40. Kapitel

Im Mai wird die jährliche Ausstellung in der Königlichen Kunstakademie ihre Pforten öffnen und damit den traditionellen Beginn der Londoner Saison einläuten. Das Parlament wird seine Sitzungsperiode beginnen und Horden von Familien werden unsere schöne Stadt stürmen, um festliche Veranstaltungen und Teegesellschaften, Konzerte, Derbys und Unterhaltungen aller Art zu besuchen. Aber der inoffizielle Start dieser Festlichkeiten ist Lady Markhams Ball zu Ehren von Felicitys gesellschaftlichem Debüt. Lady Markham hat zu diesem Anlass einen herrlichen Saal im West End gemietet, dessen prunkvolle Dekoration im orientalischen Stil einem Sultan gerecht würde. Die Veranstaltung dieser Bälle gleicht einem sportlichen Wettkampf. Jede Gastgeberin ist von wildem Ehrgeiz besessen, das glänzendste, verschwenderischste aller Feste auszurichten. Lady Markham hat beschlossen, die Latte ziemlich hoch zu legen.

Riesige Palmen säumen den Ballsaal auf beiden Seiten. Tische sind mit weißen Tüchern und Tafelsilber gedeckt, das wie ein Piratenschatz glänzt. Ein Orchester spielt direkt hinter einem roten, mit chinesischen Drachen bemalten Wandschirm. Ein Feuerschlucker mit Turban und einem blau bemalten Gesicht wie der indische Gott Krischna bläst eine dicke orangerote Flamme aus seinen gespitzten Lippen und die Gäste stoßen Laute des Entzückens aus. Drei ineinander verschlungene siamesische Tänzerinnen mit perlenbestickten Gewändern und Sandalen an den Füßen führen einen langsamen, kunstvollen Tanz auf. Sie scheinen ein einziger Körper mit vielen sich bewegenden Armen zu sein. Männer umringen die Tänzerinnen, fasziniert von deren geschmeidiger Anmut.

»Wie vulgär«, sagt meine Anstandsdame, Mrs Tuttle. Großmama hat eine hübsche Summe für deren Dienste am heutigen Abend bezahlt und Mrs Tuttle erweist sich als die schlimmste Anstandsdame, die man sich nur denken kann – pünktlich, scharfzüngig und übertrieben aufmerksam.

»Mir gefallen sie«, sage ich. »Ja, ich glaube, ich werde genauso tanzen lernen. Vielleicht heute Abend.«

»Sie werden nichts dergleichen tun, Miss Doyle«, sagt sie, als sei die Sache damit erledigt, was ein gründlicher Irrtum ist.

»Ich werde tun, was mir beliebt, Mrs Tuttle«, sage ich zuckersüß. Heimlich berühre ich mit der Hand ihren Rock und er fliegt wie unter einem Windstoß hoch, sodass ihre Unterröcke und die rüschenbesetzten Damenschlüpfer zum Vorschein kommen.

Mit einem entsetzten Aufschrei zieht sie ihr Kleid vorne herunter und der Rock fliegt hinten hoch. »Oh Gott!« Sie fasst nach hinten und die Vorderseite wogt wieder empor. »Du meine Güte! Es … Ich … Würden Sie mich bitte entschuldigen?«

Mrs Tuttle eilt zur Damentoilette, ihre ungebärdigen Röcke festhaltend.

»Ich erwarte ungeduldig Ihre Rückkehr«, murmle ich für mich.

»Gemmai«

Felicity ist da, mit ihrer Anstandsdame im Schlepptau, einer Bohnenstange mit einer großen Nase. »Ist es nicht wundervoll? Hast du den Feuerschlucker gesehen? Ich bin so froh, dass mein Ball das Gesprächsthema der Saison sein wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand damit konkurrieren kann!«

»Es ist wunderbar, Fee. Wirklich.«

»Wenigstens ist mein Erbteil jetzt gesichert«, flüstert sie. »Vater und Lady Markham haben sich heute Abend rasch angefreundet. Sie war sogar zu meiner Mutter liebenswürdig.«

Felicity nimmt meinen Arm und wir promenieren, gefolgt von ihrer Anstandsdame, einer Französin namens Madame Lumière.

Die Männer folgen uns mit ihren Blicken, als seien wir zu eroberndes Land. Der Saal schwirrt von Gesprächen über die Jagd, das Parlament, über Pferde und Liegenschaften, aber alle Augen hängen an uns. Es gilt, einen Handel abzuschließen, Samen zu säen. Und ich frage mich: Was wäre, wenn Frauen nicht Töchter und Gattinnen, Mütter und heiratsfähige Mädchen, zukünftige Ehefrauen oder alte Jungfern wären? Würden wir dann überhaupt existieren?

»Wir könnten uns mit einem Stück Kuchen die Zeit vertreiben«, schlägt Madame Lumière vor.

Ich will mir die Zeit nicht vertreiben. Ich will sie beim Schopf packen und meine Fußspuren in der Welt hinterlassen.

»Oh, liebe Madame Lumière. Gehen Sie nur. Miss Doyle und ich werden hier warten, bis Sie zurückkommen«, sagt Felicity mit ihrem strahlendsten Lächeln. Madame Lumière verspricht, tout de suite wieder da zu sein. Sobald sie außer Sichtweite ist, stürzen wir uns befreit ins Ballvergnügen.

»Hast du irgendeinen charmanten Tanzpartner?«, frage ich, als mein Blick auf Felicitys Tanzkarte fällt.

»Lauter widerliche Knilche! Der alte Mr Carrington, der nach Whiskey riecht. Ein Amerikaner, der tatsächlich gefragt hat, ob meine Familie Land besitzt. Und noch ein paar Verehrer – kein Einziger, den ich vorm Ertrinken retten, geschweige denn heiraten würde. Und Horace natürlich.« Felicity knurrt leise. »Er folgt mir wie ein trauriger Dackel.«

»Du hast ihn gründlich verhext«, sage ich lachend.

»Simon hat gesagt, ich soll liebenswürdig sein, also habe ich bei jeder Begegnung mit Lady Markham und ihrem Sohn meinen Charme spielen lassen. Ich glaube nicht, dass ich seine Aufmerksamkeit noch viel länger ertragen kann.«

»Achtung, da kommt er.«

Ich deute mit dem Kinn auf die dreihundertköpfige Menge, aus der Horace Markham auf uns zusteuert, dabei die Hand hebt, als würde er einer zweirädrigen Droschke winken. Er ist groß und schlank und nach Felicitys Aussage dreiundzwanzig. Er hat ein jungenhaftes Gesicht, das zum Erröten neigt. An seiner Haltung – leicht vorgeneigt, ein bisschen linkisch – sehe ich mit einem Blick, dass er nicht Manns genug ist, um es mit Felicity aufzunehmen.

»Ach du meine Güte«, fährt es mir heraus.

»Du sagst es«, gibt Felicity zurück.

»Miss Worthington«, sagt Horace atemlos. Eine lockige Strähne löst sich aus seinem schütteren Haar und klebt an seiner hohen glänzenden Stirn. »So sieht man sich also wieder, wie es scheint.«

»Ja, es scheint so.« Felicity hebt den züchtig gesenkten Blick zu Horace. Ein scheues Lächeln spielt um ihre Lippen. Kein Wunder, dass der arme Junge fast den Verstand verliert.

»Ich glaube, jetzt kommt die Polka. Darf ich Sie um diesen Tanz bitten?«, fragt er und es klingt geradezu flehend.

»Mr Markham, das ist sehr freundlich, aber wir haben schon so oft getanzt, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache, was die Leute sagen werden«, antwortet Felicity mit perfekt gespielter Wohlanständigkeit. Ich kann mir das Lachen kaum verbeißen.

»Sollen sie doch reden.« Horace zieht seine Weste zurecht, als mache er sich zu einem Duell bereit, um die Familienehre zu verteidigen.

»Lieber Himmel«, murmle ich.

Felicitys Seitenblick sagt: Du hast ja keine Ahnung.

Lady Denby sitzt an einem Tisch und isst Kuchen. Sie sieht missbilligend zu uns her und diese Tatsache entgeht Felicitys Aufmerksamkeit nicht.

»Wie tapfer Sie sind, Mr Markham«, sagt Felicity und gestattet Horace, sie direkt an Lady Denby vorbei zur Tanzfläche zu fuhren.

»Ich wage nicht zu hoffen, dass auf Ihrer Karte noch ein Tanz frei ist?«

Ich drehe mich um und sehe in Simon Middletons lächelndes Gesicht. Mit seiner weißen Krawatte, den Frackschößen und diesem unverschämten Zwinkern in den Augen sieht er besser denn je aus.

»Ich sollte eigentlich mit einem Mr Whitford tanzen«, sage ich zögernd.

Simon nickt. »Ah, der alte Whitford. Nicht nur, dass er zum Gehen einen Stock braucht, auch sein Gedächtnis steht auf wackeligen Beinen. Gut möglich, dass er Sie vergessen hat – tut mir leid, das zu sagen –, und wenn nicht, so könnten wir tanzen und wieder zurück sein, bevor er angehumpelt kommt.«

Ich lache herzlich über seine Schlagfertigkeit. »In diesem Fall nehme ich an.«

Wir mischen uns unter die anderen Paare. Wir tanzen an Tom vorbei, der entschlossen ist, Eindruck auf seine Partnerin zu machen. »Dr. Smith und ich haben den armen Mann von seinen Wahnvorstellungen geheilt, ich darf allerdings sagen, dass es meinem Einblick in den Fall zu verdanken war …«

»Ist das wahr?«, sagt seine Tanzpartnerin, die an seinen Lippen hängt, und ich kann kaum der Versuchung widerstehen, ihm Hasenohren wachsen zu lassen.

Mrs Tuttle ist von der Damentoilette zurück. Sie hat vom Büfett zwei Gläser Limonade mitgebracht. Mit einem Ausdruck schieren Entsetzens auf dem Gesicht sieht sie mich mit Simon tanzen, denn es ist ihre Pflicht, jeden Herrn, der mir den Hof machen könnte, genauestens unter die Lupe zu nehmen. Aber sie wurde ihrer Pflicht entbunden, ob sie es weiß oder nicht. Nein, Mrs Tuttle. Sie möchten dort bleiben, wo Sie sind. Ich bin gut aufgehoben hier in Simons Armen. Ich brauche kein Kindermädchen. Bitte, lassen Sie sich Ihre Limonade schmecken. Blinzelnd und sichtlich verwirrt dreht Mrs Tuttle sich um und trinkt aus beiden Limonadengläsern.

»Mir scheint, Ihre Anstandsdame schwankt ein bisschen. Trinkt sie?«, fragt Simon.

»Nur Limonade«, antworte ich.

Simon schenkt mir ein bezwingendes Lächeln. »Sie kommen mir irgendwie verändert vor.«

»Tatsächlich?«

»Mmmm. Ich kann nicht sagen, was es ist. Miss Doyle und ihre Geheimnisse.« Er streift meine Figur mit einem Blick, der viel zu dreist und, wie ich gestehen muss, sehr erregend ist. »Aber Sie sind bezaubernd heute Abend.«

»Ist Ihre Miss Fairchild auch auf dem Ball?«

»Oh ja, sie ist hier«, antwortet er und ich brauche keine Magie, um die Wärme in seiner Antwort zu spüren.

Plötzlich reut es mich, dass ich ihn zurückgewiesen habe. Er ist attraktiv und unterhaltsam. Er fand mich schön. Was, wenn ich nie mehr jemanden wie ihn finde?

Was, wenn ich ihn wiederhaben könnte?

»Miss Fairchild ist Amerikanerin. Vermutlich wird sie am Ende der Saison nach Hause fahren wollen«, sage ich und lehne mich ein klein wenig mehr an Simon.

»Schon möglich, obwohl sie England inzwischen ganz annehmbar findet.« Simons Hand drückt ein bisschen fester gegen meine Wirbelsäule. »Und was haben Sie für Pläne, Miss Doyle? Haben Sie jemand Bestimmten ins Auge gefasst?«

Ich denke an Kartik und verdränge den Gedanken aus meinem Kopf, bevor er meine Stimmung trüben kann. »Nein, niemanden.«

Simons Daumen wandert federleicht an meinem Kleid auf und ab. Mein Rücken kribbelt unter seiner Berührung. »Das ist eine willkommene Nachricht«, flüstert er.

Der Tanz endet und ich entschuldige mich. Ich gehe in die Damentoilette, um meine geröteten Wangen zu kühlen. Kammerzofen stehen bereit, aber ich brauche keine Hilfe. Mit einem Wink meiner Hand bringe ich mein Haar in Ordnung. Ich beschließe, dass ich die Handschuhe, die ich anhabe, nicht mehr mag, und im Handumdrehen verschaffe ich mir ein anderes Paar. Ich blicke in den Spiegel und betrachte wohlgefällig mein Werk.

»Guten Abend, Miss Doyle.« Ich drehe den Kopf und neben mir steht Lucy Fairchild.

»Miss Fairchild«, sage ich.

Sie lächelt mich mit warmer Herzlichkeit an. »Es ist ein herrlicher Ball, nicht wahr? Bestimmt freuen Sie sich sehr für Ihre Freundin, Miss Worthington.«

»Ja«, sage ich und lächle zurück. »Allerdings.«

»Ich habe Sie beim Tanzen beobachtet. Sie sind sehr graziös«, sagt sie und ich erröte beim Gedanken an Simons Hand auf meinem Rücken und wie ich mich an ihn gelehnt habe.

»Danke«, sage ich. »Obwohl meine Grazie sehr zu wünschen übrig lässt und ich sicher bin, dass Simon … Mr Middleton viel lieber mit Ihnen tanzt.«

Wir lächeln einander unbehaglich im Spiegel an. Sie kneift sich in die Wangen, damit sie Farbe bekommen, was ganz unnötig ist. Sie ist entzückend.

»Nun …«, sage ich und wende mich zum Gehen.

»Ja. Genießen Sie den Ball«, sagt Lucy Fairchild aufrichtig.

»Danke, gleichfalls.«

Ein Gong ertönt und die Gäste werden in den Ballsaal gebeten. Lord Markham wankt in die Mitte des Parketts. Er hat ein bisschen zu viel getrunken, wie seine rote Nase zeigt.

»Meine Damen und Herren, sehr verehrte Gäste«, sagt Lord Markham mit ein wenig schwerer Zunge, »meine liebe Gattin hat einen außergewöhnlichen Programmpunkt für Sie vorbereitet. Die berühmten tanzenden Derwische von Konya haben aus dem Ottomanischen Reich den Weg hierher gefunden. Lassen Sie sich durch ihren rituellen Tanz in die geistige Welt der Mönche des Mewlewi-Ordens entführen.«

Acht Männer mit sehr hohen Hüten kommen auf die Tanzfläche. Ihre langen weißen, priesterlichen Gewänder schimmern im Licht der Kristalllüster. Die Musik ist hypnotisch. Die Tänzer verbeugen sich voreinander und beginnen mit langsamen Drehungen. Die Musik schwillt an, das Tempo wird rascher und die langen Röcke der Tänzer wogen und schwingen glockenförmig aus.

Die Musik steigert sich zu einer Leidenschaft, die mein Blut in Wallung bringt. Die Derwische geraten in Ekstase, ihre Hände sind zum Himmel erhoben, als könnten sie mit ihren Fingern Gott berühren, aber nur, wenn sie nicht aufhören, sich zu drehen.

Die Gäste sehen fasziniert zu, gleichsam mithineingezogen in die kreiselnden Bewegungen der Derwische. Zu meiner Rechten sehe ich Mr Fowlson in Dienstbotentracht mit einem Tablett in der Hand. Er beobachtet nicht die Tänzer; er beobachtet meinen Bruder. Sekunden später verlässt er den Saal. Heute Abend wird er mir nicht entkommen. Ich bin entschlossen, ihn auf Schritt und Tritt zu beschatten. Er wird entweder meinen Bruder in Ruhe lassen oder meinen Zorn zu spüren bekommen.

Fowlson geht die Treppe hinauf und klopft an die Tür des Herrenzimmers. Ich schlüpfe hinter einen riesigen eingetopften Farn, um zu spionieren. Wenig später erscheint Lord Denby.

»Ja, Fowlson?«

»Er schaut dem Tanz zu, Sir«, berichtet Fowlson. »Ich lass ihn nicht aus den Augen, genau wie Sie’s verlangt haben.«

Lord Denby klopft Fowlson auf die Schulter. »Recht so.«

»Sir, ob ich Sie wohl kurz sprechen könnte?«

Lord Denbys Lächeln verschwindet. »Dafür ist jetzt kaum die richtige Zeit noch der richtige Ort, alter Knabe.«

»Ja, Sir, verzeihn Sie mir, aber das scheint es nie zu sein und ich frage mich, ob ich bei den Rakschana nicht befördert werden könnte, wie wir’s besprochen haben. Ich hab mir gedacht …«

Lord Denby steckt seine Zigarre in den Mund. »Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Sehr wohl, wie Sie meinen, Sir«, antwortet Fowlson mit gesenktem Kopf.

»Wir brauchen mehr gute Soldaten wie Sie, Mr Fowlson«, ermuntert Lord Denby ihn. »Und nun tun Sie Ihre Pflicht, ja?«

»Ja, Sir«, sagt Fowlson. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht mit langen Schritten in den Ballsaal zurück, um meinen Bruder im Auge zu behalten.

Lord Denby gehört zu den Rakschana. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Faustschlag mit voller Wucht in die Magengrube. All die Zeit über. Ich war bei ihm zu Hause. Ich habe seinen Sohn geküsst. Simon. Heißer, unversöhnlicher Zorn steigt in mir hoch. Darüber wird er mir Rechenschaft ablegen. Und über meinen Bruder.

Ich mache mir nicht die Mühe anzuklopfen. Ich öffne die Tür und trete in den Raum, wo nur Männer sitzen und ihre Pfeifen und Zigarren rauchen. Der harte Glanz ihrer Augen lässt erkennen, dass ich hier ein Eindringling bin. Schwer schluckend marschiere ich durch die Gruppe sprachloser Männer geradewegs auf Lord Denby zu. Er setzt ein falsches Lächeln auf.

»Aber nicht doch, Miss Doyle! Ich fürchte, Sie haben sich in der Tür geirrt. Dieses Zimmer hier ist nur für Männer. Vielleicht kann ich …«

»Lord Denby, ich muss mit Ihnen sprechen«, flüstere ich.

»Tut mir leid, meine Liebe, aber ich werde am Tisch erwartet«, antwortet er.

Du wirst unter meiner Stiefebohle erwartet, du elender Köter. Ich zwinge mich zu einem honigsüßen Lächeln und senke meine Stimme. »Es ist ziemlich dringend. Ich bin sicher, die Herren werden warten. Oder soll ich mich mit meinem Anliegen vertrauensvoll an Mr Fowlson wenden?«

»Meine Herren«, sagt Lord Denby zu den versammelten Männern, »entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Sie wissen ja, wie Frauen sind, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben.« Die Herren kichern auf meine Kosten und ich kann nur schwer der Versuchung widerstehen, jedem Einzelnen von ihnen einen juckenden Hautausschlag zu verpassen.

Lord Denby führt mich durch eine Tür in eine private Bibliothek. Er nimmt in einem gepolsterten Ledersessel neben einem Schachtisch Platz und bläst einen Schwall schweren Zigarrenrauch aus, der mich zum Husten reizt. »Sie wollten mich sprechen, Miss Doyle?«

»Ich weiß, wer Sie sind, Lord Denby. Ich weiß, dass Sie zu den Rakschana gehören und dass Sie meinen Bruder umwerben.«

Er wendet seine Aufmerksamkeit dem Schachbrett zu und spielt gegen einen unsichtbaren Gegner, indem er abwechselnd, Zug um Zug, dessen Figuren und seine eigenen bewegt. »Und weiter?«

»Ich will, dass Sie meinen Bruder in Ruhe lassen, bitte.«

»Meine Liebe, ich fürchte, das liegt nicht in meinen Händen.«

»Wer nimmt einen höheren Rang ein als Sie? Sagen Sie mir das und ich werde mich …«

»Die Ränge der Rakschana werden von den bedeutendsten und einflussreichsten Männern der Welt bekleidet – Staatsmännern und Industriekapitänen. Doch das meinte ich nicht. Ich meinte, dass die Entscheidung in Ihren Händen liegt, meine Teuerste«, sagt er durch eine Rauchwolke. Seine Hand schwebt für den Bruchteil einer Sekunde über einer Figur, bevor er angreift, einen im Weg stehenden Bauern kassiert und sich rasch über das Brett bewegt. »Sie brauchen uns nur die Magie und die Kontrolle über das Magische Reich zu überlassen und Ihrem Bruder wird nichts geschehen, das versichere ich Ihnen. Tatsächlich wird er ein großer Mann sein. Es wird gut für ihn gesorgt werden. Wie für Sie alle. Ja, ich bin sicher, Lady Denby würde einen Ball zu Ihrem Debüt geben, der alle anderen Bälle in den Schatten stellt. Die Königin selbst würde ihn besuchen.«

»Glauben Sie, ich bin gekommen, um über Bälle zu reden? Meinen Sie, ich bin ein Kind, das man mit einem neuen Pony herumkriegen kann? Haben Sie keine Ehre im Leib, Sir?« Ich hole tief Luft. »Die Rakschana sollten das Magische Reich und den Orden beschützen. Das war eine ehrenvolle Aufgabe. Jetzt bekämpfen Sie uns. Sie wollen mich einschüchtern und versuchen, meinen Bruder zu korrumpieren. Was ist aus Ihnen geworden?« Lord Denby stößt den Turm seines imaginären Gegners um und bringt seinen Läufer in Stellung. »Die Zeiten haben sich geändert, Miss Doyle. Die Tage, als ein Adliger als Patron für das Wohl aller sorgte, die sein Land bestellten, sind vorbei. Auch die Rakschana müssen sich anpassen – sie müssen allmählich lernen, den ritterlichen Händedruck der Bruderschaft gegen die unnachgiebige Faust der Industrie zu vertauschen. Können Sie sich vorstellen, wie weit unsere Macht reichen würde, wenn wir eine Zauberkraft wie die Ihre zu unserer Verfügung hätten? Denken Sie wie eine Engländerin, Miss Doyle! Was könnte diese Kraft für das britische Weltreich, für die zukünftigen Söhne Englands bewirken?«

»Sie vergessen: Nicht alle von uns sind Engländer und England hat nicht nur Söhne. Was ist mit den Töchtern?«, sage ich und schmuggle mich langsam in diese Schachpartie ein. Ich bewege einen Bauern vorwärts und nehme unversehens Lord Denbys Läufer. »Was ist mit Amar und Kartik und anderen wie ihnen? Was ist mit meinem Geschlecht – oder mit Männern vom Stand Fowlsons? Wird jemand von uns an Ihrem Tisch sitzen?«

»Einige regieren, andere sind zu Untertanen bestimmt.« Sein Springer nimmt meine Königin und bringt meinen König in Gefahr. »Was meinen Sie, Miss Doyle? Sie könnten alles haben, was Sie nur möchten. Die Verehrer, die Ihnen gefallen – vielleicht meinen Sohn.«

Eiseskälte überläuft mich. »Haben Sie dafür gesorgt, dass Simon und ich uns begegnen? War das alles Teil Ihres Plans?«

»Nennen wir es einen glücklichen Zufall.« Lord Denby greift meinen König an. »Schachmatt, meine Liebe. Es ist Zeit, dass ich zu meinem Tisch und Sie zum Ball zurückkehren.« Er drückt seine Zigarre aus. Der widerliche Rauch hängt noch im Raum, als er zur Tür geht. »Überlegen Sie sich unser Angebot. Wir machen es Ihnen zum letzten Mal. Ich bin sicher, Sie werden tun, was unserem Interesse am besten dient – und Ihrem.«

Ich möchte ihm einen glimmenden Zigarrenstumpen nachwerfen. Ich möchte schreien. Ich drücke die Finger auf meine Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Es war unsagbar dumm von mir, die Reichweite der Rakschana so zu unterschätzen – und Simon Middleton zu vertrauen. Er hat sich nie etwas aus mir gemacht. Er hat mit mir gespielt wie mit einem Bauern und ich war ein williges Opfer.

»Miss Doyle!« Mrs Tuttle eilt mir entgegen, als ich den Ballsaal erreiche. »Miss Doyle, Sie dürfen nicht mehr so davonlaufen. Es gehört sich nicht. Es ist meine Pflicht …«

»Ach, halten Sie doch den Mund«, fauche ich.

Bevor sie protestieren kann, spinne ich meinen Zauberfaden. »Sie sind durstig, Mrs Tuttle. Durstiger, als Sie je in Ihrem Leben gewesen sind. Stillen Sie Ihren Durst mit Limonade und lassen Sie mich in Frieden.«

»Ich hätte jetzt gern ein Glas Limonade«, sagt sie und fasst sich mit einer Hand an die Kehle. »Du meine Güte, ich bin am Verdursten. Ich muss unbedingt etwas zu trinken haben.«

Ich lasse sie stehen und schlüpfe hinter eine Säule, um von dort das Ballgeschehen zu beobachten. Ich bin allein, voller Magie und Hass, die sich zu einem neuen, mächtigen Gespann verbinden. In der Nähe schwatzt Lady Denby mit Lady Markham und einigen anderen wichtigen Damen der Gesellschaft.

»Ich habe sie in diesen paar Wochen so ins Herz geschlossen, als wäre sie meine eigene Tochter«, verkündet Lady Denby.

»Sie werden ein glänzendes Paar abgeben«, stimmt eine andere Dame zu.

Lady Denby nickt. »Simon hat in solchen Dingen nicht immer ein gutes Urteil bewiesen. Aber Miss Fairchild ist ein mustergültiges Beispiel eines jungen Mädchens – wohlerzogen, liebenswürdig, von makellosem Ruf und hoch angesehenem Stand.«

Eine üppige, perlen- und juwelenbehängte alte Dame verbirgt sich hinter ihrem Fächer. »Lady Markham, haben Sie sich wegen Miss Worthington entschieden?«

»Allerdings«, erwidert Lady Markham. »Ich habe heute Abend mit dem Admiral gesprochen und er ist einverstanden: Miss Worthington soll bei mir wohnen. Ich werde sie während ihrer Saison unter meine Obhut nehmen; ihre Mutter wird dabei nichts mitzureden haben.«

Lady Denby tätschelt Lady Markhams Hand. »Recht so. Mrs Worthington muss für ihren Leichtsinn bezahlen. Ihre Tochter ist ein viel zu freches und aufbrausendes Ding. Sie werden das Mädchen unter Ihre Fittiche nehmen und sie zu einer jungen Dame formen.«

»In der Tat«, sagt Lady Markham. »Ich empfinde es als meine Pflicht, da ihre Mutter bei der Erziehung vollkommen versagt hat.« Die Frauen werfen Blicke zu Mrs Worthington, die mit einem Mann tanzt, der halb so alt ist wie sie. »Und das ansehnliche Erbe der jungen Miss Worthington nicht zu vergessen. Wenn es ihr zugesprochen wird, wäre sie für jeden Mann eine erstrebenswerte Partie.«

»Vielleicht für Ihren Horace«, gurrt Lady Denby.

»Vielleicht«, sagt Lady Markham.

Ich stelle mir Felicity als verhätschelte Debütantin in Lady Markhams Wohnzimmer vor statt als feurigen Freigeist in einer Pariser Dachstube, wovon sie träumt. Das darf nicht passieren, nie und nimmer. Ich werde etwas dagegen unternehmen, wenn es sein muss.

»Ah, da ist ja unsere Miss Fairchild«, verkündet Lady Denby.

Simon übergibt Miss Fairchild seiner Mutter, die sich liebevoll um das Mädchen bemüht, während er seiner Mutter höflichen Respekt erweist. Ich bin von einem brennenden, neidvollen Verlangen erfüllt.

Reißende Raubtiere, das ist es, was sie sind. Anns Worte fallen mir wieder ein: Aber sie sind es, die den Ton angeben. Nicht heute Abend, dafür werde ich sorgen, denn die Zauberkraft des Magischen Reichs lodert in mir und ich werde sie nicht zähmen. Legt euch nicht mit mir an, Herrschaften. Ich werde gewinnen.

Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, hat Simon sich von seiner Mutter, Miss Fairchild und all den anderen Speichelleckern losgerissen. Sein Kinn ist entschlossen, seine Stimme rau, als er einfach sagt: »Tanz mit mir, Gemma.«

Er hat mich geduzt und das ist für alle, die es gehört haben, ein Schock. Mrs Tuttle sieht aus, als würde sie gleich ihre Limonade verschütten. Für einen Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich sollte Gewissensbisse haben. Stattdessen erfasst mich eine Welle schrecklicher, prickelnder Befriedigung. Ich habe gewonnen. Und Gewinnen, wie unrechtmäßig es auch erkauft sein mag, ist aufregend.

»Tanz mit mir, Gemma«, sagt er noch einmal, lauter und drängender. Es erregt die Aufmerksamkeit der anderen Gäste. Viele der Tanzpaare haben ihre Schritte verlangsamt, um die Szene zu beobachten. Es wird geflüstert. Lady Denby hat ungläubig den Mund geöffnet und nicht wieder zugeklappt.

Nun ist auch Lord Denby aufmerksam geworden. Seine Augen begegnen meinen und erkennen meine Absicht. Sie wollen meinen Bruder korrumpieren, ja? Eher sehe ich Sie in der Hölle, Sir.

Das Lächeln, das ich Simon schenke, gleicht dem eines gefallenen Engels. Er packt mein Handgelenk und zerrt mich halb zur Tanzfläche. Grob zieht er mich in Walzerposition. Die Musik beginnt aufs Neue und Simon und ich wirbeln über den Tanzboden. Zwischen uns ist eine Hitze, die von den anderen nicht unbemerkt bleibt. Bei jedem Druck seiner Hand gegen mein Kreuz fühlt es sich an, als möchte er mich lebendig fressen. Ich habe diese Leidenschaft in ihm geweckt. Sollen nur alle sehen, welche Macht ich über ihn habe. Sollen nur alle denken, ich sei eine Schönheit, rasend begehrt von einem bedeutenden Mann. Und sollen Lord und Lady Denby nur vor Scham im Boden versinken. Ein Lächeln der Befriedigung spielt um meine Lippen, ich kann nichts dagegen tun. Ich führe das Kommando und es ist berauschend. Lord Denby steht am Rand der Tanzfläche und beobachtet uns. Er schäumt vor Wut. Es war ein Fehler von ihm, mich zu unterschätzen.

Ein alter Herr tippt Simon auf die Schulter, um einzuschreiten, aber Simon drückt sich enger an mich. Wir tanzen weiter und ziehen immer mehr Blicke auf uns, und als es genug ist – als ich beschließe, dass es genug ist –, bringe ich es zu Ende. Zeit aufzuhören, Simon. Sag Gute Nacht, süßer Prinz.

Blinzelnd kommt Simon wieder zu sich, höchst überrascht, mich in seinen Armen zu finden.

»Danke für den Tanz, Mr Middleton«, sage ich und löse mich von ihm.

Ein leicht verwirrtes Lächeln erscheint auf seinen Lippen. »Es war mir ein Vergnügen.« Sofort sucht er in der Menge nach Lucy.

Klatsch verbreitet sich wie eine ansteckende Krankheit. Als ich die Tanzfläche verlasse, höre ich in meinem Rücken das Getuschel, spüre die Blicke, die mir hinter Fächern folgen.

Die Magie stürzt wie eine Welle über mich herein. Ich werde von ihr überrollt. Sie packt mich wie ein Fieber, das sich auf alle überträgt, die mit mir in Kontakt kommen. Verborgene Wünsche werden frei. Ein Herr bietet mir einen hilfreichen Arm und diese Geste wird ihm zum Verhängnis. Er wendet sich einem älteren Herrn zu, der in der Nähe sitzt. »Was haben Sie vorhin zu mir gesagt, Thompson? Dafür werden Sie mir Rechenschaft ablegen.«

Ein gespannter Zug tritt um den Mund des Alteren. »Fenton, sind Sie verrückt geworden?«

Ruhig, ruhig, denke ich. Vergesst es. Zurück zu eurem Brandy und euren Zigarren.

Ich laufe in eine ältliche Anstandsdame mit ihrem Schützling hinein und ich fühle ihren Herzenskummer. Die schmerzlichen Gefühle, die sie für ihren verheirateten Arbeitgeber, einen Mr Beadle, hegt.

»Er weiß nichts davon«, bricht es plötzlich aus ihr heraus. »Ich muss es ihm sagen. Ich muss ihm sofort meine zärtliche Liebe gestehen.« Ich kann gerade noch nach ihren Händen fassen, um diesen verzweifelten Wunsch zu verdrängen und durch einen anderen zu ersetzen.

Prickelnde Schweißtropfen treten mir auf die Stirn. Die Magie brennt in meinen Adern.

Lord Denby schleicht sich an mich heran. Sein Gesicht ist gerötet, seine Augen glänzen. »Sie spielen ein gefährliches Spiel, Miss Doyle.«

»Hat sich das noch nicht bis zu Ihnen herumgesprochen, Sir? Ich bin ein gefährliches Mädchen.«

»Sie haben keine Ahnung, was wir mit Ihnen tun können«, sagt er ruhig, aber seine Augen schießen Blitze.

Ich flüstere leise in sein Ohr: »Nein, Sir. Sie haben keine Ahnung, was ich mit Ihnen tun kann.«

Furcht flackert kurz in seinen Augen auf und ich weiß, dass ich diese Runde gewonnen habe.

»Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe oder Sie werden die Folgen zu tragen haben«, warne ich.

»Da bist du ja! Endlich habe ich dich gefunden!«, ruft Felicity aufgeregt. »Guten Abend, Lord Denby. Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn ich mir Miss Doyle ausborge?«

Lord Denby lächelt breit. »Nicht im Geringsten, meine Liebe.«

»Wo bist du gewesen? Du musst mich retten«, sagt Felicity energisch und hakt sich fest bei mir unter.

»Wovor?«

»Vor Horace Markham«, sagt sie und lacht. Ich werfe einen Blick über ihre Schulter und sehe Horace, der sie verzweifelt sucht. »Die Art, wie er mich anhimmelt«, sagt sie und schneidet ein Gesicht. »Grässlich.«

Ich lache, froh, in Felicitys Welt zu sein, wo alles, von einem liebeskranken Verehrer bis zum Anprobieren eines Hutes, ein bühnenreifes Drama ist. »Dein Fehler ist, dass du so bezaubernd bist«, necke ich.

»Na ja«, sagt sie und wirft den Kopf zurück, »das ist nun mal nicht zu ändern, oder?«

Felicity und ich suchen Zuflucht auf einem Balkon, der die Straße überblickt. Die Kutscher haben die Köpfe zusammengesteckt und leisten einander Gesellschaft. Einer erzählt einen Witz und an der Art, wie die anderen lachen, erkenne ich, dass es ein schlimmer Witz ist. Sie brechen in schallendes Gelächter aus, verstummen aber rasch beim Anblick eines der Gäste. Hüte werden aufgesetzt und Rücken gestrafft, als Lucy Fairchild auf ihre Kutsche zusteuert. Simon hält mit ihr Schritt, aber Lucys Anstandsdame wimmelt ihn ab. Der Kutscher hilft den Frauen beim Einsteigen, der Wagen fährt an und lässt Simon zurück.

»Wie köstlich!«, ruft Felicity aus. »Ein Skandal! Auf meinem Ball, sans moil Ich bin nicht einmal involviert. Erstaunlich!«

»Ja, erstaunlicherweise gibt es Ereignisse, die überhaupt nichts mit dir zu tun haben, nicht wahr?«, scherze ich.

Felicity stemmt die Hände in die Hüften und ein spöttisches Lächeln huscht über ihre Lippen. »Ich wollte dir eine Limonade anbieten, aber jetzt trinke ich sie selbst. Du kannst zusehen, wie sie mir schmeckt, und leiden.«

Sie schlendert davon und ich lasse die kühle Nachtluft über mich streichen. Unten auf der Straße tröstet Lord Denby seinen Sohn. Sie tauschen Worte, die ich nicht hören kann, und schließlich kehren er und Simon zum Ball zurück.

Im Vorbeigehen bemerkt mich Lord Denby auf dem Balkon. Er durchbohrt mich mit seinen Blicken und ich werfe ihm eine Kusshand zu.

*

Den Tag nach dem Ball, einen Sonntag, verbringe ich zu Hause, bevor ich nach Spence zurückkehre. Die Näherin ist gekommen, um mir das Kleid für mein Debüt anzuprobieren und kleine Änderungen vorzunehmen. Ich stehe in meinem halb fertigen Kleid vor dem Spiegel, während sie hier noch etwas wegnimmt, dort noch eine Spur zugibt. Großmama macht sich wichtig, erteilt der Frau Ratschläge und ereifert sich über jedes Detail. Ich schenke ihr keine Beachtung, denn das Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt, fängt an, eine Frau zu werden. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Ich weiß nur, dass sie da ist, sich aus mir herausschält wie eine Skulptur aus dem Marmor, und ich bin begierig, sie kennenzulernen.

»Du siehst aus wie deine Mutter. Ich bin sicher, sie hätte das gerne erlebt«, sagt Großmama und der Moment ist völlig ruiniert.

Du wirst meine Mutter nie wieder erwähnen, denke ich und schließe meine Augen. Sag mir, wie schön ich aussehe. Sag mir, wie glücklich wir sind. Sag mir, dass ich jemand Besonderes sein werde und dass nur wolkenlose Tage vor uns liegen.

Als ich die Augen öffne, lächelt Großmama meinem Spiegelbild zu. »Du meine Güte, bist du nicht ein Traum in diesem Kleid?«

»Ein Bild der Schönheit«, stimmt die Näherin ein. Na also. So ist’s schon besser.

*

»Großmama erzählt, dass du zu deinem Debüt das schönste Mädchen in London sein wirst«, sagt Vater, während ich ihm in seinem Arbeitszimmer Gesellschaft leiste. Er stöbert in Schubladen, als suche er nach etwas.

»Kann ich helfen?«, frage ich.

»Hmmm? Oh. Nein, Kleines«, antwortet er zerstreut. »Ich mache nur ein wenig Ordnung. Aber ich muss dir eine unangenehme Frage stellen.«

»Um was geht es?« Ich nehme Platz und Vater auch.

»Ich habe gehört, Simon Middleton hat sich gestern Abend auf dem Ball ungebührlich vertraut dir gegenüber benommen.« Vaters Augen glitzern.

»Das hat er nicht«, sage ich mit unterdrücktem Lachen.

»Ich höre, Miss Fairchild hat ihn abgewiesen«, fügt Vater hinzu und es gibt mir einen kleinen Stich, ein Anflug von Reue, die ich wegschiebe.

»Vielleicht war Miss Fairchild nicht die Richtige für ihn.«

»Trotzdem …« Das Weitere geht in einem Hustenanfall unter. Vaters Gesicht ist rot und er ringt eine Minute lang nach Luft, bevor sich sein Atem beruhigt. »Die Londoner Luft. Zu viel Ruß.«

»Ja«, sage ich beklommen. Er sieht müde aus. Ungesund. Und plötzlich habe ich den sehnlichen Wunsch, ganz nah bei ihm zu sein, neben ihm zu sitzen wie ein Kind und mir von ihm über den Kopf streichen zu lassen.

»Du sagst, Simon Middleton hat sich nichts zuschulden kommen lassen?«, dringt Vater in mich.

»Nein, nichts«, sage ich und meine es ehrlich.

»Dann ist’s ja gut.« Vater nickt. Er wendet sich wieder seiner Sucherei zu und ich weiß, dass ich entlassen bin.

»Vater, sollen wir eine Partie Schach spielen?«

Er durchstöbert Papiere und schaut hinter Bücher. »Ich habe jetzt keinen Kopf für Schach. Warum fragst du nicht deine Großmutter, ob sie einen Spaziergang machen will?«

»Ich könnte dir helfen, wenn ich weiß, wonach du suchst. Ich könnte …«

Er winkt ab. »Nein, Kleines. Ich brauche meine Ruhe.«

»Aber ich fahre morgen«, klage ich. »Und dann ist meine Saison. Und dann …«

»Wir wollen doch jetzt keine Tränen vergießen, oder?«, tadelt Vater. Er zieht eine Schublade heraus und ich sehe die braune Flasche darin liegen. Ich weiß sofort, dass es Laudanum ist. Mein Herz wird schwer.

Ich nehme Vaters Hand und fühle seine Traurigkeit in mich eindringen. »Wir wollen doch davon loskommen, nicht?«, sage ich laut.

Bevor Vater antworten kann, träufle ich ihm ein Glücksgefühl ein wie ein Opiat, bis sich seine zerfurchte Stirn glättet und er lächelt.

»Ah, da ist es ja, was ich gesucht habe. Gemma, Kleines, würdest du das bitte in den Müll werfen?«, sagt er.

Tränen brennen in meinen Augen. »Ja, Vater. Natürlich. Sofort.«

Ich küsse ihn auf die Wange und er schlingt seine Arme um mich und zum allerersten Mal lasse ich vor ihm los.

Beim Abendessen ist Tom wie ein werdender Vater, dem die Nerven durchgehen. Während der ganzen Mahlzeit zuckt sein Bein und einmal tritt er mich zufällig.

»Könntest du bitte stillhalten?«, frage ich und reibe mein Schienbein.

Vater schaut von seinem Teller auf. »Thomas, was ist los?«

Mein Bruder stochert in seinem Essen herum, ohne einen Bissen zu sich zu nehmen. »Ich hätte heute Abend in meinen Herrenklub gehen sollen, aber ich habe nichts von ihnen gehört.«

»Kein Wort?«, frage ich und lasse mir meinen Sieg zusammen mit den Kartoffeln auf der Zunge zergehen.

»Es ist, als existiere ich nicht mehr«, murrt Tom.

»Gekränkt sein ist nicht sehr sportlich«, sagt Vater zwischen zwei Bissen von seiner Wachtel und ich bin froh, ihn essen zu sehen.

»Ja, man muss Haltung bewahren«, predigt Großmama.

»Vielleicht solltest du heute Abend zur Hippokrates-Gesellschaft gehen«, schlage ich vor. »Du weißt, dass du immer noch eine Einladung hast, dort beizutreten.«

»Eine ausgezeichnete Idee«, sagt Vater beifällig.

Tom schiebt die Erbsen an den Rand seines Tellers. »Vielleicht werde ich das tun«, sagt er. »Und sei’s nur, um ein wenig herauszukommen.«

Ich bin so beglückt über diese Nachricht, dass ich zum Nachtisch zwei Stück Kuchen verdrücke. Großmama schimpft und meint, wenn ich meinen Appetit nicht zügeln könne, werde die Näherin wieder gebraucht. Doch ich lache und stecke sie damit an und bald lachen wir alle, während die Dienstboten uns ansehen, als hätten wir plötzlich den Verstand verloren. Aber es macht mir nichts aus. Ich habe, was ich will. Ich habe es und ich werde es mir nicht wegnehmen lassen. Weder von Lord Denby noch von jemand anders.