur noch von dem Mord. Es heißt, der Serienmörder aus den frühen neunziger Jahren ist zurück. Stimmt das? Ist es der gleiche Kerl?«

»Ich werde nicht irgendwelche Vermutungen anstellen.«

»Haben Sie einen Verdächtigen?«

»Im Moment noch nicht.« Das Opfer scheint sie nicht zu interessieren.

»Und warum in aller Welt haben Sie Sheriff Detricks Hilfsangebot ausgeschlagen? Sie wollen doch nicht etwa versuchen, allein damit klarzukommen?«

Normalerweise kann ich mit aggressiven Strohköpfen wie Janine gut umgehen. Aber nach allem, was ich an diesem scheinbar endlosen Tag gesehen habe, gepaart mit meiner Müdigkeit und dem Gewicht der Verantwortung gegenüber dieser Stadt – und meines eigenen Geheimnisses –, bin ich mit meiner Geduld ziemlich am Ende.

»Ich habe Detricks Angebot nicht ausgeschlagen«, erwidere ich unwirsch. »Ich habe dem Deputy lediglich gesagt, dass ich das Büro des Sheriffs anrufe, sobald ich mich mit meinen Mitarbeitern zusammengesetzt habe und wir wissen, wo wir stehen.« Sie reißt die Augen auf, weil ich einen Schritt auf sie zumache, und ein Gefühl von Befriedigung durchströmt mich, als sie zurückweicht. »Und falls Sie vorhaben, mich zu zitieren, dann bitte korrekt.«

»Ich bin Mitglied des Stadtrats und habe ein Recht auf Antworten«, erwidert sie wütend.

»Sie haben ein Recht auf vieles, aber Sie haben kein Recht, Informationen auszuschmücken, die Sie zufällig mit angehört haben. Das gilt auch für falsches Zitieren, ist das klar?«

Ihr Mund wird zu einem dünnen Strich. Ihr Hals und ihre Wangen laufen rosarot an. »Es würde Ihnen zugute kommen, Chief Burkholder, wenn Sie mit den Menschen, die Sie bezahlen, besser kooperierten.«

»Ich werde es mir merken.« Da abzusehen ist, wo das Gespräch hinführt, will ich es beenden und werfe einen Blick zu meinem Büro. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss arbeiten.«

Ich lasse sie stehen und marschiere zur Zentrale. »Nachrichten?«

Lois schiebt mir ein Bündel rosa Zettel hin, legt die Hand auf die Sprechmuschel des Telefons und flüstert verschwörerisch: »Gut gemacht, Chief.«

»Wenn sie versucht, in mein Büro zu kommen, erschießen Sie sie.«

Ein Prusten unterdrückend, wendet sie sich wieder ihrem Gesprächspartner am Telefon zu.

»Chief Burkholder!«

Als ich mich umdrehe, kommt Steve Ressler auf mich zugeeilt. Er ist der Verleger des Advocate, ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit gesunder Gesichtsfarbe und vollem, rotblondem Haar.

Ich bleibe stehen, weil er wahrscheinlich der einzige mir wohlgesinnte Journalist ist, mit dem ich in nächster Zeit zu tun haben werde. »Machen Sie es kurz, Steve.«

»Sie haben für heute Nachmittag eine Presseerklärung versprochen.«

»Die kriegen Sie auch noch.«

Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Um fünf gehen wir in Druck.«

Normalerweise erscheint der Advocate nur freitags. Heute ist Montag, sie wollen also eine Extraausgabe drucken. »Geben Sie mir eine Stunde, okay?«

Er verzieht das Gesicht. Die Verzögerung gefällt ihm gar nicht, aber er ist klug genug, um zu wissen, dass ich nicht alles fallen lassen kann, um seinem Zeitplan zu genügen.

Steve mag zwar aussehen wie die ältere Version des gemütlichen Opi aus der Andy Griffith Show, doch er hat eine Typ-A-Persönlichkeit, wie sie im Buche steht.

Er blickt wieder auf die Uhr. »Können Sie sie faxen? Bis spätestens sechs?«

Um die Zeit ist es bereits dunkel. Ich ertappe mich dabei, die Dunkelheit zu fürchten. »Es gibt auch Sicherheitshinweise für die Bewohner, die ich abgedruckt haben möchte.«

»Das ist gut.« Ich sehe ihm an, dass er Fragen zu dem Mord stellen will, komme ihm aber zuvor und öffne die Tür zu meinem Büro.

Eine seltsame Erleichterung erfüllt mich beim Betreten des Raums. Ich knipse das Licht an und fühle mich getröstet angesichts meines kleinen, vollgestopften Refugiums. Den Mantel hänge ich an den Haken und schließe die Tür. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich zu sammeln. Schlagartig verlässt mich die Energie, die mich seit den frühen Morgenstunden angetrieben hat, und ich sinke auf den Stuhl, schließe die Augen und massiere sie mit den Handballen. Ich träume von einem Kaffee und was zu essen, brauche eine kurze Atempause, bevor ich mich mit den Fragen befasse, auf die ich keine Antworten habe. Dieser Fall ist ein Albtraum.

Doch vor meinen geschlossenen Augen sehe ich Amanda Horners geschundenen Körper, die tiefen Furchen an ihren Fußgelenken, das dunkle Blut im Schnee. Ich sehe die Qual in den Augen ihrer Eltern, die anders ist als die in meinem Herzen.

Während der Computer hochfährt, hole ich die »Schlächter«-Akte aus dem Hängeschrank und lege sie vor mich. Dann schreibe ich die Punkte auf meinen Notizblock, die ich mit meinen Mitarbeitern durchgehen will.

Aufgaben: T. J. – Kondome? Glock – Schuhabdrücke? Reifenprofilabdrücke? Mona – leerstehende Immobilien. Ich – ähnliche Verbrechen. Überprüfen – Connie Spencer, Donny Beck? Leute aus der Bar. Liste von Verdächtigen.

Ich stelle mir vor, was im Kopf des Mörders vorgeht, und notiere:

Motiv. Hilfsmittel. Gelegenheit. Warum tötet er? Sexuelle Befriedigung. Sexuell motivierter Sadismus? Wo tötet er? Ein Ort, an dem er sich sicher fühlt – entlegen, das heißt kein Knebel. Keine Angst vor Schreien des Opfers. Keller? Schalldichter Raum? Leerstehendes Haus?

Bei dem Punkt »Gelegenheit« frage ich mich, ob er berufstätig ist, und schreibe:

Arbeitet er?

Ein Klopfen unterbricht mich beim Denken. »Es ist offen.«

Die Tür geht ein Stück auf, und eine Hand mit einer Papiertüte von Ellis’s Burger Palace wird durchgeschoben.

»Ich komme mit Geschenken.«

»Wenn das so ist, treten Sie näher.«

T. J. kommt herein und stellt die Tüte auf den Schreibtisch. »Hamburger mit Gewürzgurke, keine Zwiebeln. Große Portion Pommes und eine Cola light.«

Der Duft entlockt meinem Magen ein Knurren. Lächelnd ergreife ich die Tüte. »Wenn Sie nicht schon vergeben wären, würde ich glatt um Ihre Hand anhalten.«

»Reiner Eigennutz, Chief. Damit Sie nicht umfallen.« Doch er wird ganz rot.

Hinter ihm erscheint Glock mit einem Papptablett, auf dem er vier große Pappbecher mit Kaffee balanciert. »Ich liefere das nötige Koffein.«

Als Skid schließlich mit einem Klappstuhl hereinkommt, packe ich gerade mein Mittagessen aus. Ich nehme ein paar Happen, während die Männer sich setzen. »Wir müssen den Kerl schnappen«, beginne ich.

Glock stellt seinen Kaffee auf die Schreibtischkante. »Ist es nun der von damals oder nicht?«

Ich schüttele den Kopf. »Davon können wir bei unseren Ermittlungen nicht ausgehen.«

»Warum nicht?«

»Weil uns das zu sehr einschränkt.« Das glaube ich zwar selbst nicht, aber ich kann ihnen nicht sagen, dass der Mörder aus den frühen Neunzigern tot ist – falls das wirklich der Fall ist. Mir bleibt keine andere Wahl, als mein Team anzulügen, doch ich fühle mich mies dabei. »Wir könnten es mit einem Nachahmer zu tun haben.«

»Das wäre aber echt seltsam«, sagt Skid und beißt in seinen Hamburger.

»Allerdings können wir davon ausgehen, dass es sich wahrscheinlich um einen Serienmörder handelt. Das war kein Verbrechen aus Leidenschaft. Er hat alles sorgfältig geplant und durchorganisiert.«

Im Zimmer wird es ganz still. Ich höre das Summen der Neonröhren an der Decke.

»Sie glauben also, er wird wieder töten?«, fragt T. J.

»Das ist sein Ding. Er tötet, und er ist gut darin. Es gefällt ihm.« Ich trinke einen Schluck Cola. »Und es wird wieder hier in Painters Mill passieren, es sei denn, er zieht weiter in eine andere Stadt.«

»Oder wir erwischen ihn vorher«, fügt Glock hinzu.

Ich stelle die Cola auf den Schreibtisch. »Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen. Was eine Menge Überstunden bedeutet.«

Drei Köpfe nicken. Es beruhigt mich, dass ich die volle Unterstützung meines kleinen Teams habe. Ich blicke auf die eilig hingekritzelten Notizen. »Mona stellt bereits eine Liste aller leerstehenden Immobilien in beiden Countys zusammen. T. J., was haben Sie über die Kondome herausgefunden?«

»Der Manager vom Super Value hat mir die Namen der beiden Männer gegeben, die mit Scheck bezahlt haben.« Er blickt auf seinen handtellergroßen Notizblock. »Justin Myers und Greg Milhauser. Sobald wir hier fertig sind, rede ich mit ihnen.«

»Gut. Und was ist mit dem Typ, der bar gezahlt hat?«

»Der Manager besorgt gleich morgen früh eine Kopie des Videos.«

»Wir brauchen sie sofort.«

T. J. sieht betreten drein. »Seine Tochter gibt heute Abend irgendeine Geburtstagsparty.«

»Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, wir brauchen das Video gestern. Wenn er sich anstellt, kommen wir mit einem Durchsuchungsbeschluss, und dann kann er sein Gemüse vom Boden abkratzen.«

»Kapiert.«

»Sobald Sie das Video haben, muss der Typ darauf identifiziert werden. Unsere Stadt ist klein, es sollte also nicht so schwer sein.« Ich wende mich an Glock. »Was ist mit den Reifen-und Schuhabdrücken?«

»Ich hab sie per Kurier ans BCI geschickt und bin noch dabei, Vergleichsabdrücke von den Dienstautos und Schuhen zu machen. Das kostet dann noch mal einen Kurier, Chief.«

»Kosten spielen keine Rolle. Wann sind Sie damit fertig?«

»Heute. Wenn ich nach dem Meeting bei Ihnen und T. J. einen Abdruck nehmen kann.«

»Haben Sie die Sachen dazu hier?«

»Ich nehme einfach eine Tintenwalze und mache sie auf Papier, wenn das okay ist.«

»Zum Abgleich sollte das reichen.« Ich denke kurz nach. »Hat das BCI Ihnen einen zeitlichen Rahmen genannt?«

»Zwei Tage, höchstens drei.«

»Sagen Sie denen, wir haben absolute Priorität, sonst rufe ich den Justizminister an, damit der ihnen Feuer unterm Hintern macht.«

Glock nickt. »Okay.«

Ich bin bereits beim nächsten Punkt. »Haben Sie schon die anderen aus der Bar überprüft?«

»Auf ein paar Anfragen habe ich schon Antworten.« Glock schlägt eine zerfledderte Mappe auf. »Außer Connie Spencer gibt es nur noch einen Treffer, ein Typ namens Scott Brower.«

»Erzählen Sie mir von ihm.«

»Zweiunddreißig Jahre alt. Ohne Schulabschluss. Hat in der Ölfilterfabrik in Millersburg gearbeitet, sich aber mit seiner Chefin angelegt und gedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden.«

»Netter Kerl«, bemerkt T. J.

»Hat bestimmt keine Lohnerhöhung gekriegt«, kommentiert Skid.

Glock sieht mich an. »Jedenfalls war sein Boss eine Frau. Momentan arbeitet er als Autoschlosser bei Mr Lube.«

»Wurde wegen der Drohung Anzeige erstattet?«, frage ich.

»Sie haben ihn gefeuert, aber nicht angezeigt.«

»Festnahmen?«

»Vier. Zwei wegen häuslicher Gewalt. Eine, weil er einen Mann in einer Bar in Columbus verprügelt hat, und einmal hat er einen Mann in einer Bar in Kingsport, Tennessee, mit dem Messer bedroht.«

»Klingt ganz so, als hätte Mr Brower eine Schwäche für Messer.«

»Und Bars«, wirft Skid ein.

»Nicht zu vergessen sein Problem mit Frauen«, fügt Glock hinzu.

Ich nicke. »Gibt es eine aktuelle Adresse?«

Laut Glocks Recherchen wohnt er in einem runtergekommen Mietshaus im Westen der Stadt.

»Hat er jemals im Schlachthof gearbeitet?«, frage ich.

»Laut Personalabteilung nicht.«

»Überprüfen Sie, ob er als Jugendlicher straffällig geworden ist. Ich statte ihm einen Besuch ab.«

Glock wirkt leicht beunruhigt. »Allein?«

»Wir haben nicht genug Leute, um in Teams zu arbeiten.«

»Chief, bei allem Respekt, aber der Typ scheint Probleme mit Frauen in Machtpositionen zu haben.«

»Deshalb nehme ich zur Unterstützung meine .38er mit, falls er mich irrtümlich für das schwächere Geschlecht hält.«

Skid lacht schallend.

Ich klopfe mit dem Stift ungeduldig auf die Notizen. »Was ist mit Donny Beck?«, frage ich Glock.

»Blitzsauber.«

»Reden Sie mit Freunden und Familie. Ich werde ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen. Mal sehn, ob er ein Alibi hat.«

Er nickt zustimmend.

Ich wende mich Skid zu, der auf seinem Stuhl hängt wie ein übernächtigter Zehntklässler in der Freistunde. Er ist unrasiert, hat blutunterlaufene Augen und die Haare seit Tagen nicht gewaschen. Als ich ihn anspreche, setzt er sich gerade hin. »Ich möchte, dass Sie noch die restlichen Leute aus der Bar befragen. Und ich will mehr über die Horners wissen.«

»Sie glauben, dass –«

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Aber wir werden jeden Stein umdrehen.«

Skid nickt.

»Lois und Mona können helfen, die Berichte zu tippen«, sage ich. »Alles muss dokumentiert werden.«

Ich betrachte mein Team. Alle drei Männer sind gute Polizisten, aber nur zwei haben Erfahrung. Ich selbst habe zwar viel Praxis, aber in meiner Zeit in Columbus habe ich hauptsächlich als Streifenpolizistin gearbeitet und insgesamt erst in vier Mordfällen ermittelt. Gott steh uns bei, denke ich nur.

»Also noch mal die wesentlichen Punkte.« Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück. »Wen sollten wir alles genauer unter die Lupe nehmen?«

»Scott Brower«, sagt Glock.

»Die drei Kondom-Typen«, sagt Skid.

»Donny Beck«, sage ich.

»Den Schlächter«, sagt T. J.

Wenn ich den alten Fall total ignoriere, riskiere ich, als inkompetent dazustehen. »Ich habe mir die Akte rausgeholt«, sage ich. »Doc Coblentz schickt mir die kompletten Autopsieberichte. Ich möchte, dass Sie drei sich mit den Einzelheiten des Falls vertraut machen.«

Glock kaut an seiner Kulikappe. »Angenommen, es ist der Schlächter. Wieso dann die lange Pause zwischen den Morden? Und war nicht die römische Zahl IX in das letzte Opfer geritzt?«

»Was ist dann mit Nummer zehn bis zweiundzwanzig passiert?«, fragt Skid in die Runde.

»Vielleicht war er irgendwo anders tätig«, mutmaßt Glock.

»Oder er will, dass die Cops genau das denken«, wirft T. J. ein.

Ich schalte mich ein, bevor die Unterhaltung eine Richtung nimmt, die mir nicht passt. »Ich habe Datenbankanfragen für Verbrechen mit ähnlicher Täterhandschrift laufen. Wenn er umgezogen ist und auf die gleiche Weise weitergetötet hat, sind wir ein Stück weiter.«

»Vielleicht wurde er wegen was ganz anderem verhaftet«, sagt Skid. »Hat seine Zeit abgesessen und ist vor kurzem entlassen worden.«

Ich sehe ihn an. »Überprüfen Sie das. Setzen Sie sich mit DRC in Verbindung.« DRC ist die für Gefängnisse und Wiedereingliederung zuständige Behörde. Ich verschwende seine Zeit nur ungern, aber mir bleibt nichts anderes übrig. »Besorgen Sie eine Liste mit allen Häftlingen im Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig, die in den letzten sechs Monaten entlassen wurden.«

Skid sieht aus, als hätte er plötzlich furchtbare Blähungen. »Das sind ’ne Menge Namen.«

»DRC soll die Liste für Sie eingrenzen. Es gibt dort eine Statistik über alle, die auf Bewährung entlassen sind. Überprüfen Sie sämtliche männlichen Personen mit zwei oder mehr gewalttätigen Straftaten, besonders Sexualverbrechen und Stalking. Fangen Sie mit den fünf umliegenden Counties an, dann erweitern Sie den Radius und nehmen Columbus, Cleveland und Wheeling in West Virginia mit dazu. Ich rufe Sheriff Detrick an, um Unterstützung für Sie zu bekommen. In der Zwischenzeit dürfen Mona und Lois Überstunden machen.«

Er nickt, wirkt aber überwältigt von all der Arbeit, die ich vor ihm aufgetürmt habe.

Ich sehe mich im Zimmer um. »Die Kleidung des Opfers war nicht am Fundort. Das heißt, dass er sie entweder weggeworfen, sie am Tatort zurückgelassen oder aber behalten hat.«

»Etwa wie eine Trophäe?«, fragt T. J.

»Schon möglich«, erwidere ich. »Sollten wir jedenfalls bedenken.«

Der Blick auf meine Notizen sagt mir, dass alles besprochen wurde, was ich aufgeschrieben hatte. »Mona und Lois werden den alten Aktenraum zu unserer Kommandozentrale umfunktionieren. Aber wahrscheinlich kommen wir alle so schnell nicht wieder zusammen, unsere Kommunikation läuft also größtenteils übers Telefon. Ich bin wie immer rund um die Uhr erreichbar, sieben Tage die Woche. Bis wir diesen Scheißkerl haben, erwarte ich das Gleiche von Ihnen.«

Alle nicken. »Gibt es noch irgendetwas zu bereden, bevor wir uns an die Arbeit machen?«

T. J. ergreift als Erster das Wort. »Haben Sie schon überlegt, an irgendeinem Punkt das BCI oder FBI um Hilfe zu bitten, Chief?« Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, und er errötet. »Ich will damit nicht sagen, dass wir das nicht auch selber hinkriegen, aber unsere Mittel hier in Painters Mill sind doch ziemlich beschränkt.«

»Yeah, wer zum Beispiel treibt die verdammten ausgebrochenen Kühe wieder zusammen, während wir an dem Fall arbeiten?«, bemerkt Skid grinsend.

T. J. bleibt standhaft. »Wir sind nur zu viert.«

Ich habe absolut keine Lust, andere Behörden zu involvieren. Aber die Polizeirichtlinien schreiben das vor. Mein Team erwartet es, und ich brauche seine Achtung, um effektiv zu sein. Meine Glaubwürdigkeit hängt davon ab, wie clever ich mich verhalte.

Trotzdem kann ich in diesem Stadium keine Hilfe anfordern. So ungern ich mein Team anlüge, ich kann einfach nicht riskieren, dass irgendein Deputy oder Field Agent herausfindet, dass ich vor sechzehn Jahren einen Mann erschossen habe, dass meine Familie das Verbrechen gedeckt und die ganze schmutzige Geschichte unter den Teppich gekehrt hat.

»Ich telefoniere mal rum«, sage ich absichtlich vage. »Bis sich in der Richtung etwas tut, wird Hilfspolizist Roland Shumaker uns unterstützen.«

»Ich hab Pickles nicht mehr gesehen, seit er den Hahn erschossen hat«, sagt Glock.

»Ob er sich noch immer die Haare kakaobraun färbt«, überlegt Skid laut.

»Ich möchte, dass Sie Officer Shumaker respektvoll behandeln«, sage ich. »Wir brauchen ihn.«

Im Moment sind sie mit der Handhabung des Falls zufrieden, das sehe ich ihnen an. Noch vor zwei Jahren wäre das anders gewesen. Ich bin der erste weibliche Chief of Police in Painters Mill. Die Begeisterung darüber war anfangs ziemlich verhalten, was die ersten Monate schwergemacht hatte. Doch jetzt sind alle Hindernisse überwunden. Ich habe mir im Lauf der Zeit ihren Respekt verdient.

Ich weiß aus Erfahrung, dass Polizisten sich ihr Territorium nicht gern streitig machen lassen. Diese Männer hier wollen nicht, dass sich eine andere Behörde in ihre Arbeit einmischt. Doch wenn der Mörder wieder zuschlägt, habe ich eine weitere Tote auf dem Gewissen, weil ich meinen Job nicht ordentlich gemacht habe. Ein Dilemma, das nur schwer auszuhalten ist.

Mir fällt die Presseerklärung ein, die ich noch schreiben muss, und ich kämpfe gegen die Angst an, die mich beschleicht. Steve Ressler ist nicht der einzige Journalist, mit dem ich in den nächsten Tagen zu tun haben werde. Sobald die Nachricht von dem Mord durch den Äther ist, werden aus der ganzen Gegend Presseleute mit Aufnahmegeräten und Fotoapparaten hier auftauchen, sogar von so weit her wie Columbus.

»Auf geht’s, fangen wir die Bestie«, sage ich.

Als die Männer mein Büro verlassen, kann ich nur hoffen, dass keiner von ihnen je die ganze Wahrheit herausfinden wird.