68. Kapitel
Die Medusa hat unsere Rückkehr nicht abgewartet. Sie ist uns nachgesegelt und wartet jetzt hier auf dem Fluss auf uns. Kartik wirft einen Blick in Felicitys tränenüberströmtes Gesicht und fragt nicht weiter. Er und Bessie betrachten einander abschätzend und Bessie besteigt wortlos das Schiff.
»Es ist vorbei«, erkläre ich ihm. »Medusa, bring uns in die Winterwelt.«
Fowlson stürzt zu mir. »Warten Sie! Was soll das heißen? Wo ist Sahirah?«
»Es tut mir leid«, sage ich leise.
Ich fürchte, er werde schreien. Heulen. Uns verfluchen. Irgendwo seine Wut auslassen. Stattdessen sinkt er stumm auf die Planken des Schiffes, den Kopf in den Händen – und irgendwie ist das viel schlimmer.
»Was können wir tun?«, flüstere ich Kartik zu.
»Lass ihn.«
Die Medusa steuert uns den Fluss entlang. Feuer brennen auf dem Wasser. Die Flammen lodern und prasseln und bedrohen uns mit ihrer Hitze. Der Wind bläst uns einen erstickenden Aschenregen ins Gesicht. Es ist, als würden wir in den Schlund der Hölle einfahren.
Blitze zucken hinter den wabernden roten Wolken, die sich über der Winterwelt türmen.
»Wir sind nahe«, sagt die Medusa.
Ann unterdrückt einen Schrei und hält sich eine Hand vor den Mund. Sie starrt auf das Wasser, wo der leblose Körper einer unglücklichen Seele mit dem Gesicht nach unten vorbeitreibt. Alle sind verstummt. Wir verlassen das Niemandsland. Die Winterwelt nimmt uns auf und es gibt kein Zurück.
*
Die Medusa ankert an der gleichen Stelle, wo wir zum ersten Mal dem Heer der Toten begegnet sind. Auf den zerklüfteten Klippen brennen Feuer. Ich will nicht wissen, wer sie gelegt hat oder was als Brennstoff benützt worden sein mag. Das Waldvolk und die Hadschin haben ihre Boote an Land gezogen. Philon lässt seine gletschergrünen Augen suchend über die Klippen wandern.
»Wo geht es zu dem Baum?«, fragt das Zwitterwesen und schultert eine schimmernde Axt.
»Dort unten ist eine Passage«, sage ich.
»Wo ist die Lehrerin?«, fragt Philon.
»Wir haben Miss McChennmine im Niemandsland verloren«, antworte ich.
Fowlson hat seinen Gürtel abgeschnallt. Er schärft sein Messer mit immer rascheren Strichen am Leder.
»Ich fürchte, das ist erst der Anfang«, antwortet Philon.
Mit den Waffen in Händen macht sich unsere zerlumpte Truppe zu Fuß auf den Weg zu der schmalen Passage, die ins Herz der Winterwelt führt. Ein letztes Mal flehe ich die Medusa an.
»Ich wünschte, du würdest mitkommen. Wir könnten dich sehr gut gebrauchen.«
»Mir ist nicht zu trauen«, beharrt sie.
Ich beuge mich so nahe zu ihr wie nie zuvor, als möchte ich sie umarmen. Eine der Schlangen streift mein Handgelenk und ich ziehe die Hand nicht weg. Die Schlange züngelt und bewegt sich weiter. »Ich traue dir.«
»Weil du mich nicht kennst.«
»Medusa, bitte …«
Schmerz blickt aus ihren Augen und sie schließt sie, um die Regung zu verbergen. »Ich kann nicht, Gebieterin. Ich werde auf deine Rückkehr warten.«
»Wenn ich zurückkehre«, sage ich. »Wir sind zahlenmäßig unterlegen und auf meine Magie ist kein Verlass.«
»Wenn du fällst, sind wir alle verloren. Zerstöre den Baum. Es ist die einzige Möglichkeit.«
»Wird die Medusa mitkommen?«, fragt Ann, als ich sie und die anderen eingeholt habe.
»Nein«, sage ich.
Philon blickt auf die erbarmungslose Landschaft – die rot gestreiften Wolken, die enge Passage vor uns. Ein rauer, kalter Wind bläst uns den Sand scharf ins Gesicht. »Schade. Wir könnten ihre Kampfkraft gebrauchen.«
»Geh einfach weiter«, flüstere ich.
Kartik zwängt sich durch die Reihen zu uns zurück. »Gemma, ich glaube, wir sollten nicht denselben Weg nehmen wie das letzte Mal. Dort sind wir den feindlichen Blicken zu sehr ausgesetzt. Es gibt einen kleinen Tunnel, der zu dem Felsvorsprung hinter den Klippen führt. Er ist schmal und schwer zugänglich, aber von dort können wir sie ungesehen beobachten.«
»Einverstanden«, sage ich. »Führe uns hin.«
Wir tasten uns ein zerbröckelndes Geländer entlang, das plötzlich ins Nichts abbricht. Mir saust vor Schreck das Blut in den Ohren und ich fixiere meine Augen auf Philons schimmernde Axt direkt vor mir. Endlich treten wir aus dem Tunnel heraus und Kartik hat recht: Hinter den Klippen ist eine Stelle, wo wir uns verstecken können.
»Hörst du das?«, fragt Kartik.
In der Ferne ist der Lärm von Trommeln zu hören. Er hallt von den Felswänden wider.
»Ich werde nachsehen«, sagt Kartik. Er klettert den zerklüfteten Felsen hinauf wie ein Eichhörnchen und streckt seinen Kopf über den Rand, dann turnt er ebenso geschickt wieder herunter. »Sie versammeln sich auf der Heide.«
»Wie viele?«, fragt Philon.
Kartiks Gesicht ist von grimmiger Entschlossenheit. »Zu viele, um sie zu zählen«, antwortet er.
Das Dröhnen der Trommeln schwingt bis in meine Knochen hinein. Es füllt meinen Kopf, bis ich glaube verrückt zu werden. Vielleicht wäre es leichter, die feindliche Überzahl nicht mit eigenen Augen zu sehen, nicht zu wissen, was uns erwartet. Aber ich muss es wissen. Ich klammere mich fest an die Felskante, ziehe mich hinauf und schaue über die schroffen Klippen, die uns einstweilen Schutz bieten.
Kartik hat nicht übertrieben. Das Heer der Winterwelt ist riesig und furchterregend. An der Spitze reiten die Todesschergen in wehenden schwarzen Umhängen, die auseinanderklaffen und die gefangenen Seelen enthüllen. Selbst aus dieser Entfernung kann ich das Glitzern ihrer spitzen Zähne sehen. Die Todesschergen überragen mit ihren gut zwei Metern Länge alle anderen. Die Klatschmohnkrieger in ihren glanzlosen Kettenpanzern verwandeln sich in riesige schwarze Raben und kreisen über den Feldern. Sie krächzen mit quälender Ausdauer; mehr und mehr dieser Vögel erheben sich in die Luft, bis der Himmel von ihrem Geschrei schrillt. Ich bete, dass sie nicht in diese Richtung fliegen und unser Versteck erspähen. Hinter ihnen ist ein Heer dunkler Geister – der wandelnden Toten. Ihre Augen sind leere Höhlen oder von jenem beunruhigenden Bläulich-Weiß wie die Augen Pippas. Sie folgen, ohne zu fragen. Und in der Mitte ist der Baum, höher, mächtiger als beim letzten Mal. Seine Glieder dehnen sich nach allen Richtungen aus. Ich könnte schwören, unter seiner Rinde die Seelen wie Blut fließen zu sehen. Und ich weiß, dass sich in seinem dunklen Herzen Eugenia Spence verbirgt.
Trommler schlagen einen donnernden Rhythmus.
»Wie wollen wir gegen sie kämpfen?«, fragt Ann und ich fühle ihre Angst in meinem eigenen Herzen.
»Seht, dort unten«, sagt Felicity. Einer der Klatschmohnkrieger zieht Wendy mit sich. Sie stolpert erschöpft, aber sie ist unversehrt. Die Beeren, die sie gegessen hat, haben sie zu einem Leben hier verdammt, aber es muss sie davor bewahrt haben, ein passendes Opfer zu sein. Der Klatschmohnkrieger leckt ihre Wange und Wendy schreckt zurück. Der Gedanke, dass sie an solch ein Scheusal gekettet ist, erfüllt mich mit Hass.
Die Trommeln verstummen und die Stille ist fast genauso erschreckend.
»Was haben die vor?«, fragt Fowlson und zückt sein Messer.
»Ich weiß es nicht«, sage ich.
Der Baum spricht. Habt ihr das Opfer mitgebracht?
»Sie ist hier irgendwo«, antwortet ein Todesscherge.
Ich habe so lange auf dich gewartet, murmelt die Stimme, die mich zuerst so gefangen genommen hatte. Kennst du mich? Weißt du, was wir zusammen sein könnten? Dass wir diese Welt und die andere regieren könnten? Schließ dich mit mir zusammen …
Die Worte wickeln mich ein.
Gemma … komm zu mir …
Es ist meine Mutter. Meine Mutter in ihrem blauen Kleid steht auf dem Feld und streckt mir ihre Arme entgegen.
»Mutter«, flüstere ich.
Kartik zieht mein Gesicht an seines heran. »Das ist nicht deine Mutter, Gemma. Du weißt es.«
»Ja. Ich weiß.« Ich schaue zurück und das Bild flackert wie ein Geisterbild in einer Gasflamme.
»Sie können uns Dinge sehen lassen, die wir sehen sollen«, erinnert mich eine Hadschin mit dunklen braunen Augen.
Fowlson gibt sich einen energischen Ruck. »Wir müssen zu diesem Baum, Freunde. Ihn fällen.«
»Ja, deswegen sind wir hier«, sagt Felicity. Sie hat ihr Schwert am Gürtel und sie ist entschlossen, es zu gebrauchen.
Ein kleiner Disput bricht zwischen unseren Mitstreitern aus. Sie können sich auf keinen Plan einigen. Unten in der Ebene sehe ich all die grässlichen Gestalten, den Baum, der Eugenias Seele birgt. Aber ich fühle auch meine Mutter, Circe, Miss McChennmine, Pippa, Amar … so viele Namen. So viele Verlorene.
»Jahrhunderte des Kampfes, und wofür?«, sage ich. »Heute ist Schluss damit. Ich kann nicht länger in Furcht leben. Ich habe diese Zauberkraft verflucht. Ich habe sie sowohl genossen als auch missbraucht. Und ich habe sie versteckt. Jetzt muss ich versuchen, sie richtig zu handhaben, sie mit einem guten Zweck zu verbinden, und hoffen, dass das genügt.«
Ein Zentaur will etwas sagen, aber Philon gebietet ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
»Dr. Van Ripple sagte mir, eine Illusion wirkt deshalb, weil die Menschen daran glauben wollen. Also gut. Geben wir ihnen, was sie haben wollen«, sage ich.
Philons Augen werden schmal. »Was schlägst du vor?«
»Sie schauen nach mir aus. Was, wenn ich überall gleichzeitig bin? Wenn mein Abbild an jeder Wegbiegung steht. Wie wollen sie jemanden, der nicht existiert, opfern?«
Philon reibt sich nachdenklich seine dünnen Lippen. »Klug, aber riskant, Priesterin. Was ist, wenn die Täuschung auffliegt?«
»Wir brauchen nur genügend Zeit, um sie zu verwirren, während wir immer näher an den Baum heranrücken und ihn fällen.«
»Und was ist mit dem Dolch?«, fragt Felicity.
»Überlass das mir«, sage ich.
»Wie wissen wir, dass, wenn wir den Baum fällen, damit alles ein Ende hat?«, fragt ein Zentaur.
»Wir wissen es überhaupt nicht«, sage ich. »Aber es ist das Beste, was wir tun können, wenn alle einverstanden sind.«
Niemand erhebt Einspruch.
»Mr Fowlson, Felicity, ihr übernehmt die Führung. Ann«, sage ich und sehe in ihr tapferes Gesicht, »du versuchst, Wendy aus den Klauen dieses widerlichen Klatschmohnkriegers zu befreien.«
»Und ich?«, fragt Kartik.
Bleib bei mir.
»Irgendjemand muss nach Amar ausschauen. Seine Macht ist sehr groß«, sage ich traurig.
»Gemma, wir werden Seite an Seite kämpfen«, sagt er und ich weiß, er denkt an seinen Traum.
»Es war nur ein Traum«, sage ich und schlucke schwer. Ich erwarte, dass er mit einem Augenzwinkern antwortet, aber er nickt nur und das vermehrt meine Angst noch.
»Was ist, wenn sie dich schließlich doch finden?«, fragt Philon.
Ich werde hier sterben. Meine Seele wird für immer an die Winterwelt verloren sein. Das Magische Reich und unsere Welt werden von den dunklen Geistern der Winterwelt regiert werden. »Versucht nicht, mich zu retten. Denkt nur an den Baum. Geht und fällt ihn. Ich kann nicht sagen, ob dieser Plan gut ist oder nicht. Aber wir müssen etwas tun. Und wenn überhaupt, so können wir es nur gemeinsam schaffen.«
Ich strecke meine Hand vor und warte. Es ist der längste Moment meines Lebens. Kartik legt seine Hand auf meine. Felicity und Ann folgen schnell. Philons lange Finger sind die nächsten. Bessie und Fowlson. Die Hadschin. Die Zentauren. Das Waldvolk. Hand auf Hand, bis zum Letzten, schließen wir uns zusammen. Ich muss mich konzentrieren, um alle Gedanken mit Ausnahme meiner eigenen fernzuhalten. Es wäre ein Leichtes für die Gedanken der dunklen Geister, in meinen Kopf einzudringen. Ich fühle, wie die Magie von mir in die anderen überfließt, von einem zum anderen. Und als ich meine Augen öffne, ist es wie im Spiegelkabinett eines Jahrmarkts. Alle ringsum sehen haargenau gleich aus. Alle tragen mein Gesicht. Wer wollte da unter allen die Richtige herausfinden?
»Wir haben jetzt keine Zeit, um alles noch einmal zu überdenken«, sage ich. »Sie könnten uns jeden Moment entdecken. Wir dürfen uns nicht überrumpeln lassen.«
Die Trommeln beginnen wieder zu schlagen. Mein Blut pocht rascher in meinen Ohren. Wir schwärmen über die Klippen aus. Die schauerlichen Schergen unten zeigen mit ihren Knochenfingern und kreischen. Sie rüsten sich zum Angriff, genau wie wir auch. Ein Teil von uns stürmt aufs Feld. Schwerter werden gezogen. Das Klirren von Eisen gegen Eisen jagt mir Schauer über den Rücken. Ein Hagel von Pfeilen fliegt von den Zentauren auf den Klippen ins Tal. Ein Pfeil sirrt an mir vorbei und findet sein Ziel in einem dunklen Geist in meiner nächsten Nähe.
»Aahhhhh!« Ein wilder Kriegsschrei zerreißt die Luft. Ich sehe eine von uns ein Schwert schwingen, als sei sie dazu geboren, und ich weiß, dass unter diesem Trugbild das Herz meiner Freundin Felicity schlägt.
Ich traue meinen Augen kaum. In wildem Tempo rast die Medusa auf uns zu, ein Schwert in jeder Hand. Sie macht eine prächtige, schreckenerregende Figur; eine grüne Riesin, die nach links und rechts Hiebe austeilt. Die Schlangen auf ihrem Haupt winden sich und zischen.
Ihre Stimme übertönt den Lärm. »Wenn ihr einen Kampf wollt, so sollt ihr ihn haben. Ich bin die Letzte meiner Art. Ich werde nicht kampflos untergehen.«
In all ihrer Selbstherrlichkeit ist die Medusa ein unvergesslicher Anblick. Die Schlangen gebärden sich wie wahnsinnig auf ihrem Haupt. Ich bin sowohl von Ehrfurcht ergriffen als auch von Furcht vor ihrer sagenhaften Kraft gepackt. Ein paar dunkle Geister versteinern bei ihrem Anblick; andere mäht sie mit ihren Schwertern nieder. Es ist, als würde sie uns nicht mehr hören oder sehen. Sie ist ganz in den Kampf vertieft, so sehr, dass sie irrtümlich das Schwert gegen eine von uns erhebt.
»Medusa!«, rufe ich.
Augenblicklich fährt sie zu mir herum. Und, oh, die schreckliche Absicht dieser gelben Augen, nun, wo sie frei ist. Es ist ein Schrecken, von dem ich mich nicht losreißen kann. Ich erliege dem verhängnisvollen Zauber der Medusa. Meine Füße werden zu Stein. Ich kann mich nicht bewegen. Die Welt kippt weg. Die Geräusche des Kampfes sind verstummt. Ich höre nur das verführerische Zischen der Medusa. »Sieh mich an, sieh mich an, mich, mich, sieh und staune …«
Die Versteinerung kriecht durch mein Blut. »Medusa«, sage ich mit erstickter Stimme, aber ich weiß nicht, ob sie es gehört hat oder nicht.
Sieh mich an, sieh mich an …
Kann nicht atmen.
Die Schlangen zischen wild. Der Blutrausch weicht aus den Augen der Medusa. Sie weiten sich entsetzt. »Sieh mich nicht an, Gebieterin!«, schreit die Medusa. »Schließe deine Augen!«
Mit letzter Kraft gehorche ich. Sofort ist der Bann gebrochen. Meine Glieder werden schlaff vor Erleichterung und ich falle schwer atmend auf den Boden.
Die Medusa hilft mir auf die Füße. »Du darfst mich jetzt nicht ansehen, denn ich bin nicht die, die du kennst. Ich bin mein kriegerisches Selbst. Hüte dich. Verstehst du?«
Ich nicke heftig.
»Ich hätte dich töten können«, sagt sie erschüttert.
»Aber du hast es nicht getan«, keuche ich.
Ich höre ein Stöhnen. Eine von uns ist gefallen. Ein dunkler Geist hat versehentlich ihr Blut vergossen. Die falsche Gemma stürzt zu Boden.
»Dummkopf!«, brüllt Amar. »Wenn du ihr Blut hier vergießt, gehört ihre Seele nicht uns!«
Aber die Verwundete auf dem Boden ist nicht länger ein Trugbild meiner selbst. Die Magie flackert und erlischt. An die Stelle meines Gesichts tritt das Gesicht einer Hadschin. Ihre braunen Augen starren zu den beiden empor.
Der dunkle Geist heult zornig auf. »Sie täuschen uns! Das ist sie nicht!«
»Finde sie. Die Richtige.«
»Dort drüben«, ruft eine von uns.
»Nein, ich bin’s. Ich bin die Auserwählte!«, ruft eine andere vom Schlachtfeld.
»Ich bin die, die ihr sucht«, meldet sich eine dritte Stimme.
Die dunklen Geister kreischen. »Sie verwirren uns! Wie können wir siegen, wenn sie die Magie gegen uns verwenden?«
Ein Klatschmohnkrieger brüllt: »Es ist die dort bei dem Felsen!«
»Nein, es ist diese da neben mir, glaub mir!«
Wir sind überall und das macht sie völlig kopflos. Sie fangen an, aufeinander einzuschlagen.
Ich übertöne ihren Lärm. »Warum wollt ihr für den Ruhm des Baumes kämpfen? Für die Todesschergen? Sie werden euch sterben lassen und sich die ganze Magie selbst einverleiben. Der Baum wird euch beherrschen, wie es der Orden getan hat.«
Die dunklen Geister beäugen mich misstrauisch, aber sie hören zu.
Eine von uns ruft: »Ihr werdet immer Sklaven eines Mächtigeren sein. Glaubt ihr wirklich, dass sie redlich mit euch teilen werden?«
Amar reitet im Passgang auf seiner weißen Stute. »Hört nicht auf sie! Sie sind Betrüger!«
Ein Skelett mit langen zerschlissenen Mottenflügeln schüttelt seinen Speer über seinem Kopf. »Warum sollten wir ihnen die Magie geben, wenn wir sie für uns selbst behalten können?«
»Was versprecht ihr uns?«, fragt ein anderer Mann. Seine Haut ist wie ein grauer Regen.
»Ruhe!« Die Todesschergen öffnen ihre grässlichen Umhänge und enthüllen die schreienden Seelen darin. »Ihr seht, was ihr sehen sollt.«
Die dunklen Geister der Winterwelt kauern sich nieder und sind wieder im Bann ihrer Anführer.
Sie wirkt ihren Zauber gegen uns. Findet das Mädchen, das richtige Mädchen, sagt der Baum. Lasst euch nicht von ihnen täuschen. Sie wird diejenige sein, die sie zu schützen versuchen.
Ein Todesscherge stürzt sich auf die Medusa. Die Medusa fixiert ihn mit ihrem Blick und das Scheusal fällt in Trance. Das Schwert blitzt auf. Es saust von hoch oben herab und der Scherge fällt, niedergemäht wie ein Schössling in einem heftigen Unwetter. Was von ihm geblieben ist, wirbelt wie ein Sandsturm aus seinem Körper und in den Baum Aller Seelen. Der Baum empfängt es mit einem schrecklichen Schrei. Unter lautem Knarren strecken sich die Zweige weiter und höher hinaus; die Wurzeln graben sich tiefer in den gefroren Erdboden. Der Baum strahlt vor neuer Energie.
»Medusa!«, brülle ich durch den Hagel von Pfeilen und das Kampfgetöse. »Wir müssen aufhören!«
Sie wagt nicht, mich anzusehen. »Warum?«
»Je mehr wir töten, umso mächtiger wird der Baum. Er nimmt die Seelen in sich auf! Wir schlagen sie nicht; wir stärken sie!«
Ich suche das Schlachtfeld ab und ich erspähe Kartik, der zu seinem Bruder läuft. Es ist Kartik ohne seine Tarnung, seine dunklen Locken umrahmen sein Gesicht wie eine Löwenmähne. Er läuft mit Anmut und Kraft. Ich blicke mich um und sehe die Gesichtszüge von Felicity und Philon durch meine eigenen schimmern. Die Magie hält nicht! Es ist nur eine Frage von Minuten, bis ich entdeckt werde und dann …
Ich höre Philon aufschreien. Das große, elegante Zwitterwesen wurde von einem Todesschergen verwundet, seine Axt beiseitegeschleudert. Zum Denken habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss zum Baum gelangen.
Ich raffe meine Röcke und renne, so schnell ich kann. Im Laufen packe ich die Axt. Beinahe rutsche ich auf dem Eis und Blut aus, aber nichts kann mich aufhalten. Ich renne geradewegs zu dem Baum.
Sie kommt!, schreit der Baum. Seine Wurzeln greifen nach mir, sie schlingen sich um meine Fesseln und ziehen mich unsanft zu Boden. Die Axt fliegt mir aus der Hand und landet knapp außer meiner Reichweite.
»Gemma …«
Ich blicke hoch. Im Labyrinth der Äste über mir steckt Circe in einem Kokon aus Zweigen, Ranken und Brennnesseln. Ihr Gesicht ist grau und ihr Mund geschwollen und voller Blasen. In ihrer Hand ist der Dolch.
»Gemma«, ruft sie mit erstickter Stimme. »Sie müssen ihn … vernichten …«
Die Zweige ziehen sich enger um ihren Hals zusammen, um sie am Weitersprechen zu hindern. Stattdessen lässt sie den Dolch herunterfallen. Ich taste zwischen den dicken Wurzeln danach.
Gemma, willst du all das aufgeben? Wofür? Was bleibt dir, wenn du mich vernichtest?, säuselt der Baum. Ein behütetes kleines Leben? Nichts Außergewöhnliches mehr? Überhaupt gar nichts mehr?
»Ich werde anders sein«, sage ich.
Das sagen sie alle. Der Baum lacht bitter. Und dann wird ihre Magie weniger und weniger. Sie werden erwachsen, passen sich an. Ihre Träume verblassen wie ihre Schönheit. Sie verändern sich. Und wenn sie schließlich wissen, was sie aufgegeben haben, ist es zu spät. Sie können nicht mehr zurück. Wird das dein Schicksal sein?
»N-nein«, sage ich und kehre dem Dolch in den Wurzeln den Rücken.
»Gemma!« Kartik ruft nach mir. Aber ich kann meine Augen nicht von dem Baum losreißen, kann nicht aufhören, ihm zu lauschen.
Bleibe bei mir, raunt er. Für immer. Jung. Schön. Blühend. Sie werden dich anbeten.
»Gemma!« Felicitys Stimme.
Bleibe bei mir …
»Ja«, sage ich und strecke meine Hand voll Verlangen nach dem Baum aus, denn er versteht mich. Ich presse meine Handfläche an die Rinde und plötzlich verschwindet alles. Nur der Baum und ich sind geblieben. Ich sehe Eugenia Spence davorstehen, königlich und von ruhiger Sicherheit. Ich suche meine Freunde, aber sie sind fort.
»Übergeben Sie sich mir, Gemma, und Sie werden nie mehr allein sein. Sie werden angebetet werden. Bewundert. Geliebt. Aber Sie müssen sich mir schenken – als ein williges Opfer.«
Tränen rollen über mein Gesicht. »Ja«, murmle ich.
»Gemma, hören Sie nicht zu«, sagt Circe heiser und für einen Moment sehe ich Eugenia nicht mehr; ich sehe nur den Baum, das Blut, das unter seiner Rinde fließt, die Körper der Toten, die wie Schimären an ihm herabhängen.
Ich ringe nach Atem und Eugenia ist wieder hier vor mir. »Ja, das ist es, was Sie möchten, Gemma. Wie sehr Sie es auch versuchen, Sie können diesen Teil Ihrer selbst nicht töten. Die Einsamkeit, die dicht unter der Treppe Ihrer Seele hockt. Immer da, wie sehr Sie sich auch bemüht haben, sie loszuwerden. Ich verstehe das. Oh ja. Bleiben Sie bei mir und Sie werden nie wieder allein sein.«
»Hör nicht … auf dieses … Weib«, krächzt Circe und die Ranken ziehen sich um ihren Hals zusammen.
»Nein, Sie irren sich«, sage ich zu Eugenia, als erwache ich aus einem langen Schlaf. »Sie konnten diesen Teil Ihrer selbst nicht töten. Und Sie konnten es auch nicht akzeptieren.«
»Ich fürchte, ich weiß nicht, was Sie meinen.« Sie klingt zum ersten Mal unsicher.
»Deshalb ist es den dunklen Geistern der Winterwelt gelungen, Sie in ihre Fänge zu bekommen. Sie haben Ihren wunden Punkt entdeckt.«
»Und was sollte das gewesen sein?«
»Ihr Stolz. Sie konnten nicht glauben, dass Sie vielleicht die gleichen Eigenschaften besitzen wie die dunklen Geister selbst.«
»Ich bin nicht wie sie. Ich bin ihre Hoffnung. Ich erhalte diese aufrecht.«
»Nein. Das reden Sie sich selbst ein. Deswegen hat mir Circe geraten, meine finsteren Winkel zu erforschen. Damit ich den dunklen Geistern nicht auf die gleiche Weise in die Hände falle.«
Circe lacht, ein gackerndes Lachen, das mir unter die Haut kriecht.
»Und was ist mit Ihnen, Gemma?«, schnurrt Eugenia. »Haben Sie sich erforscht, wie Sie sagen?«
»Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Ich habe Fehler gemacht«, sage ich. Meine Stimme festigt sich und meine Finger beginnen wieder nach dem Dolch zu suchen. »Aber ich habe auch Gutes getan.«
»Und trotzdem sind Sie noch immer allein. All die Bemühungen und immer noch stehen Sie außerhalb. Haben Angst vor dem, was Sie wirklich wollen, denn was ist, wenn es schließlich doch nicht genügt? Wenn Sie es bekommen und sich noch immer allein und ausgestoßen fühlen? Arme Gemma. Sie passt einfach nirgends dazu, stimmt’s? Arme Gemma – mutterseelenallein.«
Es ist, als hätte sie mich mitten ins Herz getroffen. Meine Hand zögert. »Ich … ich …«
»Gemma, Sie sind nicht allein«, stößt Circe hervor und meine Hand berührt Metall.
»Nein, das bin ich nicht. Ich bin wie alle anderen auf dieser dummen, verdammten, erstaunlichen Welt. Ich habe Fehler. Jede Menge. Aber ich bin zuversichtlich. Ich bin noch immer ich selbst.« Jetzt hab ich’s. Sicher und fest im Griff. »Ich sehe durch Sie hindurch. Ich sehe die Wahrheit.«
Ich springe auf und plötzlich ist die Illusion, die Eugenia erzeugt hat, zerbrochen. Ich sehe das Schlachtfeld überzogen mit Blut und wütendem Gemetzel. Höre das Klirren von Eisen gegen Eisen, das Geschrei der Rache, der Angst, der Gier nach Herrschaft und Macht, die Schreie der Verzweiflung, reiner Tapferkeit und gnadenloser Gerechtigkeit. Alles mündet in einem entsetzlichen Gebrüll, das jede Stimme, jedes Herz, jede Hoffnung übertönt.
»Gut gemacht, Gemma«, sagt Eugenia. »Ihre Kraft ist wirklich beachtlich. Schade, dass Sie nicht lange genug leben werden, um mehr solcher köstlicher Fehler zu begehen.«
Ich hebe den Dolch. »Richtig. Lassen Sie uns die Sache ordentlich beenden.«
Die vielen Arme des Baumes strecken sich und stöhnen. Seine Oberfläche wellt sich über den Seelen, die er in sich hineingeschlungen hat. Ich versuche klar zu sehen, aber es ist keine Illusion. Das hier ist schrecklich real und ich falle rückwärts, als sich der Baum in die Höhe reckt und drohend über mir aufragt.
»Gemma, tun Sie es«, stöhnt Circe qualvoll.
Ich kratze jeden Krümel Magie zusammen und leite sie in den Dolch. »Ich befreie die Seelen, die hier gefangen sind! Ihr seid erlöst!«
Ich schließe die Augen und versuche, den Dolch in den Baum zu stoßen. Einer der Äste schlägt ihn mir aus der Hand. Ich schreie entsetzt auf. Der Baum bricht in ein ohrenbetäubendes Geheul aus, das die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen auf dem Schlachtfeld auf sich zieht.
»Ihr Blut muss fließen!«, befiehlt der Baum.
»Gemma!«, ruft Kartik und ich höre den Alarm in seiner Stimme.
Amar kommt auf mich zu. Er gibt seinem Pferd die Sporen, feuert es an. Ich reiße mich ein wenig aus der Umklammerung des Baumes los und versuche, den Dolch zu erreichen, verfehle ihn aber um Haaresbreite. Für einen Moment verlangsamt sich die Zeit. Das Getöse der Schlacht verebbt zu einem Gesumm. Nur das Trappeln der Pferdehufe dröhnt im Takt mit dem Pulsieren meines Bluts in meinen Ohren. Ich sehe Kartik mit einer wilden Entschlossenheit in den Augen hinter seinem Bruder herrennen. Und dann nimmt die Zeit ihren gewohnten Lauf wieder auf.
Die Wurzeln lassen mich los. Ich falle auf den Boden. Keuchend krieche ich auf den Dolch zu, aber Amar ist schneller.
»Nein!«, ruft Kartik und dann fühle ich einen schneidenden Schmerz in meiner Seite. Der Dolch steckt darin und mein Blut spritzt über meine weiße Bluse und breitet sich zu einem großen Fleck aus.
»Gemma!«, schreit Felicity. Ich sehe sie mit Ann dicht dahinter auf mich zulaufen.
Ich taumle vorwärts, und als ich den Baum erreiche, ziehe ich mit einem Schmerzensschrei den Dolch aus meiner Seite.
»Ich … erlöse … diese Seelen«, wiederhole ich flüsternd.
Ich stoße den Dolch in den Baum. Er schreit qualvoll auf und die Seelen schlüpfen unter seiner Haut hervor, Flammenzungen, die wie Blätter von seinen Zweigen fallen, und dann sind sie fort.
Meine Augenlider flattern. Die Landschaft beginnt zu verschwimmen. Mein Körper zittert, bis ich nur noch ein zitterndes Bündel bin. Ich bin in der Umarmung des Baumes gefangen. Als Letztes, bevor sich das Netz der Zweige um mich zusammenzieht, höre ich Kartik, der meinen Namen ruft.