38. Kapitel
In Spence wartet ein zum Gähnen langweiliger Tag auf uns. Wir verbringen die ganze Französischstunde mit dem Konjugieren von Verben. Offen gestanden ist mir der Unterschied zwischen Ich habe Schnecken gespeist und Ich werde Schnecken speisen piepegal, weil mir garantiert keine Schnecke jemals über meine Lippen kommen wird. Wir wiederholen die Schritte der Quadrille, bis ich sie im Schlaf ausführen könnte; wir rechnen unsere Ein- und Ausgaben zusammen, damit wir eines Tages die Haushaltsbücher führen und unseren Ehemännern bei der Verwaltung ihres Vermögens von Nutzen sein können. Unter Miss McChennmines Anleitung zeichnen wir einander im Profil; Elizabeth beschwert sich, dass ich ihr eine zu große Nase verpasst habe, obwohl ich in Wahrheit noch viel zu freundlich war.
Statt mit den anderen Tee zu trinken und ihrem Geschwätz über dieses Fest oder jenen Ball zu lauschen, entschuldige ich mich unter dem Vorwand, meinen Hofknicks zu üben. Auf der Suche nach dem Dolch, den Wilhelmina Wyatt gestohlen hat, oder irgendwelchen Hinweisen auf dessen Verbleib, durchstöbere ich alle Winkel und Ritzen der Schule. Leider finde ich nichts außer Staub, leeren Schubladen und vollgestopften Regalen. Ich bin ratlos, erst recht, da Miss Wyatt sich weder in meinen Visionen noch in meinen Träumen mehr blicken lässt. Es ist, als spiele sie mit mir, und ich erinnere mich an Dr. Van Ripples Bernerkung, sie habe ein Vergnügen an kleinen Grausamkeiten. Ich beginne an ihrer Vertrauenswürdigkeit mehr und mehr zu zweifeln.
Gerade als ich im Begriff bin, aufzugeben und zu den anderen zurückzukehren, entdecke ich im Efeu Kartiks Halstuch. Ich angle danach und knüpfe es los. Eine Nachricht ist angeheftet: Ich habe es arrangiert. Sie finden mich in der Waschküche. Um Mitternacht. Bringen Sie fünf Pfund mit. Ziehen Sie sich vernünftig an.
Heute Nacht. Danke, wie nett von ihm, mich so zeitig zu benachrichtigen. Trotzdem, es ist arrangiert, und wenn ich mit einem Repräsentanten der Rakschana sprechen kann, um meinen Bruder zu retten, dann gehe ich, wann und wohin auch immer.
Felicity ist über meine Pläne gar nicht glücklich. Sie will wieder ins Magische Reich zu Pippa, aber sie versteht, dass ich Tom helfen muss. Sie bietet mir sogar an, mir ihr Florett zu leihen für den Fall, dass ich jemanden erstechen muss. Ich versichere ihr, dass das nicht nötig sein wird, und hoffe, mit dieser Annahme recht zu behalten.
Unmittelbar vor Mitternacht mache ich mich bereit, um Kartik in der Waschküche zu treffen. Er hat geschrieben, ich solle mich vernünftig anziehen, und da wir des Nachts durch die Straßen Londons kutschieren werden, komme ich zu dem Schluss, dass es nur eine vernünftige Lösung gibt.
Mithilfe der Magie verschaffe ich mir Hosen, ein Hemd, eine Weste und einen Mantel. Ich kürze mein Haar und bin selbst überrascht, mich so zu sehen – nichts als Augen und Sommersprossen. Ich mache mich gut als Junge – vielleicht bin ich als Junge sogar hübscher, als ich es als Mädchen bin. Eine Stoffmütze vervollständigt die Illusion.
Das Waschhaus ist dunkel. Ich sehe und höre nichts und ich frage mich, ob Kartik überhaupt da ist.
»Sie sind spät«, sagt er, als er hinter einem Pfeiler hervortritt.
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, entgegne ich spitz.
»In meiner Nachricht stand ausdrücklich Mitternacht. Wenn wir rechtzeitig in London sein wollen, müssen wir sofort aufbrechen. Haben Sie das Geld?«
Ich halte meine Geldbörse hoch und lasse sie klingeln. »Fünf Pfund, wie verlangt. Wofür brauchen Sie die?«
»Informationen sind kostbar«, antwortet er. Er betrachtet meine Hosen. »Vernünftig.« Sein Blick wandert höher. Er wendet sich ab. »Knöpfen Sie Ihren Mantel zu.«
Mein Busen tritt unter dem Hemd leicht hervor. Diesen Teil meines Körpers habe ich nicht verkleidet. Verlegen knöpfe ich den Mantel zu.
»Hier«, sagt Kartik und bindet mir sein Tuch um den Hals. Die Enden hängen herunter und verdecken meine Brust.
Er führt mich zum Anspannplatz, wo Freya wartet. Kartik streichelt die Nase der Stute, um sie zu besänftigen. Er schwingt sich in den Sattel und reicht mir seine Hand, dann zieht er mich hinter sich aufs Pferd. Wir galoppieren sofort los. Ich schlinge meine Arme um seine Mitte und er hat nichts dagegen einzuwenden.
Unser Ritt dauert scheinbar eine Ewigkeit. Mein Hinterteil schmerzt. Endlich schimmern in der Ferne die Lichter von London. Am Stadtrand steigen wir ab. Unter tausend Versicherungen, dass wir zurückkommen werden, bindet Kartik die Stute an einem Baum fest. Er gibt ihr eine Karotte zu fressen und wir überlassen uns dem Pulsschlag des Londoner Nachtlebens. Die Straßen sind nicht so still, wie ich dachte. Es ist, als habe sich die eigentliche Stadt aus den Häusern gewagt, während ihr Gegenstück, die gewöhnliche Tagstadt, schläft. Das ist ein ganz anderes London, ein kühneres und unbekanntes London.
Kartik findet eine Droschke und klopft aufs Wagendach als Signal an den Kutscher. Mit Kartik neben mir erscheint die Droschke ziemlich eng. Seine Hände liegen starr auf seinen Oberschenkeln. Ich drücke mich in die Ecke.
»Wo wird das Treffen stattfinden?«
»In der Nähe der Tower Bridge.«
Die Nacht verschwimmt in dunstigem Licht. Kartik ist so nahe, dass ich ihn ohne Weiteres berühren könnte. Sein Hemd ist am Hals offen und entblößt seinen Adamsapfel. Es ist warm im Wagen. Ein Schwindelgefühl breitet sich in meinem Kopf aus. Ich brauche eine Ablenkung, bevor ich verrückt werde.
»Wie haben Sie das Treffen arrangiert?«
»Ich habe meine Verbindungen.«
Kartik gibt keine weitere Erklärung ab und ich stelle keine weiteren Fragen. Im Wagen herrscht wieder Schweigen. Das einzige Geräusch ist das Klappern der Hufe, das sich durch meinen Körper fortpflanzt. Kartiks Knie fällt gegen meines. Ich warte, dass er es wegnimmt, aber er tut es nicht. Meine Hände zittern in meinem Schoß. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er in die Straßen hinausblickt. Ich tue dasselbe, aber ich kann nicht behaupten, dass ich die Szenerie wahrnehme. Ich spüre nur die Wärme seines Knies. Wie ist es möglich, dass eine so kleine Ansammlung Knochen und Sehnen eine so erregende Wirkung ausübt?
Der Kutscher hält ruckartig an und Kartik und ich steigen direkt unterhalb der Tower Bridge aus. Die Brücke ist seit zwei Jahren im Bau und sie bietet einen überwältigenden Anblick. Zwei mächtige Türme erheben sich zu beiden Seiten der Themse wie mittelalterliche Befestigungen. Ein Gehweg spannt sich hoch über den Fluss. Die Brücke kann sich heben, um in den Hafen einlaufenden Schiffen die Durchfahrt zu ermöglichen – und das sind viele.
Eine alte Bettlerin sitzt im feuchten Schmutz auf dem Gehsteig. Sie schüttelt eine ausgebeulte Blechbüchse mit einem Penny darin. »Bitte, Sir, ein kleines Almosen.«
Kartik wirft eine Münze hinein und das ist wahrscheinlich alles, was er hat.
»Warum haben Sie das getan?«, frage ich.
Er balanciert einen Stein auf dem Boden geschickt zwischen seinen Füßen wie einen Ball. »Sie braucht es.«
Vater sagt, man sollte Bettlern kein Geld geben. Sie würden es nur für Alkohol und andere Vergnügungen ausgeben. »Sie könnte sich davon Bier kaufen.«
Er zuckt die Schultern. »Dann soll sie Bier haben. Es geht nicht um das Geld, es geht um die Hoffnung.« Er kickt den Stein in einem hohen Bogen über ein paar Stufen. »Ich weiß, was es heißt, für Dinge zu kämpfen, die für andere selbstverständlich sind.«
Wir haben die überfüllten Ankerplätze erreicht, wo sich alle Arten von Booten drängen, von kleinen Dingis bis zu großen Schiffen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie dort hinein- und herauskommen, denn die Schiffe liegen so dicht nebeneinander, dass man leicht vom Bug des einen auf den des anderen steigen könnte, ohne nass zu werden. Die Boote säumen die Landungsstege und Docks, um entladen zu werden und Frachtgut aufzunehmen.
Kleine Stufen führen zum Ufer hinunter. Ich warte, dass Kartik mir seinen Arm anbietet. Stattdessen macht er sich ohne mich auf den Weg, die Hände in seinen Manteltaschen vergraben.
»Worauf warten Sie?«, fragt er.
»Auf gar nichts«, sage ich und nehme die Stufen in ziemlich flottem Tempo.
Kartik verdreht die Augen zum Himmel. »Warum können Sie nicht sagen, was Ihnen nicht passt? Bringt man Ihnen das bei? Wie soll man sich da auskennen?«
Am Fuß der Treppe halte ich an und stehe ihm in dem schwachen bläulichen Licht Auge in Auge gegenüber. »Wenn Sie es wissen wollen, Sie hätten mir oben Ihren Arm anbieten können, um mir zu helfen.«
Er zuckt die Schultern. »Warum? Sie haben zwei eigene.«
Ich bemühe mich, meine Fassung zu bewahren. »Es ist üblich, dass ein Herr einer Dame die Stufen hinunterhilft.«
Er grinst spöttisch. »Ich bin kein Herr. Und Sie sind heute Nacht keine Dame.«
Ich will widersprechen, aber gewissermaßen hat er recht. Schließlich folgen wir der Themse, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Der große Fluss schwappt mit einem rhythmischen Plätschern an die Ufer. Ich höre Stimmen von unten heraufdringen.
»Hier entlang«, sagt Kartik und läuft in die Richtung, aus der sie kommen. Die Stimmen werden lauter. Ihr Akzent ist hart und rau. Der Weg wird immer schlammiger, während sich der Nebel lichtet. Im seichten Wasser sind wohl ein Dutzend Menschen verschiedenen Alters – von Greisinnen bis zu Kindern mit schmutzverschmierten Gesichtern.
Eine der alten Frauen singt ein Seemannslied, unterbrochen von heftigen Hustenanfällen. Ihr Kleid hängt praktisch nur noch in Fetzen an ihrem Körper. Während sie singt, taucht sie ein flaches Gefäß ins Wasser und holt es wieder heraus. Mit raschen Fingern durchsucht sie es, indem sie es schüttelt, um Dinge herauszufischen, die ich lieber nicht näher betrachten möchte.
»Mud Larks«, erklärt Kartik. »Schmutzfinken. Sie durchstöbern den Uferschlamm der Themse nach allem, was sie noch verkaufen oder verwenden können – Lumpen, Knochen, ein Stück Blech oder Kohle von einem vorbeifahrenden Schiff. Wenn sie Glück haben, finden sie die Geldbörse von einem Matrosen, der ein böses Ende gefunden hat – falls ihnen nicht schon die Bootsmänner mit ihren Haken zuvorgekommen sind.«
Ich schneide ein Gesicht. »Aber in der Themse herumzustochern …«
Kartik zuckt die Schultern. »Immer noch besser als in den Abwasserkanälen, glauben Sie mir.«
»Was für ein elendes Dasein.«
Kartik nimmt einen harten Ton an. »Es ist ein Kampf ums Überleben. Das Leben ist nicht immer gerecht.«
Die Bemerkung tut weh und das soll sie auch. Wir verfallen in Schweigen.
»Sie sind es, der immer von Schicksal und Bestimmung redet. Wie erklären Sie denen ihr Schicksal? Ist es ihre Bestimmung, so zu leiden?«
Kartik schiebt die Hände in seine Taschen. »Leiden ist nicht Schicksal. Unwissenheit auch nicht.«
»He! Kartik!« Einer der Burschen stapft aus dem Schlamm und Schlick des Flusses auf uns zu. »Hab auf dich gewartet, Kumpel«
»Hab mich verspätet, Toby.« Kartik entschuldigt sich mit einer Verbeugung bei dem schmutzstarrenden Jungen.
Toby kommt näher und sein Geruch auch. Es ist eine grässliche Mischung aus abgestandenem Flusswasser, Abfall und Schlimmerem. Ich wage nicht zu denken, was in seinen zerfetzten Kleidern nistet. Mir dreht sich der Magen um und ich muss durch den Mund atmen, um mich nicht zu erbrechen.
»Wie steht’s mit der Schatzsuche?«, fragt Kartik. Er lässt sich nichts anmerken, aber er hat seine Hand ans Kinn gelegt. Seine Finger bedecken seine Nase.
»Nicht doll, aber auch nicht so übel.« Toby streckt seine Hand vor. Darin ist eine seltsame Sammlung – ein kleiner Brocken Kohle, zwei Haarnadeln, ein Zahn, ein Schilling. Jedes einzelne Stück ist schmutzverkrustet. Er grinst breit und entblößt dabei eine Zahnlücke. »Das gibt ’n Pint Bier.« Toby betrachtet mich misstrauisch. »’ne Lady in Männerhosen?« Ich bin sicher, der Schreck ist mir anzusehen.
Kartik zieht eine Augenbraue hoch. »Nicht jeder ist zu täuschen.«
Toby lässt die Beute in seiner Hand klingeln. »Sie ist keine Schönheit, Kumpel, scheint aber sauber zu sein. Wie viel?«
Ich verstehe nicht gleich, aber als der Groschen fällt, packt mich eine maßlose Wut.
»Also …«
Kartik umschließt meine Faust und hält sie eisern fest. »Tut mir leid, Kumpel. Sie gehört zu mir«, sagt er.
Toby zuckt mit den Schultern und rückt seine schmierige Mütze zurecht. »Hab mir nichts dabei gedacht.«.
Big Ben verkündet die volle Stunde. Der mächtige Glockenschlag durchschneidet den Nebel und ich fühle ihn bis in meinen Bauch.
»Machen wir einen Spaziergang, ja?«, sagt Toby.
»Vergiss es«, zische ich.
Sie ist keine Schönheit, Kumpel. Er hat mich für nichts Besseres als eine Dirne gehalten, und trotzdem, wie kommt es, dass mir diese Bemerkung einen Stich versetzt?
Toby führt uns zu einem Steg, auf dem sich leere Kisten stapeln und der nur von einer rußigen Lampe beleuchtet ist. »Das ist ein guter Platz«, sagt er.
Kartik blickt sich um. »Da gibt’s keinen Fluchtweg. Man könnte hier leicht in die Enge getrieben werden.«
»Wie denn?«, fragt Toby. »Da sind überall Schiffe.«
»Und die Männer auf ihnen sind betrunken oder sie schlafen. Oder es sind genau die, die wir lieber nicht näher kennenlernen«, wendet Kartik ein.
»Denkst du, ich bin blöd?«, sagt Toby herausfordernd.
»Kartik«, sage ich warnend.
»Also gut.« Kartik gibt nach. »Gemma, das Geld.«
Ich gebe ihm den kleinen Beutel mit den fünf Pfund. Es ist alles Geld, das ich habe, und es fällt mir schwer, mich davon zu trennen. Er reicht den Beutel Toby, der ihn öffnet, die Münzen zählt und in seine Tasche steckt.
»Also«, sagt Kartik. »Was hast du über Mr Doyle herausgefunden?«
Ich blicke von Kartik zu Toby und wieder zurück. »Um den zu treffen, sind wir hergekommen?«
»Toby macht sich manchmal als Laufbursche nützlich. Er weiß, wie man an Informationen kommt.«
Toby grinst von einem Ohr bis zum anderen. »Ich kann alles herausfinden. Bei meinem Leben.«
»Aber das sollte ein Treffen mit den Rakschana sein«, protestiere ich. Ich will mein Geld zurück.
»Zuerst sammeln wir Informationen, damit wir wissen, woran wir sind«, erklärt Kartik. »Wenn wir ein Treffen mit ihnen vereinbaren, würden sie uns mit Sicherheit gefangen nehmen. Ich war einer von ihnen. Ich weiß es.«
»Also gut«, knirsche ich.
Die Boote draußen auf der Themse schaukeln in der Strömung. Es hat etwas Beruhigendes und Vertrautes an sich.
»Sie nehmen ihn auf. Haben schon ’ne Initiation vorbereitet und alles«, sagt Toby. »Weiß allerdings nicht, wie viel sie ihm gesagt haben.«
»Ist Mr Fowlson der, der ihn aufgenommen hat?«, fragt Kartik.
Toby schüttelt den Kopf. »Fowlson ist dem sein Handlanger. Irgendwer von der Spitze hat das verlangt. Ein Gentleman.« Er zeigt zum Himmel. »Jemand von ganz oben.«
»Weißt du, wer?«
»Nein. Das ist alles, was ich weiß.«
»Ich möchte diesen Gentleman finden«, beharre ich.
»Fowlson ist sein Kontaktmann. Er kennt ihn.«
Ein Echo von Schritten hinter uns. Begleitet von einem munteren Pfeifen, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Kartik verengt seine Augen. »Toby.«
Mit einem bedauernden Schulterzucken und einem traurigen Lächeln macht sich der dreckige Kerl aus dem Staub. »Tut mir leid, Kumpel. Er hat mir sechs Pfund gegeben und meine Mum ist schrecklich krank.«
»Ach nein, was ha’m wir ’n da? Von den Toten auferstanden, Bruder?« Ein Paar schwarze Stiefel glänzen unter dem Lampenlicht. Mr Fowlson schält sich aus der Dunkelheit, flankiert von einem großen Mann. Auf der anderen Seite des Stegs nähern sich zwei von seinen Kumpanen. Hinter uns ist die Themse. Sie haben uns in die Enge getrieben.
Kartik schiebt mich hinter sich.
Fowlson grinst höhnisch. »Möchtest dein Mädchen schützen, was?«
»Welches Mädchen?«, fragt Kartik.
Fowlson lacht. »Sie mag zwar in Hosen und ’nem Mantel stecken, aber ’s sind die Augen. Die lügen nicht.«
»Gib mir dein Wort als ein Bruder, dass du sie in Ruhe lässt«, sagt Kartik, aber ich kann die Angst in seiner Kehle pochen sehen.
Fowlson kräuselt hasserfüllt die Lippen. »Du hast die Gemeinschaft verlassen, Bruder. Zwischen uns gibt’s keinen Ehrenkodex mehr. Ich muss dir gar nichts versprechen.« Fowlson zieht ein Messer aus der Tasche. Er lässt es aufschnappen und die Klinge glänzt im schwachen Gaslicht.
Hastig suche ich das Ufer nach einem Menschen ab, der meine Schreie hören und uns zu Hilfe kommen könnte. Aber der Nebel verdichtet sich. Und wer würde bei solch einem Tohuwabohu nicht lieber Reißaus nehmen? Magie. Ich könnte sie beschwören, aber dann wüsste Fowlson endgültig, dass ich gelogen habe, als ich behauptete, ich hätte sie nicht mehr.
Einer seiner Kumpane wirft ihm einen Apfel zu, den Fowlson geschickt mit einer Hand auffängt. Er setzt das Messer an und schält ihn in dünnen, langen Ringeln, die er auf den Boden fallen lässt.
Mit dem Mut der Verzweiflung presche ich vor. »Ich will, dass Sie meinen Bruder in Ruhe lassen.«
Fowlson grinst boshaft. »Ach ja, wollen Sie das?«
»Ja«, sage ich und ich wünschte, meine Stimme würde schneidender klingen. »Bitte.«
»Nun ja, das hängt von Ihnen ab, Miss Doyle. Sie haben etwas, das uns gehört.«
»Was sollte das sein?« Meine Stimme gehorcht mir, ohne zu zittern.
»Ah, wie naiv sind Sie eigentlich?« Sein Grinsen erstarrt zu einer Grimasse. »Die Magie.«
Er kommt einen Schritt näher und Kartik und ich weichen zurück. Noch ein Schritt und wir liegen in der Themse.
»Ich hab’s Ihnen schon gesagt. Ich habe sie nicht mehr.«
Kartiks Augen wandern nach links und rechts und ich hoffe, er entdeckt einen Fluchtweg.
»Sie lügen«, knurrt Fowlson.
»Wie wollen Sie wissen, dass sie lügt?«, fragt Kartik.
Fowlson fährt ihn scharf an. »Ich rede mit ihr.«
»Die Rakschana sollten das Magische Reich beschützen, nicht die Magie stehlen.« Ich muss Zeit gewinnen.
»So war es einmal, Miss. Die Dinge haben sich geändert. Die Hexen haben ihre Zeit gehabt.«
Wir sitzen hier in der Falle. Wir können nirgendwohin außer in die Themse.
»Wenn ich’s recht bedenke, dann hab ich einen guten Fang gemacht.« Er zeigt mit dem Messer auf Kartik. »Du bist ein Verräter an der Bruderschaft und Sie« – er lässt die Klinge zu mir wandern – »Sie haben die Lösung für all unsere Probleme.«
»Können Sie springen?«, flüstert mir Kartik zu. Er wirft einen Blick zu dem Boot, das unter uns vertäut ist. Ich nicke.
»Was habt ihr Turteltauben zu tuscheln?«, fragt Fowlson.
»Bei drei«, flüstert Kartik. »Eins, zwei …«
Ich schaffe es vor lauter Angst nicht zu warten. Ich springe bei zwei und ziehe Kartik mit. Wir fallen hinunter und prallen mit einem dumpfen Schlag, der mir durch den ganzen Körper fährt, auf dem Bug des vor Anker liegenden Schiffes auf.
»Ich sagte drei.« Kartik keucht, als wären seine Lungen geborsten.
»T-tut mir leid«, stammle ich.
Fowlson ruft uns vom Steg etwas zu und ich sehe, dass er zum Sprung ansetzt.
»Weg hier.« Kartik reißt mich hoch und wir humpeln zum Heck, hinter dem ein zweites, kleineres Boot ankert. Zwischen den beiden Booten ist eine kleine Lücke, aber im Dunkeln und mit dem Plätschern der Themse scheint der Zwischenraum eine Meile breit zu sein. Das Boot schlingert, was die Sache noch heikler macht.
»Springen Siel«, ruft Kartik. Er setzt über den Zwischenraum und zieht mich mit sich.
»Was zum Teufel!«, ruft ein überraschter Matrose, als wir in sein Boot plumpsen.
»Überraschungsinspektion!«, ruft Kartik und ist schon wieder auf und davon, mit mir im Schlepptau.
Noch ein Sprung und wir sind auf dem Kai. Wir rennen in halsbrecherischem Tempo über den glitschigen Boden. Fowlson und seine Kumpane sind dicht hinter uns. Unterhalb der Straßenböschung öffnet sich ein Schacht. Ein Abwasserkanal.
»Dort hinein!«, ruft Kartik und seine Worte hallen als Echo wider. Aus dem Kanal schlägt uns ein so entsetzlicher Gestank entgegen, dass mir speiübel wird. Ich drücke den Handrücken gegen meine Nase.
»Ich glaube, das schaff ich nicht«, würge ich hervor.
»Es ist ein Ausweg.«
Wir kriechen in das widerliche, stinkende Loch. Die Wände tropfen vor Feuchtigkeit. Eine dicke Brühe ergießt sich über den Boden des Tunnels. Sie quillt in meine Schuhe und sickert in meine Strümpfe und ich muss gegen einen Brechreiz ankämpfen. Der Tunnel ist voll huschender Bewegung. Fette schwarze Ratten rennen auf ihren dünnen Beinen, schlüpfen plötzlich aus kleinen Maueröffnungen. Ihr Quieken ruft eine Gänsehaut auf meinen Armen hervor. Meine ganze Haut scheint zu kribbeln. Ein frecher Kerl streckt dicht neben meinem Gesicht seine Nase hervor und ich schreie. Kartik presst mir eine Hand auf den Mund.
»Schhhh«, flüstert er und sogar das hallt in dem stinkenden Kanal wider.
Eng aneinandergedrängt stehen wir in dem feuchten, ekligen Tunnel und horchen. Alles, was wir hören, ist das ständige Tropfen und grässliche Klicken der Rattenkrallen. Und dann noch etwas.
»Hallo, Freunde. Wir wissen, dass ihr hier seid.«
Kartik bewegt sich stetig vorwärts, doch der Kanal vor uns wird immer dunkler. Panische Angst erfasst mich. Ich kann nicht mehr weiter.
»Machen Sie die Augen zu. Ich werde Sie führen«, flüstert Kartik. Er kommt neben mich und schlingt seinen Arm um meine Taille.
Ich stehe wie festgefroren. »Nein. Ich kann nicht. Ich …«
»Haben wir euch!« Im Handumdrehen sind Fowlsons Männer bei uns. Sie packen Kartik und drehen ihm den Arm auf den Rücken, bis er vor Schmerz aufschreit.
»Jetzt bin ich aber wirklich böse«, sagt Fowlson, während er langsam auf uns zukommt.
»Ich habe sie dem Orden gegeben«, platze ich heraus. »Sie hatten recht – ich habe Sie vorhin angelogen. Aber erst heute Morgen habe ich mich mit Miss McChennmine getroffen. Sie hat mich überzeugt. Wir haben im Magischen Reich einen Bund geschlossen. Die Magie ist jetzt wirklich im Besitz des Ordens. Ich schwöre es!«
Ein milderer Zug tritt in Fowlsons Gesicht. Er sieht besorgt aus, verwirrt. »Heute Morgen?«
»Ja«, lüge ich.
Fowlson ist so nahe, dass ich den Apfel riechen kann. Gleich darauf verzerrt sich sein Mund wieder vor Zorn. »Wenn das stimmt, dann kann mich nichts mehr davon abhalten, Kartik hier und jetzt die Kehle durchzuschneiden.« Er drückt Kartik die flache Klinge an den Hals. »Armer Bruder Kartik. Soll ich Ihnen sagen, was mit ihm passiert ist, Miss?«
Kartik wehrt sich gegen das Messer.
»Wir haben ihn festgenommen. Wissen Sie, wie lang ein Mann unseren Verhören standhalten kann?« Fowlson hält seinen Mund so dicht an mein Ohr, dass ich seinen heißen Atem spüren kann. »Ich hab Gefangene in weniger als einem Tag weichgekriegt. Aber unser Kartik, der wollte nicht gestehen. Wollte uns nicht sagen, was er über Sie und das Magische Reich weiß. Wie lang hat’s gedauert, Kartik? Fünf Tage? Sechs? Ich hab vergessen zu zählen. Aber zum Schluss ist er zusammengebrochen, wie ich’s erwartet hatte.«
»Ich bring dich um«, keucht Kartik, mit dem Messer an seiner Kehle.
Fowlson lacht. »Ist das deine Achsoweh-Ferse, Freundchen? Soll sie’s nicht erfahren?« Fowlson hat Kartiks Angst gerochen und Blut geleckt. Er drückt die Klinge mit grausamem Vergnügen gegen Kartiks Kehle, aber was er zu mir sagt, ist noch grausamer. »Am Ende ist er total übergeschnappt. Hat angefangen, in seinem Kopf Amar zu sehen. Der gute alte Amar hatte ’ne Botschaft für ihn. ›Du wirst ihr Tod sein, Bruder.‹ Und was er dann gesehen hat, muss einfach grauenhaft gewesen sein, denn er hat geschrien und geschrien, bis nur noch Luft rausgekommen ist. Und da hab ich gewusst, dass ich ihn schließlich doch gebrochen hatte.« Fowlson grinst höhnisch. »Aber ich versteh nicht, warum er Ihnen diese Geschichte nicht erzählen wollte.«
Kartiks Augen sind feucht. Er scheint abermals gebrochen zu sein und ich könnte Fowlson dafür umbringen. Ich werde nicht zulassen, dass Kartik noch einmal wehgetan wird. Nicht, solange ich es verhindern kann.
»Achilles«, sage ich.
Fowlsons Messer schwankt einen Moment. »Was?«
»Es heißt Achillesferse, nicht Achsoweh-Ferse, Sie verdammter, ungebildeter, dummer Schnösel.«
Fowlson sperrt die Augen weit auf und lacht. »Oho, das Fräulein nimmt seinen hübschen Mund ganz schön voll. Wenn ich mit dem hier fertig bin, zahl ich’s Ihnen heim und nicht zu knapp.«
»Nein, das glaube ich nicht.« Flink wie ein Hase fasse ich zu. Meine Hand auf seinem Arm. Zauberkraft durchströmt mich wie die Themse selbst. Ein grelles Licht erfüllt den Tunnel, fängt den Ausdruck von Schreck und Überraschung auf Fowlsons Gesicht ein, als wir kurzgeschlossen werden und seine Gedanken in meine einsickern.
Nur für eine Sekunde pulsieren seine Gefühle von maßlosem Zorn und Raserei durch meine Adern. Sie werden von einer flüchtigen Erinnerung verdrängt – ein kleiner Junge, eine dunkle Küche, ein Topf mit Wasser und eine große, finster blickende Frau mit wutverzerrtem Mund. Ich kenne die Ursache ihrer Wut nicht, aber ich fühle die Furcht des Kindes. Tatsächlich zieht sich mein Magen vor Grauen zusammen. Im nächsten Moment ist es vorbei und nun ist die Magie vollständig in mir erwacht.
»Ja«, sage ich. »Ich habe gelogen. Und jetzt werde ich Sie bitten müssen hierzubleiben, Mr Fowlson.«
Ich weise die Magie an, die Dinge, die ihm und seinen Gefährten gerade durch den Kopf gehen, umzuformen. Ihr könnt nicht folgen. Ich spreche es nicht aus, aber die Wirkung ist die gleiche. Fowlson stellt überrascht fest, dass seine Beine seinen Befehlen nicht gehorchen. Sie sind auf der Stelle festgewachsen. Das Messer fällt ihm aus den Fingern; die Hände hängen zu beiden Seiten schlaff an ihm herunter. Und Kartik ist befreit. Fowlsons Kumpane können einander nur ansehen, als suchten sie nach einer Erklärung. Sosehr sie sich auch anstrengen, sie sind unfähig, sich zu bewegen.
»Was machst du mit mir, du Hexe!«, schreit Fowlson.
»Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben, Mr Fowlson«, erwidere ich. »Schwören Sie, meinen Bruder in Ruhe zu lassen.«
Fowlson bemüht sich vergeblich, sich von dem Bann zu befreien. »Mach mich los oder ich werde dir alle Knochen im Leib brechen!«
»Das reicht. Schwören Sie’s.«
Er grinst und seine trotzige Herausforderung macht mich wütend. »Das Einzige, was ich dir schwöre, ist: Das alles kümmert mich im Moment einen feuchten Dreck. Hier geht’s nur um uns zwei. Ich werde dich kriegen, du kleine Hexe. Du wirst noch um Gnade flehen.«
Die Magie beginnt wild und zügellos in mir zu toben. Ich kann mich selbst nicht mehr richtig fühlen. Ich fühle nur noch eine rasende, blinde Wut. Ich möchte ihm wehtun, ihm meinen Willen aufzwingen. Ich will, dass er weiß, wer hier die Macht hat. Das sollst du mir büßen …
Fowlson reißt in plötzlichem Entsetzen die Augen auf. Langsam kippt er vorwärts, sein Gesicht kommt dem wässrigen Unrat auf dem Grund des Kanals immer näher und näher. Er kann nicht sprechen; meine Wut lässt es nicht zu. Meine Augenlider flattern. Kartik redet mir zu, ich solle vernünftig sein, aber ich will es nicht hören; alles in mir schreit nach Vergeltung.
Etwas geistert durch meine Seele. Der Junge in der Küche. Die ärgerliche Frau rollt ihre Ärmel auf. Der kleine Junge duckt sich vor ihrem furchtbaren Zorn. Du elender Bastard, flucht sie, ich werde dir zeigen, was Respekt ist. Ich werde dir alle Knochen im Leib brechen. Sie taucht seinen Kopf in den Topf mit Wasser und hält ihn fest, während der Junge verzweifelt um sich schlägt. Du wirst noch um Gnade flehen! Der Junge kommt nach Atem ringend hoch und sie taucht ihn noch einmal unter. Ich fühle seine Angst, als sich das Ganze ein ums andere Mal wiederholt. Er ist nahe daran zusammenzubrechen und für einen Moment überlegt er, ob er es soll, überlegt, seine Lungen mit diesem Wasser zu füllen, um sie glücklich zu machen, damit sie wieder gut ist. Aber er schafft es nicht. Er versagt. Sie zieht seinen Kopf eine Handbreit hoch und es gelingt ihm, ein Wort herauszusprudeln: Gnade. Sie schlägt ihm ins Gesicht und ihr Ring schneidet in seine Wange. Er krümmt sich in der Ecke zusammen, presst seine Hand auf den tiefen Riss, aber er wagt es nicht, einen Laut von sich zu geben. Morgen wird er sich mehr bemühen. Morgen wird sie ihn lieben. Morgen wird er sie nicht so sehr hassen.
Es ist, als hätte ich einen Schlag erhalten. Die Magie flackert; ich stolpere und stütze mich an der nassen Wand ab. Fowlsons Gesicht ist eine Handbreit vom schmutzigen Wasser entfernt. Halt, sage ich zu mir selbst. Halt. Die Magie legt sich in mir zur Ruhe. Mein Kopf tut weh und meine Hände zittern.
Fowlson richtet sich schwer atmend auf.
»Es tut mir leid«, sage ich mit rauer Stimme. »Ihre Mutter … sie hat Sie geschlagen. Sie hat Ihnen die Narbe zugefügt.«
Fowlson hat Mühe zu sprechen. »Kein Wort über meine Mutter! Sie war eine Heilige!«
»Nein«, flüstere ich. »Sie war ein Ungeheuer. Sie hat Sie gequält.«
»Schweigen Sie!«, schreit er und in seinen Mundwinkeln sammelt sich Speichel an.
»Das habe ich nicht gewollt«, protestiere ich. »Glauben Sie mir.«
»Das werden Sie mir büßen!« Er wendet sich Kartik zu. »Ich hoffe, du hast dir gut gemerkt, was du bei uns gelernt hast, Bruder. Du wirst es brauchen.« Fowlson schwingt sich zu mir herum, obwohl ich außer seiner Reichweite bin. Er kann nicht anders, er ist es sich schuldig. »Ich werde dich zerschmettern, du Miststück!«
Dafür sollte ich ihm eine Ohrfeige geben, aber ich tu es nicht. Ich sehe immerfort den kleinen Jungen, der in der Ecke der Küche kauert.
»Die Magie wird nicht lange anhalten. Eine Stunde, höchstens zwei. Und wenn Sie dann frei sind, werden Sie uns nicht mehr verfolgen, Mr Fowlson, oder Sie werden meine Zauberkraft noch einmal zu spüren bekommen.«
Kartik nimmt meine Hand und führt mich aus dem Kanal hinaus. Wir lassen Fowlson und seine Kumpane ohnmächtig vor sich hin fluchend in der Kloake zurück.
*
Es tut gut, an der verschmutzten Themse entlangzugehen. Die Flussluft, die vor einer Stunde so widerwärtig schien, ist süß im Vergleich zu dem erstickenden Kanalgeruch. Das todbringende Husten und der eintönige Gesang der Mud harks schallen gespenstisch durch den Nebel. Ein plötzlicher, erfreuter Ausruf dringt daraus hervor. Jemand hat einen Klumpen Kohle gefunden. Die Nachricht wird mit Begeisterung und lautem Getöse begrüßt, als alle zu der verheißungsvollen Stelle stürzen. Doch es stellt sich heraus, dass es nichts weiter als ein Felsbrocken ist. Ich höre, wie er mit einem schweren Platsch ins Flussbett der Themse zurückgeworfen wird, diesem Friedhof der Hoffnung.
»Ich muss mich ein bisschen ausruhen«, sage ich.
Wir setzen uns auf einen der Stege und schauen zu den Booten hinaus, die auf dem Fluss schaukeln.
»Sind Sie in Ordnung?«, frage ich nach langem Schweigen.
Er zuckt mit den Schultern. »Sie haben gehört, was er gesagt hat. Und nun verachten Sie mich dafür.«
»Das ist nicht wahr«, sage ich. »Amar meinte …« Ich denke an meine jüngste Begegnung mit Kartiks Bruder in der Winterwelt. Aber ich bin nicht bereit, das jetzt schon preiszugeben. »In Ihrem Traum meinte er, Sie würden mein Tod sein. Ist das der Grund, warum Sie sich von mir ferngehalten haben?«
Er antwortet nicht sofort. »Ja, das ist ein Teil davon.«
»Was ist der andere Teil?«
Kartiks Gesicht verdüstert sich. »Ich … es ist nichts.«
»Wollten Sie sich deswegen nicht dem Bündnis anschließen?«, frage ich.
Er nickt. »Wenn ich das Magische Reich nicht betrete, kann sich der Traum nicht erfüllen. Ich kann Ihnen keinen Schaden zufügen.«
»Sie haben gesagt, Unwissenheit sei keine Bestimmung«, erinnere ich ihn. »Wenn Sie nicht ins Magische Reich gehen, dann werden Sie nur nicht im Magischen Reich gewesen sein. Außerdem gibt es Hunderte von Möglichkeiten, mir etwas anzutun, selbst hier, wenn Sie wollten. Sie könnten mich in die Themse schmeißen. Mich in einem Duell erschießen.«
»Sie mit den Gedärmen eines großen Tiers aufhängen«, setzt er lächelnd fort.
»Mich für immer Mrs Nightwing ausliefern, um zu Tode gepiesackt zu werden.«
»Ah, das ist grausam, sogar für einen wie mich.« Kartik schüttelt lachend den Kopf.
»Sie finden meinen drohenden Tod so amüsant?«, necke ich ihn.
»Nein. Das ist es nicht. Sie haben Fowlson hereingelegt«, sagt er und nun grinst er von einem Ohr bis zum anderen. »Das war … ungeheuerlich.«
»Ich dachte, meine Zauberkraft hat Sie erschreckt.«
»Ja, das hat sie. Das tut sie. Ein bisschen«, gibt er zu. »Aber, Gemma, Sie könnten die Welt verändern.«
»Dazu bedürfte es sehr viel mehr als meiner Zauberkraft«, sage ich.
»Richtig. Aber Veränderung muss sich nicht mit einem Schlag vollziehen. Kleine Gesten können eine Veränderung bewirken. Einzelne Momente. Verstehen Sie?« Er sieht mich jetzt mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Ich weiß nur, dass ich wegschauen muss.
In der Ferne tutet ein Nebelhorn. Ein Boot stampft weiter in Richtung Meer.
»Was für ein düsterer, trauriger Ton. So verlassen«, sage ich und drücke meine Knie an meine Brust. »Fühlen Sie sich manchmal so?«
»Verlassen?«
Ich suche nach den Worten. »Ruhelos. Als hätten Sie sich selbst noch nicht wirklich getroffen. Als seien Sie sich einmal im Nebel begegnet und Ihr Herz machte einen Sprung … ›Ah! Hier bist du! Dieses Stück von mir hab ich vermisst!‹ Aber es geht zu schnell und dieser Teil von Ihnen verschwindet wieder im Nebel. Und Sie suchen bis ans Ende Ihrer Tage weiter danach.«
Er nickt und ich denke, er will mich beruhigen. Ich komme mir dumm vor, weil ich das gesagt habe. Es ist sentimental, aber wahr und ich habe etwas von mir preisgegeben, was ich lieber für mich behalten hätte.
»Wissen Sie, was ich denke?«, fragt Kartik schließlich.
»Was?«
»Manchmal denke ich, Sie können in einen anderen hineinschauen.«
Und damit beugt er sich vor und ich mich auch. Wir treffen uns in einem Kuss, der nicht gestohlen, sondern geteilt ist. Seine Hand umfasst meinen Nacken. Meine Hände finden sein Gesicht. Ich ziehe ihn enger an mich. Der Kuss vertieft sich. Die Hand in meinem Nacken gleitet nach unten auf meinen Rücken und drückt mich an seine Brust.
Von den Docks dringt Lärm herüber. Wir lassen einander los, aber ich möchte mehr. Kartik grinst. Seine Lippen sehen vom Küssen leicht geschwollen aus und ich frage mich, ob meine das auch tun.
»Man wird mich verhaften«, sagt er, mit dem Kinn auf meine Hosen deutend, die mich wie einen Jungen aussehen lassen.
Der eindringliche Glockenschlag des Big Ben erinnert uns daran, wie spät es ist.
»Wir sollten besser gehen«, sagt Kartik. »Diese Verzauberung dauert nicht ewig an und ich will nicht hier stehen, wenn Fowlson und seine Männer frei sind.«
»Richtig.«
Wir gehen an den Stellen vorbei, wo die Mud Larks im Schlamm buddeln. Und nur für ein paar Sekunden lasse ich die Magie wieder los.
»He! Bei allen Heiligen!«, ruft ein Junge vom Fluss her.
»’nen Schatz gefunden?«, ruft eine alte Frau zurück. Die anderen brechen in gackerndes Gelächter aus.
»’s sind keine Steine!«, schreit der Junge. Er stürzt aus dem Nebel herbei, irgendetwas in seiner Hand bergend. Die anderen umringen ihn neugierig. In seiner Hand ist ein kleines Häufchen Rubine. »Wir sind reich, Freunde! Das gibt ’n heißes Bad und ’nen vollen Bauch für uns alle!«
Kartik sieht mich misstrauisch an. »Das war ein erstaunlicher Glücksfall.«
»Ja, allerdings.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie dabei Ihre Hand im Spiel hatten.«
»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, sage ich.
Und so vollzieht sich Veränderung. Durch eine Geste. Einen Menschen. Einen winzigen Moment.
*
Freya trägt uns sicher nach Spence zurück. Der Neumond ist uns keine große Hilfe, aber das Pferd kennt den Weg und wir können nicht viel mehr tun, als zu reiten und uns nach unserem nächtlichen Abenteuer zu entspannen.
»Gemma«, sagt Kartik nach einer Weile, »ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt müssen Sie mir sagen, was Sie von Amar wissen.«
»Er hat mit mir gesprochen. Er hat mir aufgetragen, Ihnen eine Botschaft zu überbringen.«
»Was für eine Botschaft?«
»Er hat gesagt, Sie sollen in Ihr Herz blicken, dort seien Ihre Ehre und Ihr Schicksal zu finden. Ergibt das für Sie einen Sinn?«
»So etwas pflegte er von Zeit zu Zeit zu sagen – dass das Auge sich täuschen kann, nicht aber das Herz.«
»Dann existiert also Ihr Bruder zu einem gewissen Teil noch.«
»Es wäre besser, wenn es nicht so wäre.«
Wir schweigen wieder. Die Straße wird glatter. Ich bin so müde, dass mein Kopf auf Kartiks Schulter sinkt.
»Entschuldige«, sage ich gähnend.
»Schon gut«, antwortet er sanft und mein Kopf fällt wieder auf seinen Rücken. Meine Augenlider sind schwer. Ich könnte tagelang schlafen. Wir passieren den Friedhof zu unserer Linken. Raben hocken auf den Grabsteinen, und bevor mir die Augen zufallen, glaube ich ein schwaches Flimmern zu sehen. Die Raben verschwinden darin und auf dem Hügel ist alles dunkel und totenstill.