12. Kapitel
Das Abendessen, ein Fischeintopf ohne eine Spur von Salz, ist eine trostlose Angelegenheit. Aber was soll’s. Ich kann nicht aufhören, an Kartik zu denken, an seine Kälte. Als ich ihn das letzte Mal in London gesehen habe, versicherte er mich seiner Loyalität. Was mag geschehen sein, das diesen Gefühlsumschwung bewirkt hat? Oder ist das die Art von Männern – Mädchen nachzulaufen, um sie dann wegzustoßen? Er schien so gehetzt, so verzweifelt wegen Amar, und ich wünschte, ich wüsste ihm etwas Tröstliches zu sagen, aber ich habe seinen Bruder nicht gesehen und vielleicht ist das Trost genug.
Und dann ist da meine Vision. Der Baum Aller Seelen lebt. Was für ein Baum? Wo? Warum ist er wichtig? Du bist die Einzige, die uns retten kann.
»Gemma, worüber brütest du?«, fragt Felicity spöttisch neben mir. Es würde nicht zu ihr passen, sich diskret zu erkundigen.
»Ich … ich brüte nicht.« Ich schlürfe meinen wässrigen Eintopf, was mir einen strafenden Blick von Cecily einträgt.
»Nein. Natürlich nicht. Du hast nur vergessen, wie man lächelt. Soll ich deine Erinnerung auffrischen? Es ist ganz einfach – siehst du?« Felicity schenkt mir ein strahlendes, charmantes Lächeln. Ich lächle gezwungen zurück. Wahrscheinlich sehe ich aus, als hätte ich Zahnschmerzen.
Ich habe es vorgezogen, nicht zu kommen. Warum kann ich diesen kleinen Satz nicht aus dem Käfig meiner Gedanken entlassen?
»Ich muss Pip erzählen, dass der Eintopf genauso scheußlich ist, wie sie ihn in Erinnerung hat«, flüstert Felicity kichernd.
Pippa. Noch ein Zentnergewicht, das auf mir lastet. Denn heute Nacht werde ich ihr helfen, über den Fluss ans jenseitige Ufer überzusetzen, was immer sie dort erwartet.
*
»Wirklich, du brütest, Gemma, und du hast den ganzen Nachmittag nichts anderes getan«, schilt Felicity, als wir den ausgetretenen Weg zur Abendandacht in der Kapelle hinaufwandern. »Und ich glaube, ich weiß, warum. Ich habe gesehen, wie du mit diesem Inder gesprochen hast«, sagt sie in herausforderndem Ton.
»Du meinst Kartik?«, sage ich kühl.
Ann spitzt die Ohren. »Ist er zurück?«
Verdammt. Jetzt sitzen sie mir beide im Nacken – Felicity mit ihrer Anzüglichkeit und Ann mit ihrer verstörenden Ängstlichkeit.
»Ja, den. Was hat er diesmal gesagt?« Felicity mimt eine Prophetin mit wildem Blick. »Lassen Sie die Finger von der Magie! Gehen Sie nicht ins Magische Reich! Der Geist von Jacob Marley wird Ihnen Ihre Seele rauben, wenn Sie’s tun. Bleiben Sie zu Hause und stopfen Sie Ihre Strümpfe wie ein braves, ordentliches Mädchen! Hmmm?«
»Wie ich sehe, hast du deine dramatische Begabung nicht eingebüßt. Ann, lass dir von ihr nicht so ohne Weiteres dein Talent klauen«, sage ich in der Hoffnung, das Thema zu wechseln.
»Das hat er gesagt, stimmt’s?« Felicity lässt nicht locker.
»Er ist nur gekommen, um sich ordentlich zu verabschieden.« Ich will mit ihnen nicht über Kartik reden. Felicity mag ihn nicht, und wenn sie die Wahrheit wüsste, würde sie triumphieren. Diese Demütigung könnte ich nicht ertragen. »Aber wenn ich zerstreut war, so deswegen, weil ich heute eine Vision hatte – die erste seit Weihnachten.«
Anns Augen weiten sich. Felicity zieht mich an den Wegrand, um die anderen Mädchen vorbeizulassen. »Was hast du gesehen?«
»Eine Frau, die schon früher in meinen Träumen aufgetaucht ist. Sie ist die Assistentin eines Magiers oder eine Art Medium, denn ich sehe sie zusammen mit einem Dr. Van Ripple, einem Illusionisten. Sie schreibt in Trance auf eine Schiefertafel – eine vollkommen rätselhafte Botschaft.«
»Und zwar?«, hakt Felicity nach.
Mrs Nightwing und Mademoiselle LeFarge kommen den Weg herauf. Sie unterhalten sich über belanglose Dinge. Sie scheinen in gelöster, heiterer Stimmung zu sein. Wir bemühen uns, ein paar Schritte vor ihnen zu bleiben.
»›Wir sind verraten. Sie ist eine Betrügerin. Der Baum Aller Seelen lebt. Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden.‹«
Felicity hat sich kein Wort entgehen lassen. Aber jetzt lacht sie. »Ein Baum? Wirklich, Gemma. Bist du sicher, dass du dir nicht den Kopf angeschlagen hast, als du vom Rad gefallen bist?«
Ich ignoriere ihre Beleidigung. »Die Bilder in meinen Visionen erzählen nicht immer eine Geschichte, die ich verstehe. Aber ich denke, die Frau aus meiner Vision könnte tot sein.«
»Tot? Wirklich?«, fragt Ann mit einer Atemlosigkeit, die ihren Sinn fürs Makabere verrät. »Wie kommst du darauf?«
»Weil ich gesehen habe, wie sie aus der Themse gezogen wurde, ertrunken.«
»Ertrunken«, wiederholt Ann mit einem wonnigen Schauder des Entsetzens.
Wir nähern uns der Kapelle, deren Tür offen steht. Kerzenlicht setzt die Glasfenster flackernd in Szene und erweckt sie scheinbar zum Leben.
»Um welche Zeit treffen wir uns?«, flüstert Felicity, als wir die Tür erreichen.
Ich drehe mich weg. »Nicht heute Nacht. Ich bin viel zu müde vom Radfahren. Ich brauche Schlaf.«
»Aber, Gemma!«, protestiert Felicity. »Wir müssen zurück! Pippa erwartet uns.«
»Wir gehen morgen Nacht«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln, obwohl mir bei dem Gedanken, was ich mir vorgenommen habe, ganz schlecht ist.
Felicitys Augen schwimmen in Tränen. »Endlich können wir wieder dorthin und du willst uns unser Glück vorenthalten.«
»Fee …«, beginne ich, aber sie dreht mir den Rücken zu und mir wird klar, dass ich ihnen zugestehen muss, mich heute Nacht zu hassen, obwohl es schwer zu ertragen ist.
Plötzlich bringt der helle Schein von Laternen den Wald zum Tanzen. Die Zigeuner sind gekommen; Kartik ist unter ihnen und ich kann mich kaum zurückhalten, seinen Blick zu suchen.
»Was ist hier los? Was soll das?«, fragt Mrs Nightwing streng. Neugierig strömen die Mädchen aus der Kirche und versammeln sich an der Tür, obwohl Mademoiselle LeFarge sie dringlich auffordert hineinzugehen. Genauso gut könnte sie im Regen Hühner zusammentreiben.
»Wir bewachen den Wald«, erklärt Ithal. In seinem Gürtel steckt eine Pistole.
»Aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?«, braust Mrs Nightwing auf.
»Mutter Elena gefällt nicht, was sie fühlt. Mir gefällt nicht, was ich sehe.« Er deutet zum Lager der Arbeiter hinüber.
»Es wird keinen Ärger zwischen Ihnen und den Männern von Mr Miller geben«, sagt Mrs Nightwing in herrischem Ton. »Spence war Mutter Elena immer freundlich gesinnt. Aber treiben Sie es nicht zu weit.«
»Wir bieten Schutz«, versichert Ithal, aber Mrs Nightwing lässt sich nicht umstimmen.
»Wir brauchen keinen derartigen Schutz, das versichere ich Ihnen. Gute Nacht.«
Kartik legt eine Hand auf Ithals Schulter und spricht in Romani zu ihm. Dabei schaut er kein einziges Mal zu mir herüber. Ithal nickt. Schließlich gibt er seinen Männern ein Zeichen.
»Wir gehen«, sagt er und die Zigeuner kehren in den Wald und zu ihrem Lager zurück.
»Unsinn. Absoluter Schwachsinn. Schutz! Der obliegt meiner Pflicht und ich denke, ich bin damit ziemlich gut vertraut«, knurrt Mrs Nightwing. »Zum Gebet, Mädchen!«
Mrs Nightwing und Mademoiselle LeFarge scheuchen uns in die Kapelle. Ich werfe einen letzten Blick in den Wald. Die Männer entfernen sich, ihre Laternen brennen kleine Löcher in die abendliche Dunkelheit. Dann sind sie fort, alle bis auf einen. Kartik ist noch da. Er steht lautlos hinter einem Baum und wacht über uns.