29. Kapitel
Nun, wo Miss McChennmine wieder da ist, verliert sie keine Zeit, ihre Anwesenheit spürbar zu machen. Bei jeder Gelegenheit knallt sie mit der Peitsche. Man kann eine Sache entweder richtig oder falsch machen, und was richtig ist, das bestimmt Miss McChennmine. Das einzig Positive ist ihr Faible für Spaziergänge. Da die Tage jetzt zunehmend länger werden und die Natur immer mehr erwacht, begrüßen wir diese Ausflüge und sind froh, den muffigen Hallen von Spence zu entkommen.
»Ich denke, wir werden heute im Freien zeichnen«, verkündet Miss McChennmine eines sonnigen Tages. Die Nachricht löst Begeisterung aus. Wir setzen Hüte auf, um unsere helle Haut vor Sommersprossen zu bewahren. Bei mir ist das vergebliche Liebesmüh. Ich erinnere mich an schöne, heiße Tage in Indien, als ich mit bloßen Füßen über rissigen Boden lief und die Sonne mir eine Erinnerung an jene Zeit in Form von braunen Flecken eingebrannt hat.
»Die Sonne hat dich gesegnet«, pflegte Sarita zu sagen. »Schau, wie sie dir Küsse auf dein Gesicht gedrückt hat, damit alle es sehen können und eifersüchtig sind.«
»Die Sonne liebt dich noch mehr«, sagte ich und rieb meine Hände an ihren dunklen Armen und sie lachte.
Aber hier ist nicht Indien und die Sonne darf ihre Liebe nicht zeigen.
Miss McChennmine stapft mit uns durch sumpfiges Gras, das unsere Stiefel ruiniert.
»Wo gehen wir hin?«, murrt Elizabeth hinter uns.
»Miss McChennmine, ist es noch weit?«, fragt Cecily.
»Der Spaziergang wird Ihnen guttun, Miss Temple. Ich will keine Klagen mehr hören«, antwortet Miss McChennmine.
»Ich habe mich nicht beklagt«, verteidigt sich Cecily, aber keine von uns ergreift Partei für sie. Wenn es einen Wettkampf im Jammern gäbe, würde sie spielend den Pokal gewinnen.
Miss McChennmine geleitet uns durch den Wald, am Weiher vorbei, in dem sich der blaue Himmel spiegelt, und einen schmalen, gewundenen Weg entlang, den wir noch nie gegangen sind. Der Weg schlängelt sich eine Weile eben dahin und führt schließlich auf einen Hügel hinauf. Auf der Kuppe des Hügels liegt ein kleiner Friedhof. Ein Stück davor breitet Miss McChennmine eine Decke aus und stellt unseren Picknickkorb darauf.
Elizabeth zieht ihren Mantel eng um sich. »Warum suchen wir einen so fürchterlichen Ort auf, Miss McChennmine?«
»Um uns daran zu erinnern, dass das Leben kurz ist, Miss Poole«, sagt Miss McChennmine und sieht mir für einen flüchtigen Moment in die Augen. »Außerdem ist es ein hübscher Platz für ein Picknick. Wie wär’s mit Limonade und einem Stück Kuchen?«
Schwungvoll öffnet sie den Korb und der Duft von Brigids himmlischem Apfelkuchen steigt auf. Dicke Kuchenstücke werden herumgereicht. Limonade wird eingeschenkt. Wir zeichnen und essen abwechselnd, zwanglos. Miss McChennmine schlürft ihre Limonade. Sie blickt auf die grüne Hügelkette, die Baumgruppen, die wie widerspenstige Haarbüschel vom sonst kahlen Kopf eines Mannes abstehen. »Diese Gegend hat etwas Besonderes an sich.«
»Sie ist wunderschön«, stimmt Ann zu.
»Bisschen ungemütlich«, murmelt Cecily mit vollem Mund. »Nicht so schön wie Brighton.« Ich stelle mir vor, wie sie ihren Jammerpokal poliert.
Ann ereifert sich. »Brigid hat gesagt, Jesus selbst soll mit seinem Anhänger Joseph von Arimathia auf diesen Hügeln spaziert sein und auch die Gnostiker hätte es hierher gezogen.«
»Was sind Gnostiker?«, fragt Elizabeth kichernd.
»Eine mystische Sekte früher Christen, mehr Heiden als Christen, genau genommen«, antwortet Miss McChennmine. »Ich habe diese Geschichte auch gehört, Miss Bradshaw. Viele Briten glauben, dass die Burg Camelot selbst in dieser Gegend gestanden haben könnte und dass der Zauberer Merlin hier weilte, weil es ein so zauberkräftiger Ort ist.«
»Wie kann ein Ort zauberkräftig sein?«, fragt Felicity mit vollem Mund, was ihr einen strengen Blick von Miss McChennmine einträgt.
»Miss Worthington, ich bitte Sie, wir sind doch keine Wilden«, tadelt sie und reicht Felicity eine Serviette. »In früherer Zeit glaubten viele, dass es Orte gibt, die eine außergewöhnliche Kraft in sich bergen, die große Macht verleiht. Das ist der Grund, warum sie dort ihre Kultplätze errichteten.«
»Heißt das, ich könnte, wenn ich im Mittelpunkt von Stonehenge stehe, so mächtig werden wie König Artus?«, fragt Cecily grinsend.
»Nein, ich glaube eher, dass diese Kraft nicht wahllos an jeden abgegeben wurde, sondern dass sie sorgfältig kontrolliert wurde, und zwar von denjenigen, die am besten dafür geeignet waren«, sagt Miss McChennmine entschieden. »Denn wenn in Märchen oder Sagen von Zauberei die Rede ist, lesen wir jedes Mal, dass diese Kunst strengen Gesetzen unterworfen ist, weil sonst alles ins Chaos stürzt. Schauen Sie dort. Was sehen Sie?« Miss McChennmine winkt mit der Hand zum grünen Horizont.
»Hügel«, stellt Ann fest. »Straßen.«
»Blumen und Gebüsch«, fügt Cecily hinzu. Sie schaut zu Miss McChennmine, als erwarte sie ein Lob für die richtige Antwort.
»Was wir sehen können, ist ein Beweis. Ein Beweis dafür, dass der Mensch imstande ist, die Natur zu besiegen, dass das Chaos gebändigt werden kann. Es zeigt, wie wichtig Ordnung und Gesetz sind. Und wenn wir Chaos in uns selbst erblicken, müssen wir es mit den Wurzeln ausreißen und durch eiserne Disziplin ersetzen.«
Können wir das Chaos wirklich so leicht besiegen? Wenn es so wäre, dann müsste es mir gelingen, in meiner eigenen Seele Ordnung zu schaffen, sie blitzsauber aufzuräumen, statt in diesem Labyrinth von Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten umherzuirren, das mir immer das Gefühl gibt, nicht in diese Welt zu passen.
»Aber sind viele Gärten nicht deshalb so schön, weil sie naturbelassen sind?«, sage ich. »Sind die seltsamen, neuen Blumen, die einem Irrtum oder einem Missgeschick erwachsen, nicht genauso schön wie die sorgfältig gepflanzten?«
Elizabeth verzieht den Mund. »Sprechen wir von Kunst?«
Miss McChennmine lächelt breit. »Ah, ein nahtloser Übergang zu unserem aktuellen Thema. Betrachten Sie die Kunstwerke der großen Meister und Sie werden sehen, dass sie nach strengen Gesetzen geschaffen wurden. Hier haben wir ein ausgeklügeltes System von Linien, Licht und Farbe.« Sie sieht mich an, als hätte sie mich schachmatt gesetzt.
»Was ist dann mit den Impressionisten in Paris? Ihre Bilder scheinen weniger geordnet als mit dem Pinsel gefühlt zu sein«, sagt Felicity und stopft sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund.
»Es gibt wohl immer Rebellen und Radikale«, räumt Miss McChennmine ein. »Solche, die am Rand der Gesellschaft leben. Aber was tragen sie zum Wohl der Gemeinschaft bei? Sie sind Nutznießer der Gesellschaft, ohne sich an den Kosten zu beteiligen. Nein. Ich behaupte, dass die loyalen, fleißigen Bürger, die ihre eigenen selbstsüchtigen Wünsche im Interesse der Allgemeinheit hintansetzen, das Rückgrat der Zivilisation bilden. Was wäre, wenn wir alle beschließen, wegzulaufen und frei und ungebunden zu leben, ohne uns um die Regeln der Gesellschaft zu kümmern? Unsere Zivilisation würde zusammenbrechen. Es schenkt Freude, seine Pflicht zu erfüllen, und Sicherheit, seinen Platz zu kennen. Das ist der englische Weg. Es ist der einzige Weg.«
»Genauso ist es, Miss McChennmine«, sagt Cecily. Typisch. Aber was habe ich anderes von ihr erwartet?
Ich weiß, dass die Diskussion damit beendet ist, doch ich kann es nicht hinnehmen. »Aber ohne die Rebellen und Radikalen würde sich nichts ändern, nichts infrage gestellt werden. Es gäbe keinen Fortschritt.«
Miss McChennmine schüttelt nachdenklich den Kopf. »Wahrer Fortschritt kann nur stattfinden, wenn zuerst Sicherheit besteht.«
»Was, wenn Sicherheit … nur eine Illusion ist?«, denke ich laut.
»Dann stürzen wir.« Miss McChennmine zerkrümelt den letzten Rest von ihrem Kuchen. »Ins Chaos.«
Ich nehme einen kleinen Bissen von meinem Stück Kuchen. »Und wenn das nur der Beginn von etwas Neuem ist? Wenn es eine Befreiung ist?«
»Würden Sie diese Chance ergreifen, Miss Doyle?« Miss McChennmine hält meinen Blick fest, bis ich wegschauen muss.
»Wovon reden wir eigentlich?«, gluckst Elizabeth.
»Miss McChennmine, der Boden ist so hart. Könnten wir jetzt nicht nach Spence zurückgehen?«, beklagt sich Martha.
»Ja, meinetwegen. Miss Worthington, ich übergebe Ihnen die Führung. Mädchen, folgen Sie Miss Worthington.« Miss McChennmine schüttelt die Krümel ihres Kuchens in eine Serviette und rollt diese ordentlich zusammen. »Ordnung. Das ist der Schlüssel. Miss Doyle, würden Sie mir bitte helfen, unsere Sachen einzusammeln.«
Felicity und ich wechseln Blicke. Felicity zieht ihre Hand wie eine Messerklinge quer über ihre Kehle. Miss McChennmine pflückt einen Strauß Wiesenblumen und fordert mich auf, ihr weiter zum Friedhof zu folgen. Es ist ein steiler Anstieg bis zur Kuppe des Hügels hinauf. Der Wind bläst heftig hier oben. Er fährt in Miss Chennmines Haar und löst ein paar Strähnen, die wild um ihr Gesicht fliegen und ihm etwas von seiner Strenge nehmen. Ich kann die Mädchen in einer munteren Reihe durch die Bäume hüpfen sehen, mit Ann als Nachhut. Dahinter erhebt sich Spence aus der Landschaft, als sei es ein Teil davon, als hätte es schon immer existiert, genauso wie die Bäume oder die Hecken oder die ferne Themse.
Miss McChennmine legt die Blumen am Fuß eines einfachen Grabsteins nieder. Eugenia Spence, unsere geliebte Schwester. 6. Mai 1812 – 6. April 1871.
»Ich wusste nicht, dass es einen Grabstein für Eugenia Spence gibt.«
»So hätte sie sich gewünscht, in Erinnerung behalten zu werden – einfach, ohne Firlefanz.«
»Wie war sie?«, frage ich.
»Eugenia? Sie hatte eine rasche Auffassungsgabe und beherrschte die Magie aus dem Effeff. Zu ihrer Zeit war sie die Mächtigste des Ordens. Freundlich, aber bestimmt. Sie glaubte, dass die Regeln ausnahmslos befolgt werden müssen, weil jede Abweichung unweigerlich ins Unglück führt. Diese Schule war ihr Lebenswerk. Ich habe viel von ihr gelernt. Sie war meine Ratgeberin. Ich habe sie von ganzem Herzen geliebt.«
Sie wischt den Schmutz von ihren Händen und zieht ihre Handschuhe an.
»Es tut mir leid für Sie«, sage ich. »Es tut mir leid, dass meine Mutter …«
Miss McChennmine knöpft mit flinken Fingern ihr Cape zu. »Das Chaos hat sie getötet, Miss Doyle. Zwei Mädchen, die die Regeln verletzt haben, haben uns unsere geliebte Lehrerin genommen. Vergessen Sie das nicht.«
Ich senke beschämt den Blick.
»Es tut mir leid«, sagt sie. »Das war zu hart von mir. Ich gestehe, dass ich enttäuscht war, als ich entdeckte, dass Marys Tochter der Schlüssel zum Magischen Reich ist. Dass diejenige, deren Missgeschick zu Eugenias Tod geführt hatte, unsere Rettung geboren haben sollte …« Sie schüttelt den Kopf. »Es schien, als habe sich das Schicksal einen grausamen Scherz erlaubt.«
»Ich bin nicht so schlecht wie das alles«, protestiere ich.
»Für etwas Großes zu kämpfen, ist eine Sache. Etwas völlig anderes ist es, wenn einem diese Sache in die Wiege gelegt wird. Ich fürchtete, das Blut Ihrer Mutter würde Sie dazu verleiten, gefährliche Entscheidungen zu treffen …« Sie blickt nach Spence, wo die Männer draufloshämmern, um den zerstörten Ostflügel neu erstehen zu lassen. »Und es ist Ihnen noch immer nicht gelungen, das Magische Reich zu betreten oder die Magie des Tempels wiederzuerlangen?«
»Leider nein.« Ich studiere den Grabstein von Eugenia Spence in der Hoffnung, dass Miss McChennmine die Lüge nicht bemerkt, die mir die Röte in die Wangen treibt.
»Ich frage mich, warum es mir so schwerfällt, das zu glauben«, sagt sie.
»Und gibt es keine andere Möglichkeit, ins Magische Reich zu gelangen?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Keine, die mir bekannt ist«, sagt Miss McChennmine. Sie fasst mit einer Hand nach meinem Haar und steckt mir eine verirrte Locke hinters Ohr. »Wir werden Geduld haben müssen. Ich bin sicher, Ihre Zauberkräfte werden zurückkehren.«
»Außer das Magische Reich hat mich nicht dazu auserwählt, das Werk weiterzuführen«, erinnere ich sie.
Sie schmunzelt. »Das bezweifle ich, Miss Doyle. Kommen Sie, wir wollen unsere Sachen einsammeln.«
Sie macht sich auf den Weg zu unserem Picknickplatz und ich folge ihr.
Ich wickle die Serviette, die sie so ordentlich zusammengerollt hat, wieder auseinander. »Miss McChennmine, wenn die Magie in mir aufflackern würde und wenn ich das Magische Reich wieder betreten könnte … würde der Orden sich dann mit den Völkern und Clans des Reichs verbünden?«
Zorn blitzt aus ihren Augen. »Sie meinen, ob wir mit denen, die über Jahrhunderte zu unserem Untergang beigetragen haben, die Macht teilen würden?«
»Aber wenn sich die Dinge geändert haben …«
»Nein, Miss Doyle. Manche Dinge werden sich niemals ändern. Wir wurden für unseren Glauben und unsere Zauberkraft verfolgt, sowohl im Magischen Reich als auch außerhalb. Wir werden sie nicht so leicht aufgeben. Unsere Mission ist es, die Magie an den Tempel zu binden, die Runen wieder zu errichten und das Magische Reich wieder zu dem zu machen, was es war, bevor diese schreckliche Tragödie unsere Gemeinschaft zerstört hat.«
»War es jemals wirklich sicher? Anscheinend nicht.«
»Natürlich war es das. Und so könnte es wieder sein, wenn wir zum alten System zurückkehren.«
»Aber wir können nicht mehr zurück. Wir können nur vorwärtsgehen.« Ich bin selbst überrascht, Miss Moores Worte aus meinem Mund zu hören.
Miss McChennmine lacht bitter auf. »Wie konnte es so weit kommen? Ihre Mutter hat uns fast vernichtet und nun sind Sie aufgetaucht, um den Sarg zuzunageln. Helfen Sie mir jetzt mit dem Korb, bitte.«
Als ich ihr die Limonadengläser reiche, stoßen wir zusammen und ein Glas zerbricht in so kleine Stücke, das man seine frühere Form nicht einmal mehr erahnen kann.
»Es tut mir leid«, sage ich und sammle die Scherben zusammen.
»Wo Sie Ihre Hände im Spiel haben, entsteht ein Chaos, Miss Doyle. Gehen Sie, ich kümmere mich allein darum.«
Wie betäubt stapfe ich durch die alten Grabsteine davon, deren Inschriften an diejenigen erinnern, die erst dann geliebt werden, wenn sie tot sind.
*
Als ich nach Spence zurückkomme, ist beim Ostflügel eine Meuterei im Gange. Felicity läuft mir entgegen und zieht mich zu der Gruppe von Mädchen, die im Schutz der Bäume die Dinge beobachtet. Die Arbeiter haben die Baustelle verlassen. Sie stehen beisammen, Hüte auf dem Kopf, Arme vor der Brust verschränkt, während Mr Miller mit hochrotem Gesicht Befehle brüllt. »Ich habe hier das Sagen und ich warne euch. Wir haben einen Auftrag zu Ende zu fuhren oder es gibt für euch faules Pack keine Bezahlung! Also, zurück an die Arbeit!«
Die Männer scharren mit den Füßen. Sie fingern an ihren Hüten. Einer spuckt verächtlich ins Gras. Ein Hüne mit dem Körperbau eines Boxers schiebt sich nach vorn. Er wirft seinen Kameraden einen unsicheren Blick zu. »’s ist was faul hier, Sir.«
Mr Miller legt seine Hand ans Ohr und runzelt die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Ich und meine Kumpels haben das Gefühl, hier geht was nicht mit rechten Dingen zu.«
»Das wird sich genau dann zeigen, wenn ihr kein Geld in den Taschen habt!«, brüllt Mr Miller.
»Was ist denn mit Tambley passiert? Und mit Johnny, der gestern Abend weggegangen und heute Morgen nicht wiedergekommen ist?«, ruft ein anderer. Seine Stimme klingt eher ängstlich als ärgerlich. »Die verschwinden einfach spurlos und Sie finden nicht, dass das irgendwie seltsam ist?«
»Wahrscheinlich hat ihnen dieses Gerede da Angst eingejagt. Umso besser, dass wir sie los sind. Feiglinge. Wenn ihr mich fragt, wir müssen diese dreckigen Zigeuner aus dem Wald jagen. Würde mich nicht wundern, wenn die dabei ihre Hand im Spiel haben. Kommen in unser Land und nehmen anständigen englischen Männern die Arbeit weg. Wollt ihr tatenlos zusehen, wie sie versuchen, uns mit ihren Flüchen zu vergraulen?«
»Ihre Männer trinken. Das ist ihr Fluch.« Ithal schreitet stolz, mit einem Dutzend Zigeunern in seinem Gefolge, den Hügel herab. Auch Kartik ist unter ihnen. Mein Herz schlägt ein wenig rascher. Die Zigeuner sind Mr Millers Männern an Zahl unterlegen.
Mr Miller prescht den Hügel hinauf. Er stürzt sich auf Ithal und holt zu einem Schlag aus. Ithal duckt sich und pariert wie ein geübter Boxer. Ein wütender Faustkampf zwischen den zwei Männern entbrennt und wird von beiden Seiten angefeuert. Ithal versetzt Miller einen kräftigen Kinnhaken. Miller taumelt. Kartik hält seine Hand nahe am Messer, das in seinem Stiefel steckt.
»Schluss jetzt! Hört mit diesem Unsinn auf!«, schreit Brigid.
Die ganze Schule leert sich, alles strömt heraus, um die Männer kämpfen zu sehen. Mittlerweile sind alle Bauarbeiter und Zigeuner in die Schlägerei verwickelt.
»Wie kommt es, dass von euch keiner fehlt?«, ruft einer von Mr Millers Männern.
»Das ist kein Beweis«, sagt Ithal und weicht einem Schlag aus.
»Beweis genug für mich!«, knurrt ein anderer Mann. Er springt auf Ithals Rücken und zerrt mit den Zähnen an seinem Hemd wie ein Tier. Kartik zieht ihn herunter. Der Mann fasst nach ihm, aber Kartiks Bein schießt blitzschnell vor und raubt dem Mann sein Gleichgewicht.
»Ist das nicht aufregend?«, sagt Felicity mit leuchtenden Augen.
Mrs Nightwing ist gekommen. Sie schreitet über den Rasen wie Königin Viktoria, die ihre Wachen zur Ordnung ruft. »Das ist unerhört, Mr Miller! Das ist der Gipfel des Unerhörten!«
Mutter Elena stolpert auf die Lichtung. Sie ruft den Männern zu, sie sollen aufhören. Sie ist schwach und lehnt sich gegen einen Baum. »Das ist der Ort! Das ist der Unglücksort, der mir meine Carolina genommen hat! Ruft nach Eugenia – bittet sie, sie soll dem Frevel Einhalt gebieten.«
»Völlig übergeschnappt«, murmelt jemand.
Kartik taucht aus dem Handgemenge auf und bahnt sich einen Weg nach vorn. Seine Lippe blutet. »Wenn wir uns zusammenschließen, hätten wir eine bessere Chance, Störenfriede welcher Art auch immer zu schnappen. Wir könnten Wache stehen, während Sie schlafen …«
»Solches Gesindel wie euch Wache halten lassen? Dann würden wir mit leeren Taschen und durchschnittenen Kehlen aufwachen!«, ruft einer der Arbeiter.
Neues Geschrei erhebt sich, Anschuldigungen fliegen hin und her und der Kampf droht wieder aufzuflammen.
Mrs Nightwing marschiert auf den Kampfplatz. »Meine Herren! Der Vorschlag ist vernünftig. Die Zigeuner werden in der Nacht Wache stehen, sodass Ihre Männer in Ruhe schlafen können.«
»Ich lasse nicht zu, dass sie uns beobachten«, sagt Mr Miller.
»Aber wir werden Sie beobachten«, sagt Ithal. »Zu unserer eigenen Sicherheit.«
»Dummes Zeug!«, schnaubt Mrs Nightwing. »Mädchen! Warum stehen Sie hier herum wie schnatternde Gänse? Sofort in den Schulraum mit Ihnen.«
Während ich an Kartik vorbeigehe, halte ich meine Augen stur auf meine Schulkameradinnen gerichtet. Schau ihn nicht an, Gemma. Er ist deinem Ruf nicht gefolgt. Geh weiter.
Ich schaffe es, die Eingangstür von Spence zu erreichen, bevor ich mir gestatte, einen flüchtigen Blick hinter mich zu werfen. Und da steht Kartik und folgt mir mit seinem Blick.
*
»Briefe! Briefe!« Brigid kommt mit der wöchentlichen Post an, die sie aus dem Dorf geholt hat. Wir lassen alles stehen und liegen und umringen sie. Hände strecken sich ihr entgegen, um eine Nachricht von zu Hause in Empfang zu nehmen. Die jüngeren Mädchen weinen und schniefen über den Briefen von ihren Müttern, so groß ist ihr Heimweh. Aber wir Alteren sind begierig auf Klatsch und Tratsch.
»Aha!« Felicity hält mir triumphierend eine Einladung hin. »Lies selbst.«
»›Herzliche Einladung zu einem Türkischen Ball zu Ehren von Miss Felicity Worthington im Haus von Lord und Lady Markham, Beginn acht Uhr abends.‹« Ich lese es laut. »Oh, Felicity, wie wundervoll.«
Sie drückt die Einladung an ihre Brust. »Ich kann meine Freiheit schon fast schmecken. Was hast du bekommen, Gemma?«
Ich schaue auf die Adresse auf der Rückseite des Kuverts. »Einen Brief von meiner Großmutter«, sage ich und stecke ihn in mein Buch.
Felicity zieht eine Augenbraue hoch. »Warum öffnest du ihn nicht?«
»Ich mache ihn später auf«, sage ich mit einem Blick auf Ann. Jede von uns hat einen Brief bekommen, ausgenommen Ann.
Brigid hält einen Brief ans Licht und betrachtet ihn stirnrunzelnd. »Oh, die Frau hat sie nicht alle. Der Brief ist nicht für uns. Miss Nan Washbrad. Hier gibt’s keine Nan Washbrad.«
Ann macht fast einen Hechtsprung nach dem Briefumschlag. »Darf ich sehen?«
Brigid hält ihn außer Reichweite. »Na, na. ’s ist Mrs Nightwings Sache zu entscheiden, was damit geschehen soll.«
Hilflos sehen wir zu, wie Brigid Miss Trimbles lange erwarteten Brief zu Mrs Nightwings Korrespondenz legt und diese sorgfältig in ihrer Schürzentasche verstaut.
»Er muss von Mr Katz sein. Wir müssen ihn zurückbekommen«, sagt Ann verzweifelt.
»Ann, wohin legt Brigid Mrs Nightwings Post?«, frage ich.
»Auf ihren Schreibtisch«, sagt Ann und schluckt schwer. »Oben.«
*
Wir müssen bis zur Abendandacht warten, ehe wir uns um Anns Brief kümmern können. Während die anderen Mädchen ihre Schals und Gebetbücher holen, stehlen wir uns in Mrs Nightwings Arbeitszimmer. Das Zimmer wirkt alt und muffig und, genau wie der Bausch auf der Rückseite ihres Kleides, schrecklich altmodisch.
»Wir müssen uns beeilen«, sage ich.
Wir ziehen Schubladen auf und stöbern darin in der Hoffnung, Anns Brief zu entdecken. Ich öffne einen kleinen Schrank und schaue hinein. Die Regale sind mit Büchern gefüllt. Die wahre Liebe von Mabel Collins. Ich habe gelebt und geliebt von einer Mrs Forrester. Stürmische Leidenschaft. Trixies Ehre. Das Verbrechen der blinden Elsie. Ein glorreicher Galopp. Geduld bringt Rosen.
»Ihr werdet nicht glauben, was ich soeben gefunden habe«, kichere ich. »Liebesromane! Was sagt ihr dazu?«
»Gemma, wirklich«, zischt Felicity von ihrem Wachposten an der Tür. »Wir haben im Moment Wichtigeres zu tun.«
Beschämt will ich den Schrank schließen, als ich einen Brief entdecke, der einen Poststempel aus dem Jahr 1893 trägt. Er ist viel zu alt, um Anns Brief zu sein. Die Schrift kommt mir jedoch seltsam bekannt vor. Ich drehe ihn um und da befindet sich ein aufgebrochenes Wachssiegel mit dem eingeprägten Mondauge, also ziehe ich den Brief aus dem Kuvert. Er hat keinerlei Anrede.
Sie haben meine Warnungen ignoriert. Wenn Sie auf Ihrem Plan bestehen, werden Sie es bereuen …
»Ich hab ihn gefunden!«, ruft Ann erleichtert aus.
Felicitys Stimme verrät Panik. »Jemand kommt die Treppe herauf!«, ruft sie.
Hastig lege ich alles wieder so hin, wie es war, und schließe die Schranktür. Ann packt ihren Brief und wir huschen in Windeseile den Flur hinunter.
Brigid erwartet uns an der Tür zum Abstellraum. Sie macht ein finsteres Gesicht. »Sie wissen doch, dass Sie hier nichts verloren haben!«
»Wir dachten, wir hätten ein Geräusch gehört«, lügt Felicity, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ja, wir hatten schreckliche Angst«, fügt Ann hinzu.
Brigid schaut mit einer Mischung aus Misstrauen und Furcht den Gang entlang. »Dann werde ich Mrs Nightwing holen und …«
»Nein!«, rufen wir wie aus einem Mund.
»Nicht nötig«, sage ich. »Es war nur ein Igel, der sich hereinverirrt hatte.«
Brigid wird blass. »Ein Igel? Ich hol sofort meinen Besen! Ungeziefer hat in meinem Haus nichts zu suchen!«
»Das ist der Geist, Brigid!«, rufe ich ihr nach. »Ich glaube, es war ein französischer Igel!«
»Ein französischer Igel?«, wiederholt Felicity belustigt.
»Oui«, sage ich.
Ann drückt den Brief an ihre Brust. »Wir haben, was wir wollten. Kommt schon. Ich bin so neugierig.«
Im letzten Tageslicht eilen wir zur Kapelle, doch die Sonne sinkt schnell unter den Horizont.
»Was steht drin?« Felicity versucht, einen Blick auf Anns Brief zu werfen, aber Ann will es ihr noch nicht erlauben.
»Ann!«, protestiert Felicity.
»Schön gut, schon gut.« Ann hält uns den Brief hin und wir reißen in ihr aus den Händen. »Lest es laut. Ich will wissen, dass ich nicht träume!«
»›Meine liebe Miss Washbrad‹«, beginnen Felicity und ich gemeinsam. Mit geschlossenen Augen, einem seligen Lächeln auf den Lippen, spricht Ann jedes Wort mit. »›Ich hoffe, dieser Brief trifft Sie bei guter Gesundheit an. Ich habe mit Mr Katz gesprochen und er ist geneigt, Sie am nächsten Montagnachmittag um zwei Uhr zu empfangen. Ich rate Ihnen, sich nicht zu verspäten, meine Liebe, denn nichts trübt Mr Katz’ Laune mehr als Unpünktlichkeit. Ich habe ihm Ihr Talent anempfohlen. Ihre Schönheit spricht für sich selbst. Herzlichst Ihre Lily Trimble.‹«
»Oh, Ann, das ist wundervoll«, sage ich und reiche ihr den Brief zurück. Sie steckt ihn unter ihr Kleid, dicht über ihrem Herzen.
»Ja, ja, das ist es wirklich, nicht wahr?« Ann strahlt und die Freude verwandelt sie. Ihr Gang ist aufrechter, durch die Hoffnung gestärkt. Hand in Hand laufen wir zur Kapelle.
*
Eines der jüngeren Mädchen liest aus der großen Bibel auf dem Pult vor. Sie ist ein kleines Ding, nicht älter als zehn, und sie lispelt unüberhörbar, was unsere Gebete jeden Moment in ein Gekicher zu verwandeln droht.
»Gemma«, flüstert Ann. »Ich werde meine Verabredung mit Mr Katz nicht einhalten können.«
»Was soll das heißen?«, murmle ich hinter meiner Bibel.
Eine plötzliche Wolke verdüstert Anns Gesicht und ihre Freude ist wie weggeblasen. »Er denkt, dass ich Nan Washbrad bin.«
»Es ist nur ein Name. Auch Lily Trimble hat ihren geändert.«
Cecily bedeutet mir, still zu sein, und ich tue mein Bestes, sie zu ignorieren.
»Aber was sie ihm gesagt hat … ›Ihre Schönheit spricht für sich selbst.‹ Verstehst du nicht? Ich bin nicht dieses Mädchen. Eine Illusion zu schaffen ist eine Sache, aber wie … wie kann ich für immer damit leben?«
Miss McChennmine dreht sich zu uns und sieht uns missbilligend an. Wir heben unsere Bibeln hoch wie eine Gruppe von Missionaren. Mein Blick wandert zu Mrs Nightwing. Sie sitzt aufrecht, die Augen geradeaus gerichtet, und ihre Miene ist so unerforschlich wie die der Sphinx.
Meine Gedanken kehren zu dem im Kleiderschrank versteckten Brief zurück. Was für Warnungen mag Mrs Nightwing ignoriert haben? Um was für einen Plan handelt es sich?
Plötzlich verschwimmen die Worte der Bibel vor meinen Augen und wieder einmal kommt die Welt langsam zum Stillstand. Alle Geräusche rücken in weite Ferne. Ich kann kaum atmen, meine Haut kribbelt vor Schweiß.
Ein klebriger Zischlaut hallt in der Kapelle wider.
»F-Fee«, flüstere ich, aber sie kann mich nicht hören. Der Zischlaut wiederholt sich, diesmal lauter. Rechts von mir. Ich drehe mich langsam, mein Herzschlag beschleunigt sich. Meine Augen legen den endlosen Abstand zwischen dem Fußboden und dem farbigen Glasfenster mit dem Engel und dem Haupt der Medusa zurück.
»Oh, Gott …«
Von Panik gepackt weiche ich zurück, aber die reglosen Mädchen blockieren mir den Weg, sodass ich nur entsetzt auf das Fenster starren kann, das lebendig wird. Wie in der Laternamagica-Schau kommt der Engel auf mich zu. Er hält das abgeschlagene Haupt der Medusa in die Höhe. Und dann macht das Scheusal seinen Mund auf und spricht.
»Nimm dich in Acht vor der Geburt des Mai«, zischt es.
Mit einem lauten Aufschrei falle ich ins Jetzt zurück und die Welt nimmt wieder ihren normalen Lauf. Ich bin gegen Ann geprallt, die gegen Felicity gestoßen ist und so weiter, wie eine Reihe von Dominosteinen.
»Gemmai«, sagt Ann und nun merke ich, dass ich mich an sie klammere.
»T-tut mir leid«, sage ich und wische mir den Schweiß von der Stirn.
»Upps. Hier.« Felicity reicht mir ein Taschentuch.
Die Orgel fordert uns mit einem Sturm falscher Töne zum Singen auf und ich hoffe, das Gebraus kann das wilde Klopfen meines Herzens übertönen. Meine Lippen bewegen sich, aber ich kann nicht singen. Ich zittere und bin in kalten Schweiß gebadet.
Sieh nicht hin. Aber ich muss, ich muss …
Ich wende meinen Blick so vorsichtig wie möglich nach rechts, wo Augenblicke zuvor die blutige Trophäe eines Engels eine Warnung gezischt hat, die ich nicht verstehe. Aber jetzt ist das Gesicht des Engels friedlich. Das Haupt der Medusa schläft. Es ist nur ein Bild in einem Fenster, nichts weiter als farbiges Glas.
*
Mein Puls will sich nicht beruhigen und so ziehe ich mich zurück und lese den Brief von zu Hause. Es ist Großmamas übliches Geschreibsel, über dieses Fest und jenen Besuch und über den allerneuesten Tratsch, doch dafür habe ich jetzt keinen Kopf. Mit Überraschung lese ich, dass Simon Middleton nach mir gefragt hat, und für einen Moment hellt sich meine Stimmung auf. Im nächsten Moment hasse ich mich dafür, dass ich meinen Gedanken erlaubt habe, sich so leicht von einem Mann einnehmen zu lassen; und genauso schnell vergesse ich, mich zu hassen, und lese den Satz dreimal.
Hinter Großmamas Brief steckt eine Notiz von Tom. hiebe Gemma, Lady von der spitzen Zunge, schreibt er. Ich schreibe diese Zeilen unter Zwang, weil Großmama mich nicht in Frieden lässt, bevor ich es tue. Also werde ich meine Bruderpflicht erfüllen. Ich hoffe, dass es Dir gut geht. Mir selbst geht es ausgezeichnet, es ging mir noch nie besser. Mein Herrenklub hat sehr großes Interesse an mir bekundet und man hat mir mitgeteilt, dass ich vor Beginn der Saison einer sehr strengen Initiation nach ihren heiligen Riten unterzogen werde, um in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Sie waren so freundlich, sich nach Dir zu erkundigen, und haben mir alle möglichen Fragen gestellt; ich habe keine Ahnung, warum. Ich habe ihnen deutlich gesagt, was für ein Ekel Du sein kannst. Du siehst also, dass Du und Vater Euch in mir getäuscht habt, und ich werde versuchen, so überaus freundlich zu sein, Dir auf der Straße zuzunicken, wenn ich ein Mitglied des Oberhauses bin. Und nun, nach getaner Pflicht, empfehle ich mich Dir – so liebevoll, wie es Deinem ungebührlichen Temperament angemessen ist, Thomas.
Ich zerknülle den Zettel und werfe ihn ins Feuer. Ich muss unbedingt mehr erfahren – über meinen Bruder, über den Orden, über Wilhelmina Wyatt, das Magische Reich und über diese Magie in mir, die mich ebenso erstaunt wie erschreckt. Es gibt nur eine Person, an die ich mich wenden und die mir Antwort auf alle meine Fragen geben kann. Und ich werde zu ihr gehen.