59. Kapitel
Vaters Zimmer ist nur von der kleinen Lampe neben seinem Bett beleuchtet. Er atmet angestrengt, aber er ist ruhig. Dr. Hamilton hat ihm Morphium gegeben. Merkwürdig, wie eine Droge sowohl eine Pein als auch ein Labsal sein kann.
»Hallo, Kleines«, murmelt er mit schläfriger Stimme.
»Hallo, Vater.« Ich setze mich an sein Bett. Er streckt eine Hand aus und ich nehme sie.
»Dr. Hamilton war vorhin hier«, sagt er.
»Ja, ich weiß.«
»Ja.« Er schließt für einen Moment die Augen, dann schreckt er hoch. »Ich glaube … ich glaube, ich sehe diesen Tiger. Der alte Bursche ist zurück.«
»Nein«, sage ich leise und tupfe seine Wangen ab. »Da ist kein Tiger, Papa.«
Er zeigt auf die gegenüberliegende Wand. »Siehst du nicht diesen Schatten dort?« Da ist nichts außer dem verschwommenen Umriss von Vaters erhobenem Arm. »Ich habe ihn erschossen, weißt du.«
»Nein, Papa«, sage ich. Er fröstelt. Ich ziehe die Laken bis zu seinem Hals herauf, aber er schiebt sie wieder hinunter.
»Er war dort draußen, verstehst du? Ich konnte nicht leben … mit dieser Bedrohung. Ich dachte, ich hätte ihn getötet, aber er ist zurückgekommen. Er hat mich gefunden.«
Ich betupfe seine Stirn mit einem feuchten Lappen. »Schhh.«
Seine Augen suchen die meinen. »Ich sterbe.«
»Nein. Du brauchst nur Ruhe.« Heiße Tränen brennen auf meinen Wangen. Warum sind wir gezwungen zu lügen? Warum ist die Wahrheit zu grell, um sie zu ertragen?
»Ruhe«, murmelt er und sinkt wieder in einen von Drogen umnebelten Schlaf. »Der Tiger kommt …«
Wenn ich mutiger wäre, würde ich ihn fragen, was ich ihn seit Mutters Tod schon immer fragen wollte: Warum war seine Trauer stärker als seine Liebe? Warum konnte er daraus nicht die Kraft schöpfen, um sich zur Wehr zu setzen?
Warum bin ich nicht genug, um dafür zu leben?
»Schlaf, Papa«, sage ich. »Lass für heute Nacht den Tiger Tiger sein.«
*
Allein in meinem Zimmer bitte ich wieder einmal Wilhelmina Wyatt, sich zu zeigen.
»Circe hat den Dolch. Ich brauche deine Hilfe«, sage ich. »Bitte.«
Aber sie kommt nicht, wenn ich sie herbeirufe, und so schlafe ich ein und träume.
Im Schatten eines Baumes sitzt die kleine Mina Wyatt und zeichnet den Ostflügel von Spence. Sie schraffiert den Mundwinkel eines Wasserspeiers. Sarah Rees-Toome verstellt ihr den Blick und Mina runzelt die Stirn. Sarah hockt sich neben sie.
»Was siehst du, wenn du in die Dunkelheit blickst, Mina?«
Schüchtern zeigt Mina ihr das Bild, das sie in ihrem Buch versteckt hat. Todesschergen. Die Toten. Die bleichen Geschöpfe, die in den Felsritzen leben. Und schließlich der Baum Aller Seelen.
Sarah streicht liebevoll mit dem Finger darüber. »Er ist machtvoll, nicht wahr? Voller Magie. Deshalb wollen sie nicht, dass wir davon wissen.«
Mina wirft einen Blick nach Eugenia Spence und Mrs Nightwing, die auf dem Rasen Krocket spielen. Sie nickt.
»Kannst du mir den Weg zeigen?«, fragt Sarah.
Wilhelmina schüttelt den Kopf.
»Warum nicht?«
Er wird dich fassen, kritzelt sie.
Plötzlich bin ich im Wald der Winterwelt, wo die Verdammten von den kahlen Bäumen hängen. Die Lianen schlingen sich fest um ihre Hälse; ihre Füße baumeln. Eine Frau versucht sich zu befreien und die scharfen Ranken schneiden in ihr Fleisch, um sie festzuhalten.
»Hilf mir«, flüstert sie mühsam, erstickt.
Der Nebel lichtet sich und ich sehe, wie ihr Gesicht grau wird.
Circe.