48. Kapitel
Ich bin ein Nervenbündel. Ich bewege mich den ganzen Tag im Kreis. Creostus wurde ermordet. Das Waldvolk vertraut mir nicht mehr und ich kann ihnen allen ihr Misstrauen nicht verdenken, denn womit hätte ich ihr Vertrauen verdient? Ich sehe Schatten und Gespenster, die nicht da sind. Wilhelmina ist wie durch einen ihrer Zaubertricks verschwunden. Und die Magie und das Magische Reich verändern sich. Das Tor öffnet sich jetzt ohne meine Hilfe und Pippa …
Pippa. Die Magie hat in ihr Wurzeln geschlagen und entfaltet sich. Und sobald ich versuche, mir meine wachsende Angst vor ihr auszureden, fällt mir Mr Darcy ein.
Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden. Ich wünschte, ich hätte den Schlüssel, denn ich kann nicht mehr klar sehen und brauche die Wahrheit wie nie zuvor.
Wenigstens einen Fehler kann ich vielleicht wiedergutmachen. Am Abend, als wir mit unseren Aufgaben fertig sind, suche ich Cecily. Ich finde sie in der Bibliothek. Brigid hat sie auf ein Sofa gebettet, mit einem Kissen unter ihrem Knöchel. Cecilys Stimmung ist auf dem absoluten Tiefpunkt – nicht, dass ich es ihr verübeln könnte –, weil sie an unserem Maskenball nicht teilnehmen kann. Und sie ist nicht erfreut, mich zu sehen. Als ich auf sie zugehe, hebt sie ihr illustriertes Modejournal, sodass ich mit dem Bild einer eleganten Frau konfrontiert bin, die ein Kleid nach dem letzten Schrei trägt.
»Ich habe Stolz und Vorurteil mitgebracht. Ich hab mir gedacht, vielleicht könnte ich dir vorlesen«, biete ich an.
Cecily durchblättert mit dem Daumen die Illustriertenseiten. »Ich kann schon seit Jahren selbst lesen.«
»Wie geht es deinem Knöchel?«, frage ich, als ich mich auf den Stuhl neben dem Sofa setze.
»Er tut weh. Ich werde meine Ballettnummer nicht vorführen können. Ich werde nicht einmal tanzen können. Mein Abend ist ruiniert«, sagt sie weinerlich.
»Ich hab mir gedacht, vielleicht könntest du an meiner Stelle das Gedicht von William Butler Yeats vortragen.«
Cecily verengt ihre Augen. »Warum?«
»Na ja, du bist eine ausgezeichnete Sprecherin, viel besser als ich, und …«
»Nein, was soll dieses Angebot? Haben Sie ein schlechtes Gewissen, Miss Doyle?« Cecilys Blick ist durchdringend und ich stelle fest, dass ich ihrer Beobachtungsgabe zu wenig Beachtung geschenkt habe.
»Es ist ein ehrliches Angebot«, sage ich.
»Lass sehen«, sagt sie schließlich und ich reiche ihr das Gedicht. Sie beginnt sofort laut zu lesen, und als ich sie verlasse, ist sie auf ihrem Krankenbett so ins Auswendiglernen und flüsternde Rezitieren vertieft, dass ich weiß, sie wird der Star des Abends sein.
Himmel, hilf.
Ann passt mich auf dem Flur ab. Sie hat ein Exemplar des Periodischen Almanacks in Händen, in dem alle Arten von Veranstaltungen sowie Vermittlungsagenturen und Theater aufgeführt sind.
»Gemma, schau.« Sie zeigt mir eine Anzeige für das Gaiety-Theater.
DIE VERGNÜGTEN JUNGFRAUEN
Eine neue und originelle musikalische Komödie.
Aufführung im Juli.
Komponiert von Mr Charles Smalls.
Junge Damen mit gefälligem Äußeren und
guter Stimme sind aufgefordert,
sich bei Mr Smalls vorzustellen.
Zeit: Mittwoch, 29. April,
zwischen 12.00 Uhr Mittag und 15.00 Uhr.
Kleine Tanzprobe.
»Erinnerst du dich an Charlie Smalls, den Klavierbegleiter? Ihm hat meine Stimme gefallen«, sagt Ann und beißt sich auf die Unterlippe. »Wenn ich nach London fahren und ihn aufsuchen könnte …«
»Am neunundzwanzigsten. Das ist morgen«, sage ich.
»Ich weiß, ich sollte eigentlich nicht fragen«, sagt sie. »Aber ich verspreche, diesmal werde ich nicht kneifen.«
Ich nicke. »Gut. Wir werden es deichseln. Ich weiß noch nicht wie, aber es wird uns etwas einfallen.«
*
Gleich nach dem Abendessen kommt Inspektor Kent, um Mademoiselle LeFarge einen Besuch abzustatten. Es sind nur noch ein paar Wochen bis zu ihrer Hochzeit. Im großen Empfangszimmer unterhält uns der Inspektor mit tollkühnen Geschichten von Scotland Yard. Wir wollen, dass er uns von Jack the Ripper erzählt, aber er lehnt es höflich ab, dieses Thema zu erörtern. Mademoiselle LeFarge sitzt die ganze Zeit daneben, stolzgeschwellt, dass er ihr Mann sein wird. »Bitte, erzählen Sie uns noch eine Geschichte!«, betteln wir.
»Hm, ich furchte, ich werde Sie um den Schlaf bringen, wenn ich Ihnen die erzähle«, sagt er augenzwinkernd. Mehr brauchen wir nicht, um ihn zu bestürmen.
Inspektor Kent nimmt einen Schluck Tee. »In dieser Geschichte geht es um eine Truppe von Komödianten, die nicht weit von hier verschwunden zu sein scheint.«
»Gütiger Himmel«, sagt Mademoiselle LeFarge. »Wir hatten kürzlich Besuch von Komödianten.«
»Gegen mein besseres Wissen«, brummt Mrs Nightwing.
»Es ist eine äußerst merkwürdige Geschichte. Offenbar wollten sich diese Burschen mit einigen anderen Berufskollegen in Dorset treffen, aber sie sind dort nie angekommen. Inzwischen liegen uns Berichte aus verschiedenen Dörfern vor, wo sie gesehen wurden. Und entlang ihrer Spur sind Gerüchte über vermisste Personen aufgetaucht.«
Die jüngeren Mädchen sind von der Geschichte entzückt, besonders als Inspektor Kent ihnen zuzwinkert und mit den Augenbrauen wackelt.
Aber mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. »Waren das Geister?«
Inspektor Kent lacht dröhnend. Auch die Mädchen kichern und halten mich für verrückt.
»Während meiner zwanzig Jahre beim Yard sind mir die haarsträubendsten Dinge untergekommen, aber einen Geist habe ich nie gesehen. Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Ich glaube, diese Komödianten, die ja allesamt zweifelhafte Existenzen sind, waren ihren Kollegen in Dorset Geld schuldig. Deshalb sind sie dort nicht aufgetaucht. Und was die Berichte über vermisste Personen betrifft, nun ja, in jedem Dorf gibt es irgendwen, der einen guten Grund hat, sich aus dem Staub zu machen.«
»Was für einen guten Grund?«, fragt Cecily.
»Das tut nichts zur Sache«, erklärt Mrs Nightwing und schürt damit erst recht unsere Neugier.
»Oh, Mr Kent.« Mademoiselle LeFarge kichert. »Nichts mehr davon oder die Mädchen werden heute Nacht kein Auge zutun. Lassen Sie uns über die Hochzeit sprechen, ja?«
»Wie Sie wünschen, Mademoiselle LeFarge, wie Sie wünschen«, antwortet er.
»Ich dachte, vielleicht könnten Sie alle uns dabei helfen, die Lieder auszusuchen, die wir singen wollen.« Sie runzelt die Stirn. »Oje! Ich habe vergessen, ein Gesangbuch aus der Kapelle mitzubringen. Und dabei habe ich den ganzen Tag daran gedacht.«
»Ich werde es holen«, sagt Inspektor Kent und setzt seine Teetasse ab.
Mrs Nightwing hält ihn zurück. »Nein. Miss Doyle soll es holen. Nach meiner Berechnung hat sie noch ein paar Tage lang Buße zu tun. Es wird ihr guttun. Miss Poole, Sie werden sie begleiten.«
Verdammte Nightwing.
Elizabeth folgt mir auf den Rasen hinaus. Sie zuckt bei jedem Geräusch zusammen. »Was war das?«, ruft sie. Ein Frosch hüpft über ihren Fuß und sie schreit auf und greift nach meinem Arm.
»Es ist nur ein Frosch, Elizabeth. Du führst dich auf, als wäre es ein Drache«, sage ich ärgerlich.
Wir sind noch keine zehn Schritte gegangen, als Elizabeth kreischt und fast an mir hochklettert.
»Was ist jetzt schon wieder?«, frage ich und schubse sie weg.
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Es ist so dunkel! Ich hasse die Dunkelheit. Schon immer. Sie macht mir Angst.«
»Tja, da kann ich dir nicht helfen«, knurre ich und sie fängt an zu heulen. »Also gut«, seufze ich. »Geh und versteck dich in der Küche. Ich hole das Gesangbuch und dann komme ich zu dir zurück.«
Sie nickt und stürzt davon, ohne auch nur Danke zu sagen. Meine Lampe weist mir den Weg zur Kapelle. Nachtgetier stimmt sein Zirp- und Krächzkonzert an. Es klingt nicht eben tröstlich an diesem Abend, aber es bringt ins Bewusstsein, dass die Dunkelheit von vielen Lebewesen bevölkert ist. Die Hunde beim Zigeunerlager erheben ihr Gebell, das in ein unruhiges Winseln übergeht. Der Laut zerrt an meinen Nerven.
Also gut. Kein Zaudern. Ich bin hier, um das Gesangbuch zu holen, und es muss schnell gehen. Die uralte Eichentür der Kapelle ist schwer. Ich ziehe mit aller Kraft und sie öffnet sich knarrend einen Spaltbreit. Im Innern ist es düster und totenstill. Alles Mögliche könnte dort lauern. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich klemme einen Stein in den Türspalt und schlüpfe hinein.
Das schwarzblaue Dämmerlicht des späten Abends, das durch die farbigen Glasfenster fällt, wirft Muster auf den Fußboden. Mein Lampenlicht bewegt sich darüber. Ich finde kein Gesangbuch im hinteren Teil der Kapelle, also bin ich gezwungen, den Mittelgang entlangzugehen und mich immer weiter von der Tür und einer schnellen Fluchtmöglichkeit zu entfernen. Ich schwinge meine Lampe zwischen den Bankreihen hin und her, bis meine Suche endlich Erfolg hat. Ein plötzlicher Windstoß schlägt die Tür zu und ich lasse das Gesangbuch, das ich in der Mitte eines Pults entdeckt habe, fallen. Ich höre, wie es unter die Bank rutscht.
Verdammt.
Mein Herz klopft zum Zerspringen, als ich mich jetzt bücke und nach dem Buch taste, bis ich es habe. Eine Stimme, so durchdringend wie das Kratzen eines Fingernagels auf Metall, tönt aus der Dunkelheit.
»Bleib …«
Ich wirble so rasch herum, dass die Flamme in der Lampe flackert. »Wer ist da?«
Die Kapelle ist still, abgesehen vom Wind, der an der nun geschlossenen Tür rüttelt. Ich packe das Gesangbuch und renne schwer atmend durch den Gang.
»Du sollst nicht gehen …«
Ich wirble um die eigene Achse. Meine Lampe wirft zornige Schatten an die Wände. »Ich weiß, dass du da bist. Zeig dich!«
»Der Wald ist nicht mehr sicher.«
Die Figuren der farbigen Glasfenster bewegen sich. Sie sind lebendig.
»Wir wollen dich beschützen, Auserwählte …«
Die Stimme kommt von der seltsamen Glasscheibe, die einen Engel in voller Rüstung zeigt, der in einer Hand ein blutiges Schwert schwingt und in der anderen ein abgeschlagenes Medusenhaupt. Wenigstens habe ich die Gestalt immer für einen Engel gehalten; jetzt, in der zunehmenden Dunkelheit, bin ich mir keiner Sache mehr sicher. Der Engel wächst in seinem gläsernen Gefängnis. Sein Körper beugt sich aus dem Fenster und sein Gesicht schimmert wie der Mond.
»Sie sind im Wald …«
»Du bist nicht wirklich«, sage ich laut. Von dem Medusenhaupt tropft Blut auf den Fußboden der Kapelle. Ich höre es mit einem ekelerregenden Geräusch aufkommen wie Regen. Galle steigt in meiner Kehle hoch. Ich atme durch die Nase und würge die bittere Flüssigkeit hinunter.
»Wenn du in der Winterwelt geopfert wirst, geht die Magie auf sie über und alles ist verloren. Verlass die Kapelle nicht!«
Es ist zu spät. Ich lasse das Gesangbuch und die Laterne zurück und stürze zum Ausgang. Ich werfe mich gegen die Tür und sie fliegt auf. Das Heer der Nacht hat seinen Rachefeldzug angetreten. Ich kann kaum den Weg sehen und ich verfluche mich, dass ich die Lampe nicht mitgenommen habe. Das Gebell der Hunde ist noch nicht verstummt.
Ohne richtig auf den Weg zu achten, renne ich, so schnell ich kann. Ein Ast schlägt mir ins Gesicht und ich blicke mich um. Ich ringe nach Atem. In den Bäumen bewegt sich etwas. Zwei Männer kommen hinter einer großen Fichte hervor und ich schreie. Es dauert einen Moment, bis ich sie erkenne – Tambley und Johnny, die beiden vermissten Arbeiter.
»Sie haben mich zu Tode erschreckt«, sprudle ich hervor. Mein Herz schlägt so schnell wie das eines Kaninchens.
»Tut uns leid, Miss«, sagt Johnny mit ruhiger Stimme.
»Wir wollten Ihnen nichts tun«, fügt der junge Tambley hinzu. Irgendetwas ist seltsam an ihnen. Sie scheinen so substanzlos wie Staub, zwei Erscheinungen, und als sie nach vorn in einen Mondstrahl treten, könnte ich schwören, dass ich unter ihrer Haut Knochen leuchten sehe.
»Sie haben uns alle einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sage ich und weiche zurück. »Es hat geheißen, Sie sind verschwunden.«
»Verschwunden?«, wiederholt Johnny offenbar verständnislos.
Die Bäume zittern von Flügelgeflatter. Mehrere Raben hocken auf den Ästen und beäugen uns stumm. Eine drängende innere Stimme flüstert mir zu: Versteck dich, Gemma.
»Sie sollten sich sofort bei Mr Miller melden. Er macht sich Sorgen um Sie.«
Meine Hand sucht Halt an einem Baumstamm. Rechts von mir höre ich einen Laut. Meine Augen wenden sich dem Geräusch zu und da ist Johnny. Eine Sekunde zuvor war er vor mir. Wie konnte er plötzlich …
Tambley zeigt mit einem Finger auf mich. Sein Skelett schimmert unter der Oberfläche seiner Haut, so bleich wie ein Fisch auf dem Grund eines Teiches.
»Jetzt sind wir wieder da«, sagt er. »Um Sie zu holen.«
Die Vögel erheben ein ohrenbetäubendes, durch Mark und Bein dringendes Gekrächze. Johnnys Hand fasst nach meinem Cape. Ich schlüpfe heraus, sodass er nur das Cape erwischt. Ich verschwende keine Zeit. Ich mache auf dem Absatz kehrt und rase zurück auf dem Weg, den ich soeben gekommen bin, denn sie versperren mir den Weg nach Spence. Der Wind erhebt sich hinter mir und bringt kichernde und wispernde Geräusche mit, das Kratzen von Rattenpfoten und das Flattern von Flügeln. Das Gekrächz der Raben ist wie das Gekreisch der Hölle. Wenn mich nicht alles täuscht, beteilige ich mich an dem Geschrei.
Die Kapelle schwankt vor meinen Augen im Takt mit meinem stoßweisen Atem. Was immer hinter mir ist, es kommt rasch näher, und nun höre ich auch Pferde, Pferde, die plötzlich direkt aus der Luft gekommen zu sein scheinen. Ich werfe mich mit aller Kraft gegen die Tür der Kapelle, aber sie will sich nicht öffnen. Der Staub des Weges wirbelt um mich herum auf.
Hunde. Ich höre das Gebell von Hunden. Sie sind nahe. Und schlagartig legt sich der Staub. Das Geräusch von Pferden und von Vögeln klingt zu einem dumpfen Pochen ab und verhallt. Geflacker von Fackeln und Rauch aus dem Wald. Die Zigeuner sind gekommen – einige zu Pferd, die anderen zu Fuß.
»Gemmai« Kartiks Stimme.
»Ich … hab sie … gesehen … ich …« Ich presse die Hand an meinen Magen. Ich kann nicht sprechen. Kann nicht atmen.
»Hier«, sagt er und nimmt meinen Arm, um mich zu stützen. »Wen haben Sie gesehen?«
Nach ein paar Luftzügen kehrt meine Stimme zurück. »Männer … im Wald. Millers Männer – die, die verschwunden sind.«
»Sind Sie sicher?«, fragt Kartik.
»Ja.«
Die Zigeuner schwärmen unverzüglich aus. Die Hunde schnuppern verwirrt am Boden.
»Mrs Nightwing hat mich in die Kapelle geschickt, um ein Gesangbuch zu holen«, erkläre ich.
»Allein?« Kartik zieht die Augenbrauen hoch.
Ich nicke. »In der Kapelle … sind die Fenster lebendig geworden«, flüstere ich. »Sie haben mich davor gewarnt, in den Wald zu gehen!«
»Die Fenster haben Sie gewarnt«, wiederholt Kartik langsam und mir wird klar, dass er an meinem Verstand zweifelt. Was ich ihm nicht verdenken kann.
»Der Engel, der mit dem Medusenhaupt … ist lebendig geworden, hat mich gewarnt. ›Der Wald ist nicht sicher.‹ Und damit nicht genug. Er sagte etwas von einem Opfer – ›Wenn du in der Winterwelt geopfert wirst, geht die Magie auf sie über und alles ist verloren.‹«
Kartik nagt nachdenklich an seinen Lippen. »Sind Sie sicher, dass es keine Vision war?«
»Ich glaube nicht, dass es eine war. Und dann habe ich auf dem Weg diese Männer gesehen und sie schienen wie Gespenster. Sie sagten, sie seien gekommen, um mich zu holen.«
Ein plötzlicher, entsetzter Schrei dringt aus dem Zigeunerlager. Gefolgt von noch mehr Geschrei.
»Bleiben Sie hier!«, bestimmt Kartik.
Um keinen Preis bleibe ich allein hier. Ich hefte mich an seine Fersen. Bei jedem Schritt dröhnt die Stimme des Engels in meinen Ohren: Der Wald ist nicht sicher. Im Lager herrscht Chaos – Gezeter, Flüche, Gebrüll von Männerstimmen. Gespenster sind hier keine. Es sind Mr Miller und seine Arbeiter. Sie zerren die Frauen aus den Zelten, durchwühlen die Wohnwagen und stopfen alles in ihre Taschen, was sie finden. Als die Frauen versuchen, ihr Hab und Gut zu beschützen, drohen ihnen Mr Millers Männer mit Fackeln. Eine Frau stürzt sich auf einen der Plünderer und drischt mit den Fäusten auf ihn ein, bis ein anderer ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt.
Die Hunde werden losgelassen. Sie greifen einen der Männer an und werfen ihn zu Boden, wo er schreiend liegen bleibt. Messer werden gezückt.
»Inspektor Kent ist in Spence zu Besuch. Ich gehe schnell, ihn zu holen«, sage ich, aber beim Gedanken an den unheimlichen Wald, wo geisterhafte Gestalten lauern, werden meine Füße schwer wie Steine. Ich zögere und in diesem Moment zieht Mr Miller seine Pistole und gibt zwei Schüsse in die Luft ab. »Also. Wer will Blei in seinen Bauch? Ich will wissen, wo meine vermissten Männer sind.«
Er zielt auf einen der Zigeuner. Um Inspektor Kent zu holen, ist jetzt keine Zeit. Es muss sofort etwas geschehen.
»Halt!«, brülle ich.
Mr Miller versucht, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. »Wer war das?«
»Ich«, sage ich und trete ins Licht.
Mr Millers Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen und er lacht höhnisch. »Sie? Sind Sie nicht eines von den Spence-Mädchen? Was wollen Sie? Mir Tee servieren?«
»Inspektor Kent von Scotland Yard hat uns heute Abend einen Besuch abgestattet«, sage ich und hoffe, um vieles selbstsicherer zu klingen, als ich mich fühle. »Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, werde ich ihn holen. Tatsächlich könnte er schon auf dem Weg hierher sein.«
»Sie gehen nirgendwohin.« Mr Miller nickt und zwei seiner Männer kommen auf mich zu. Kartik tritt zwischen uns. Er versetzt jedem von ihnen einen gediegenen Faustschlag, aber ein weiterer stürzt sich ins Getümmel und drei Gegnern ist Kartik nicht gewachsen. Ein Hieb mitten auf den Mund schlägt ihm die Lippen blutig.
»Hört auf!«, rufe ich.
Mr Millers gemeines Grinsen kehrt zurück. »Ich hab Missus Nightwing gesagt, diese dreckigen Zigeuner werden ihre Mädchen beschmutzen. Jetzt zeigt sich, wie recht ich hatte.«
Ich hasse ihn dafür. Ich wünschte, ich könnte ihm zeigen wie sehr, und im Nu frisst sich die Magie mit rasender Schnelligkeit durch mich hindurch. Ich bin im Innern von Mr Millers Kopf, ein unwillkommener Gast.
Ich weiß, wovor Sie Angst haben, Mr Miller, und was Sie sich wünschen.
Mr Miller fährt wie von der Tarantel gestochen herum. »Wer hat das gesagt? Wer von euch?«
Dieser Wald kennt Ihre Geheimnisse, Mr Miller. Auch ich kenne sie. Es macht Ihnen Spaß, anderen wehzutun. Es macht Ihnen großen Spaß.
»Zeigen Sie sich!«, Mr Millers Stimme ist heiser vor Angst.
Sie haben einmal ein Kätzchen umgebracht. Es strampelte und kratzte um sein winziges Leben und Sie drückten noch fester zu. Sie drückten zu, bis es schlaff in Ihren Händen hing.
»Hört ihr das nicht?«, schreit Mr Miller seinen Männern zu. Sie sehen ihn an wie einen Irren, denn sie hören nichts.
Eine wilde Lust, Vergeltung zu üben, überkommt mich. Ich lasse den Wind auffrischen. Er raschelt in den Blättern und fährt Mr Miller in die Glieder. Der Mann nimmt die Beine in die Hand und rennt, seine Männer wie die wilde Meute hinter ihm her, jeder Gedanke an Rache ist für den Moment vergessen. Die Magie besänftigt sich und ich stürze keuchend auf meine Knie. Die Zigeuner betrachten mich argwöhnisch, wie etwas, wovor man sich fürchten muss.
»Sie ist es, die den Fluch bringt«, sagt Mutter Elena.
»Nein«, sage ich, aber ich bin mir dessen nicht sicher.
Die Frauen beginnen unverzüglich, das Lager von dem Bösen, das wir Fremden ihnen gebracht haben, zu reinigen. Sie schütten das Wasser aus allen Krügen. Ich sehe, wie einige Frauen kleine Brotstücke in ihre Taschen stecken; ein Brauch, um Unglück abzuwehren, wie uns Brigid erklärt hat.
Kartik streckt mir seine Hand hin und ich nehme sie. »Die Männer, die Sie im Wald gesehen haben – jetzt sehen Sie, dass sie keine Gespenster waren, sondern aus Fleisch und Blut. Sie waren gekommen, um Rache an den Zigeunern zu üben.«
Ich möchte ihm gerne glauben. Was gäbe ich nicht darum, mich durch einfache Erklärungen beruhigen zu lassen wie ein verängstigtes Kind, dem die Gouvernante dazu noch sanft über den Kopf streicht. »Und die Fenster?«
»Eine Vision. Eine sehr ungewöhnliche. Sie haben selbst gesagt, die Dinge würden sich verändern.« Er kämmt sich mit den Fingern durch seine dichten Locken, wie immer, wenn er nachdenkt. Ich stelle fest, dass ich das vermisst habe. Ich habe ihn vermisst.
»Kartik …«, beginne ich.
Laternen tauchen zwischen den Bäumen auf. Inspektor Kent ist mit Mrs Nightwing, Miss McChennmine und zwei von unseren Stallburschen gekommen. Elizabeth trottet hinter ihnen her. Sie rufen meinen Namen und er klingt fremd, wie der Name eines Mädchens, das vor vielen Wochen glücklich mit ihren Freundinnen im Magischen Reich gespielt hat. An dieses Mädchen erinnere ich mich nicht mehr. Ich bin eine andere geworden und ich bin mir nicht sicher, dass sie bei klarem Verstand ist.
»Hier bin ich!«, rufe ich, denn sie würden mich auf jeden Fall finden.
Mrs Nightwings Gesicht lässt eine Mischung aus Erleichterung und Wut erkennen. Nun, wo sie mich heil aufgefunden hat, blickt sie drein, als möchte sie mir für die Sorgen, die ich ihr bereitet habe, den Hals umdrehen.
»Miss Doyle, es war sehr unfreundlich von Ihnen, fortzulaufen und Miss Poole zurückzulassen«, rügt Mrs Nightwing. Elizabeth macht sich hinter ihr klein.
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, aber es lohnt sich nicht.
»Wir haben Schüsse gehört!«, sagt der Inspektor und nimmt die Sache nun in die Hand. Jetzt hat er gar nichts mehr von dem augenzwinkernden Mann, der an unserem Kamin Tee trinkt. Er ist ein gestrenger Hüter des Gesetzes. Es ist erstaunlich, dass Männer die zwei Seiten ihres Wesens so leicht in sich vereinen können.
»Millers Männer sind gekommen, um unter den Zigeunern Schaden anzurichten«, sage ich und Kartik erklärt, was sich zugetragen hat.
»Ich werde mir Mr Miller vorknöpfen«, sagt Inspektor Kent ernst. »Er wird mir dafür Rechenschaft ablegen. Und Sie sagen, Sie haben seine vermissten Männer im Wald gesehen?«
»Ja«, flüstere ich.
»Könnten Sie bitte nachsehen, ob sie Ithal in ihrem Lager haben?«, sagt Kartik. »Er wird immer noch vermisst.«
»Vermisst? Seit wann? Warum wurde ich davon nicht unterrichtet?«, fragt der Inspektor.
Ein harter Zug tritt um Kartiks Mund. »Niemand schert sich um einen vermissten Zigeuner.«
»Unsinn!«, knurrt der Inspektor. »Ich werde mich sofort darum kümmern. Ich werde im Lager der Bauarbeiter das Unterste zuoberst kehren, wenn es nötig ist. Mr Miller muss mir für vieles Rede und Antwort stehen, das steht fest.«
Mrs Nightwing und Inspektor Kent geleiten uns durch den Wald. Es scheint nicht mehr derselbe Ort zu sein, den wir gekannt haben, wo wir herumgetollt und durch den wir gewandert sind. Es ist, als hause jemand anderes darin.
»Mrs Nightwing war krank vor Sorge. Sie hätte Ihnen nie erlaubt, zur Kapelle zu gehen, wenn sie damit gerechnet hätte, dass auch nur die geringste Gefahr bestand«, erklärt mir Miss McChennmine, aber ich höre ihr nicht zu. Ich traue keiner von ihnen.
Der Mond schaut für einen Moment hinter den Wolken hervor und beleuchtet das Dach von Spence. Ich verlangsame meine Schritte. Irgendetwas ist seltsam daran, obwohl ich es nicht genau benennen kann. Ich sehe die Türmchen, die Backsteine, die Verzierungen, die Wasserspeier. Ein riesiger dunkler Umriss von Flügeln breitet sich vor dem Licht des Mondes aus. Das steinerne Ungetüm erhebt sich zu voller Größe.
Es bewegt sich.
»Miss Doyle?« Miss McChennmine blickt von mir zum Dach des Gebäudes und wieder zurück. »Ist irgendetwas?«
Sie könnten Ihre Sinne täuschen. Es wird sein, als seien Sie verrückt geworden. Eugenia hat mich davor gewarnt, oder nicht?
»Nein, es ist nichts«, antworte ich, aber meine Hände zittern und jetzt höre ich in meinem Kopf Neelas Stimme: Wie willst du kämpfen, wenn du nicht einmal sehen kannst?