66. Kapitel
Der Garten, durch den wir gehen, ist nicht mehr das blühende Paradies, das wir gekannt haben. Der Geruch verbrannter Erde schlägt uns entgegen. Die Bäume wurden zu Asche verbrannt. Die Blumen wurden in den Schmutz getreten. Der silberne Bogen, der einst zu der Grotte führte, wurde niedergerissen. Die Hängematte, die ich aus Silberfäden geknüpft habe, ist zerfetzt.
Tränen schimmern in Miss McChennmines Augen. »Ich habe davon geträumt, den Garten wiederzusehen, aber nicht so.«
Fowlson legt ihr seinen Arm um die Schultern.
»Was ist hier los?«, fragt Ann. Sie hält ein Häufchen abgebrochener Blüten in ihren hohlen Händen.
»Gebieterin!« Die Medusa kommt auf dem Fluss in Sicht. Sie ist lebendig und unversehrt. Ich war noch nie so froh, sie zu sehen.
Fowlson weicht einen Schritt zurück. »Was zum Deiwel is’n das?«
»Eine Freundin«, sage ich und laufe zum Fluss. »Medusa, kannst du uns sagen, was hier los ist? Was du gesehen hast?«
Die Schlangen auf ihrem Haupt zischen und winden sich. »Der Wahnsinn regiert«, sagt die Medusa. »Alles ist Wahnsinn.«
»Es herrscht also Krieg?«, sagt Miss McChennmine.
»Krieg.« Die Medusa spuckt das Wort aus. »So nennen sie es, um ihm die Illusion von Ehre und Heldentum zu verleihen. Es ist Chaos. Wahnsinn und Blut und der Wunsch zu siegen. So war es immer und so wird es immer sein.«
»Medusa, wir müssen zum Baum Aller Seelen. Wir haben vor, ihn zu fällen. Gibt es eine sichere Passage in die Winterwelt?«
»Kein Ort ist jetzt sicher, Gebieterin. Aber ich werde euch trotzdem flussabwärts bringen.«
Wir setzen Segel. Der Fluss singt heute nicht lieblich. Er singt überhaupt nicht. Manche Gegenden sind von den Verwüstungen verschont geblieben. Andere waren nicht so glücklich. Pfähle mit blutgetränkten Fahnen erinnern uns daran, dass die dunklen Geister der Winterwelt keine Gnade walten lassen werden.
Als wir an den Höhlen der Seufzer vorüberkommen, lugen mehrere Hadschin aus ihren Verstecken hervor. Ascha winkt mir vom Ufer her zu.
»Medusa, dort hinüber!«, rufe ich.
Wir legen an und die Medusa lässt die Planke herunter, damit Ascha an Bord kommen kann. »Sie sind überall«, sagt Ascha. »Ich fürchte, sie sind zum Waldvolk geritten.«
*
»Was ist das?«, fragt Kartik, als wir uns dem goldenen Schleier nähern, der das Waldvolk dem Blick verbirgt. Schwarze Wolken ziehen wie eine Narbe über den Fluss.
»Rauch«, antworte ich und mein Herzschlag beschleunigt sich.
Wir ducken uns tief ins Boot und halten uns die Hand vor Nase und Mund, trotzdem würgt es uns im Hals. Sogar der Schleier ist von der dicken, schwarzen Luft durchtränkt; er streut goldgesprenkelten Ruß auf unsere Körper. Und dann sehe ich es: Der schöne Wald steht in Flammen. Die Hütten brennen und rauchen. Die Flammen verheeren die Bäume, bis sie rote und orange Blüten zu treiben scheinen. Viele der Waldbewohner sind eingeschlossen. Sie schreien und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Mütter laufen mit weinenden Kindern im Arm zum Wasser. Die Zentauren kommen denjenigen, die um ihr Leben rennen, zu Hilfe, lesen sie im Laufen auf und hieven sie auf ihre Rücken.
»Wir müssen ihnen helfen!«, schreie ich und versuche aufzustehen. Die Hitze ist zu groß. Sie wirft mich auf den Boden des Schiffes zurück.
»Nein, wir müssen die Winterwelt erreichen und den Baum fällen!«, ruft Miss McChennmine. »Das ist unsere einzige Hoffnung.«
»Wir können sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!«, schreie ich, aber im selben Moment landet ein verirrter Funken in meinem Rock und ich muss wild darauf einschlagen, um ihn zu löschen.
Ich höre ein Platschen. Ascha ist vom Schiff gesprungen und watet ans Ufer. Leichen treiben zuhauf im Fluss, aber Ascha schenkt ihnen keine Beachtung. »Hier!«, ruft sie und wedelt mit den Armen, damit sie durch den Rauch gesehen werden kann. Das Waldvolk rennt auf sie zu und in die Sicherheit des Wassers.
Es gelingt ihnen, unter der schweren Rauchschicht ihre kleinen Boote zu finden. Sie besteigen sie und paddeln auf den Fluss hinaus, fort von den Ruinen ihres einst schönen Heimatlandes.
Philon erscheint. Er tritt ans Ufer und die Medusa trägt uns näher zu ihm. »Die dunklen Geister der Winterwelt sind gekommen. Sie sind schnell und scharf geritten.«
»Wie groß ist ihr Heer?«, fragt Kartik.
»Vielleicht tausend Mann«, antwortet Philon. »Und sie haben einen Krieger, der so stark ist wie zehn.«
Kartik tritt gegen den Boden. »Amar.«
Fowlson verengt seine Augen. »Amar kämpft für diese Kreaturen? Ich mach Hackfleisch aus ihm.«
»Nein«, sagt Kartik.
»Er ist nicht mehr einer der Unsern, Bruder. Vergiss ihn«, sagt Fowlson und es klingt fast freundlich.
Ascha zieht einen Körper aus dem Fluss. Es ist ein weibliches Wesen und sie ist verletzt. Während wir sie auf das Schiff der Medusa schleifen, erbricht sie Wasser. Es ist Neela.
»Lass mich«, faucht sie, als sie die Hände von Ascha auf ihren Armen sieht. Sie schlüpft aus ihrer dunkelvioletten Gestalt mühelos in die von Ascha, in meine, in die von Creostus und wieder in ihre eigene. Es ist, als könne ihr Körper diese Verwandlungen nicht beherrschen.
Aschas Stimme ist fest. »Du warst es, die den Zentauren getötet hat, stimmt’s?«
Neela hustet Wasser aus ihren Lungen. »Ich weiß nicht, was du meinst. Du lügst.«
Philons Augen blitzen auf.
Ascha lässt nicht locker. »Du hast ihm Mohnblumen in die Hände gegeben, damit die Schuld auf uns fällt.«
Diesmal versucht Neela nicht, es zu leugnen. »Na und?«
»Warum hast du das getan?«, fragt Philon streng. Der Flammenschein vom Wald wirft flackernde Schatten auf die hohen Wangenknochen seines außergewöhnlichen Gesichts.
»Wir haben einen Anlass gebraucht, um den Krieg zu erklären. Du wärst nicht ohne einen Grund in den Kampf gezogen.«
»Du hast also einen Grund erfunden?«
»Ich habe ihn nicht erfunden. Er bestand schon immer! Wie lange leben wir nun schon ohne eigene Magie? Wie lange hätten wir das noch erdulden sollen? Sie haben sie ganz in ihrem Besitz. Und die schmutzigen Unberührbaren wurden über uns gestellt! Aber du wolltest nicht handeln. Du bist immer schwach gewesen, Philon.«
»Die Magie bedeutet dir so viel, dass du bereit warst, einen der Deinen zu töten?«
Neela richtet sich mühsam auf. »Jeder Fortschritt hat seinen Preis«, sagt sie trotzig.
»Der Preis ist zu hoch, Neela.«
»Ein Zentaur für die Herrschaft über das Magische Reich? Das ist ein kleiner Preis.«
»Wir hätten uns lieber vor einer echten Gefahr in Acht nehmen sollen, anstatt Schatten nachzujagen. Und jetzt sind wir heimatlos. Unser Volk ist tot. Unsere Redlichkeit ist dahin. Die zumindest hatten wir vorher.«
Neela zeigt keine Reue. »Ich habe getan, was nötig war.«
»Ja«, sagt Philon grimmig. »So wie ich es nun tun muss.«
Neela zittert und bebt am ganzen Leib; ihre Lippen werden so bleich wie die Haut von Weintrauben.
»Sie hat einen schrecklichen Schock erlitten«, sage ich. »Jemand muss bei ihr bleiben.«
»Lasst sie sterben«, sagt Philon.
»Nein«, sage ich. »Das können wir nicht zulassen.«
»Ich werde bei ihr bleiben«, sagt Ascha freiwillig.
»Was ist, wenn die Hadschin Neela töten?«, fragt einer der Zentauren.
Philons Antwort ist so kühl wie seine gletschergrünen Augen. »Dann ist dies der Preis, den sie für ihre Verbrechen bezahlt.«
Ich sehe Ascha an in der Hoffnung auf ein Zeichen der Gewissheit, dass sie Neela nichts zuleide tun wird, aber ihr Gesicht lässt keine Regung erkennen.
»Ich werde bei der Gestaltenwandlerin bleiben«, wiederholt sie.
»Wirst du sie beschützen, Ascha?«, frage ich.
Sie antwortet nicht sofort. Nach einer Weile neigt sie den Kopf. »Ich gebe dir mein Wort.«
Ich stoße in einem Schwall die Luft aus, die ich zurückgehalten habe.
»Ich werde mich um sie kümmern, obwohl ich es nicht will«, fügt sie hinzu. Orange Flammen tanzen im Widerschein des Feuers in ihren dunklen Augen. »Und wenn du deine Entscheidung triffst, Lady Hope, wollen wir Unberührbaren ein Wort mitzureden haben. Wir haben zu lange geschwiegen.«
*
Wir sammeln unsere Truppe, so wenige wir auch sind, vielleicht vierzig insgesamt. Philon und das Waldvolk holen ihre Waffen. Es ist nicht viel – eine Armbrust, zwei Dutzend Speere mit Spitzen an beiden Enden, Schilde und Schwerter. Es ist, als wollte man das Parlamentsgebäude mit einem Fingerhut voll Schießpulver in die Luft sprengen. Ich wünschte sehnlichst, ich hätte jenen Dolch.
»Welchen Weg nehmen wir am besten?«, frage ich.
»Sie reiten in die Richtung des Niemandslands«, sagt Philon.
Felicity stöhnt auf. »Pippa!«
»Sie können sie nicht retten«, sagt Kartik.
»Sagen Sie mir nicht, was ich kann und was nicht«, faucht Felicity.
Ich ziehe sie beiseite. Wir stehen am Wasser, wo zwei kleine Boote liegen. »Felicity, wir müssen so schnell wie möglich in die Winterwelt gelangen. Wir können uns später um Pippa kümmern.«
»Aber dann könnte es zu spät sein! Sie weiß nicht, was auf sie zukommt«, fleht Felicity. »Wir müssen sie warnen!«
Ich denke an den verbrannten Garten, die blutgetränkten Fahnen entlang des Flusses, das vertriebene Waldvolk. Ich würde alles dafür geben, um Pippa vor solch einem Schicksal zu bewahren. Aber das Risiko ist zu groß. Die dunklen Geister der Winterwelt könnten dort auf der Lauer liegen. Und soviel ich weiß, hat Pippa sich mit ihnen verbündet.
»Es tut mir leid«, sage ich und wende mich ab.
»Du bist grausam!«, schreit mir Felicity nach. Sie bricht in Tränen aus. Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe, aber ich könnte mich nicht elender fühlen, und wahrscheinlich gehört das dazu, wenn man die Verantwortung übernimmt.
Ich marschiere neben Philon, als das Waldvolk und die Hadschin sich zum Kampf bereit machen. Sie tragen Waffen auf das Schiff. Ein Unberührbarer hievt einen Köcher mit Pfeilen auf seine Schultern und ein Waldbewohner hilft ihm dabei. Die Zentauren nehmen jeden auf ihren Rücken, der reiten möchte.
Ann kommt atemlos zu mir gerannt.
»Was ist?«, frage ich.
»Sie hat mir eingeschärft, es dir nicht zu sagen, aber ich muss. Sie ist gefahren, um Pippa zu warnen.«
Eines der kleinen Boote fehlt.
»Wir müssen ihr nach«, sage ich.
»Das können wir nicht«, warnt Kartik, aber ich bin schon auf dem Sprung.
»Ich will Felicity nicht verlieren. Wir brauchen sie. Ich brauche sie«, stelle ich fest.
»Ich komme mit Ihnen«, verkündet Miss McChennmine.
»Und ich auch«, sagt Ann.
Kartik schüttelt den Kopf. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, ich lasse dich ohne mich fahren.«
»Ja, ich bin verrückt. Aber das weißt du schon länger«, sage ich. Er will widersprechen und ich schließe ihm mit einem plötzlichen Kuss den Mund. »Vertrau mir.«
Widerwillig lässt er mich fort und wir drei stoßen mit dem Boot vom Ufer ab. Kartik steht dort und beobachtet, wie wir auf den Fluss hinausgleiten. Mit dem Rauch und den verblassenden Flammen hinter ihm sieht er ein wenig unwirklich aus – wie ein Geist, ein flackerndes Bild in einer Laterna-magica-Schau, ein Stern, der zur Erde fällt, ein Augenblick, der nicht dauern kann.
Ich habe das dringende Verlangen, das Boot zu wenden und eiligst zu ihm zurückzukehren. Aber die Strömung erfasst uns und trägt uns rasch dem Niemandsland zu, was immer uns dort erwartet.