36. Kapitel

Abwesenheit ist eine merkwürdige Sache. Wenn Freunde nicht mehr da sind, scheint die Lücke, die sie hinterlassen, immer größer zu werden, bis nur noch die Leere fühlbar ist. Nun, wo Ann uns verlassen hat, ist das Zimmer zu groß. Was immer ich auch versuche, ich kann den vorhandenen Raum nicht ausfüllen. Ich stelle fest, dass ich Anns Schnarchen vermisse, das mir so lästig war; ich vermisse ihren schwermütigen Charakter, ihre albernen, romantischen Ideen und ihre Vorliebe fürs Makabere. Wie oft im Laufe des Tages denke ich, das muss ich gleich Ann erzählen: kleine alltägliche Dinge, eine treffende Bemerkung über Cecily oder eine Beschwerde über den Porridge – beide gleich unerträglich –, nur um festzustellen, dass Ann nicht da ist, um sich darüber zu amüsieren. Dann überkommt mich ein Moment tiefer Traurigkeit, die ich nur überwinden kann, indem ich meinem Zorn freien Lauf lasse.

Sie selbst hat beschlossen, uns zu verlassen, sage ich mir, während ich die Nadel durch meine Stickerei ziehe, Hymnen singe und meinen Hofknicks für die Königin übe. Aber wenn sie selbst schuld ist, warum nehme ich es mir so zu Herzen? Warum habe ich das Gefühl, für ihre Entscheidung mitverantwortlich zu sein?

Ich bin froh, dass Miss McChennmine uns zu sportlicher Betätigung nach draußen ruft. Einige Mädchen spielen Rasentennis. Ein paar Unerschrockene wagen sich ans Fechten, unter Anleitung von Felicity, der eine wilde Verwegenheit aus den Augen leuchtet. Eine kleine Gruppe macht sich für Kricket stark, »wie an den Colleges für die Jungen!«, aber da wir weder Kricketschläger noch Kricketbälle haben, erübrigt sich die Debatte und murrend beginnen sie ein Krocketspiel.

Ich bin für Hockey. Über das Spielfeld zu rennen, den Stock schlagbereit, mit dem gebogenen Ende den Ball zu treffen, diesen erfolgreich einer Mannschaftskameradin zuzuspielen, hemmungslos zu brüllen, dabei immer den Wind im Gesicht und die Sonne auf dem Rücken zu spüren, weckt die Lebensgeister. Ein bisschen Hockey wird mir guttun. Ich stelle fest, dass ich gerne mit einem Stock gegen etwas schlagen möchte.

Miss McChennmine ruft uns vom Rasen aus schonungslos zu: »So werden Sie es nie schaffen! Nicht so eigensinnig, Miss Temple, geben Sie Ihrer Kameradin eine Vorlage … Lassen Sie den Ball nicht aus den Augen! Sie müssen zusammenarbeiten, meine Damen, auf ein gemeinsames Ziel hin! Denken Sie daran: Grazie, Charme, Schönheit!«

Das kann sie den anderen sagen, aber nicht mir, ich habe genug davon. Ich habe Ann eine Vorlage gegeben, sie hat sie nicht genutzt. Als der Ball wieder im Spiel ist, rennen Cecily und ich gleichzeitig auf ihn zu. Mein blöder Rock verwickelt sich ein wenig an meinen Beinen – was gäbe ich jetzt nicht für die Freiheit von Hosen! – und Cecily nützt den Vorteil. Aber ich gebe nicht auf. Ich will den Ball haben. Noch wichtiger, ich will nicht, dass sie ihn hat, sonst wird sie eine Woche lang damit angeben.

»Mein Ball!«, rufe ich.

»Nein, nein – ich habe ihn!«, schreit sie.

Unsere Schläger prallen aufeinander. Ein Mädchen aus der gegnerischen Mannschaft, ein pummeliges Ding mit rötlichem Haar, ergreift die Chance. Sie fährt mit ihrem Schläger zwischen uns, schnappt sich den Ball und rennt auf das Tor zu.

»Ich habe dir gesagt, ich habe ihn, Gemma Doyle«, sagt Cecily mit einem gezwungenen Lächeln.

»Offensichtlich hattest du ihn nicht«, erwidere ich mit einem ebenso falschen Lächeln.

»Es war mein Ball.«

»Du irrst dich!«, beharre ich.

Miss McChennmine marschiert aufs Spielfeld und trennt uns. »Meine Damen! Was Sie hier an den Tag legen, ist schwerlich als Sportsgeist zu bezeichnen. Genug jetzt, oder ich werde Ihnen beiden Punkte für schlechtes Betragen geben.«

Mit grimmiger Entschlossenheit raffe ich mich wieder auf. Ich möchte Cecily – möchte ihnen allen – zeigen, wozu ich fähig bin. Kaum habe ich das gedacht, als die Magie in mir in Schwung kommt und ich nichts mehr sehe außer dem Ball. Mit kühnem Mut, furchtlos wie Richard Löwenherz, stürme ich voran.

Doch Cecily ist schnell. Sie ist ganz nahe am Ball. »Ich habe …« Ich renne mit voller Wucht gegen sie an, werfe sie nieder. Sie liegt hingestreckt im Gras und fängt an zu jammern. Miss McChennmine ist im Handumdrehen da.

»M-Miss M-McChennmine!«, plärrt Cecily. »Sie hat mich absichtlich umgerannt!«

»Das habe ich nicht!«, protestiere ich, aber meine roten Wangen strafen mich Lügen.

»Doch, hast du!«, wimmert Cecily.

»Du bist kindisch.« Ich schiebe ihr die Schuld wieder zu.

»Das reicht jetzt. Miss Temple, es gehört zum Sportsgeist, einstecken zu können.« Cecily klappt den Mund auf und ich grinse hämisch. »Und Sie, Miss Doyle, sind viel zu hitzig, wie mir scheint. Kühlen Sie Ihr Temperament abseits des Spielfelds, bitte.«

»Aber ich …«

»Ihre Rücksichtslosigkeit könnte noch mehr Schaden anrichten, Miss Doyle«, sagt Miss McChennmine und ich weiß, dass sie nicht nur von dem Spiel spricht.

Meine Wangen glühen. Die anderen Mädchen kichern. »Ich bin nicht rücksichtslos.«

»Ich will nichts mehr hören. Verlassen Sie das Feld, bis Sie Ihre Beherrschung wiedergewonnen haben.«

Gekränkt und wütend gehe ich an den feixenden Schülerinnen und grinsenden Arbeitern vorbei geradewegs auf die Schule zu und es ist mir herzlich egal, dass ich jeden Sportsgeist vermissen lasse.

Verdammte McChennmine. Wenn sie wüsste, was ich weiß – dass Eugenia Spence in der Winterwelt lebt und mir mehr vertraut als ihr –, dann würde sie vielleicht anders mit mir reden. Richtig, ich habe wichtigere Dinge zu tun. Ich krieche in Felicitys Zelt, wo ich unser Exemplar der Geschichte der Geheimbünde gelassen habe. Schließlich lümmle ich mich auf die Polsterbank im Marmorsaal und setze die Lektüre des Buches fort, in der Hoffnung, einen Hinweis auf das Versteck des Dolchs zu finden. Seufzend mache ich mich zum x-ten Mal daran, Seite für Seite zu durchkämmen, obwohl 502 Seiten viel zu viel sind. Ich hasse Autoren, die so dicke Bücher schreiben.

Nach der Titelseite kommt ein Gedicht. »Die Rose der Schlacht« von Mr William Butler Yeats.

»Rose aller Rosen, Rose der ganzen Welt!

Nun bist auch du an jenen Strand bestellt,

Wo trübe Flut den Kai der Sorgen überspült, und hörest bang Die Glocke, die uns ruft; den süßen, fernen Klang.«

Es scheint ein schönes Gedicht zu sein, soweit ich es beurteilen kann, denn ich bekomme davon keine Zahnschmerzen. Und ich beschließe, dieses Gedicht auf unserem Maskenball vorzutragen.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine der Illustrationen, die das Buch schmücken. Ich muss ein halbes Dutzend Mal einen Blick darauf geworfen haben, ohne sie wirklich wahrzunehmen – eine einfache Tuschezeichnung eines Zimmers mit einem Tisch und einer einsamen Lampe, an der Wand ein Bild von Booten. Mit wachsendem Interesse stelle ich fest, dass es dem Zimmer gleicht, das ich in meinen Visionen gesehen habe. Könnte es dasselbe sein? Und wenn ja, wo befindet es sich? Hier in Spence? Und könnte es dasjenige sein, wo Wilhelmina den Dolch an sich genommen hat? Ich fahre mit dem Finger über die Bildunterschrift: Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden.

Rasch durchblättere ich das Buch auf der Suche nach weiteren Illustrationen. Ich stoße wieder auf den Turm und frage mich, ob es der Ostflügelturm sein könnte, so wie er einst war. Ein paar Seiten weiter ist eine Zeichnung eines schielenden Wasserspeiers, unter der steht: Wächter der Nacht. Ein anderes Bild zeigt einen fröhlichen Zauberer – Dr. Van Ripple zum Verwechseln ähnlich –, der ein Ei in eine Schachtel legt, und auf der nächsten Seite sieht man, dass das Ei verschwunden ist. Der Titel lautet: Das verborgene Objekt.

Die Zeichnungen haben nichts mit dem Text zu tun, soviel ich sehe. Es ist, als seien sie vollkommen eigenständig, eine Art Entschlüsselungscode. Aber wofür? Für wen?

Miss McChennmine kommt herein. Sie schäumt vor Wut. »Miss Doyle, ich dulde keinen so erschreckenden Mangel an Disziplin und Sportsgeist. Wenn Sie keine Lust haben, sich an dem Spiel zu beteiligen, können Sie sich an den Rand des Spielfelds setzen und Ihre Schulfreundinnen anfeuern.«

»Sie sind nicht meine Freundinnen«, sage ich und blättere um.

»Sie könnten es sein, wenn Sie nicht so verzweifelt in die Vorstellung verliebt wären, mutterseelenallein auf der Welt zu sein.«

Es ist jammerschade, dass Miss McChennmine nicht unter die Scharfschützen gegangen ist, denn sie trifft todsicher ins Schwarze.

»Das Spiel hat mich gelangweilt«, lüge ich.

»Nein, die Regeln haben Sie gelangweilt. Das scheint Ihnen zur Gewohnheit geworden zu sein.«

Ich blättere wieder eine Seite um.

Miss McChennmine tritt näher. »Was lesen Sie da, das so fesselnd ist, dass Sie es nicht für nötig halten, mich anzusehen?«

»Eine Geschichte der Geheimbünde von Wilhelmina Wyatt.« Ich starre sie an. »Kennen Sie es?«

Ihr Gesicht wird eine Spur blasser. »Nein. Nicht dass ich wüsste.«

»Und dennoch haben Sie zu Weihnachten ein Exemplar davon in der Buchhandlung Die Goldene Dämmerung gekauft.«

»Haben Sie mir nachspioniert, Miss Doyle?«

»Warum nicht? Sie spionieren mir nach.«

»Ich passe auf Sie auf, Miss Doyle«, korrigiert sie mich und für diese Lüge hasse ich sie am meisten.

»Ich weiß, dass Sie Wilhelmina Wyatt gekannt haben«, sage ich.

Miss McChennmine streift ihre Handschuhe ab und wirft sie auf einen Tisch. »Soll ich Ihnen sagen, was ich über Wilhelmina Wyatt weiß? Sie war eine Schande für den Orden und für das Andenken an Eugenia Spence. Sie war eine Lügnerin. Eine Diebin. Eine Drogensüchtige. Ich habe versucht, ihr zu helfen, und dann« – sie klopft mit dem Finger auf das Buch – »schrieb sie diese Lügen, um uns bloßzustellen – für Geld. Alles für Geld. Wissen Sie, dass sie uns mit dem Buch erpressen wollte, damit wir von unserem Plan, den Ostflügel zu restaurieren, abließen?«

»Warum hätte sie das tun sollen?«

»Weil sie gehässig war und keinen Funken Ehre im Leib hatte. Und ihr Buch, Miss Doyle, ist nichts als dummes Geschwätz. Nein, es ist gefährlicher als das, denn es beinhaltet Gemeinheiten, Entstellungen der Wahrheit, geschrieben von einer Verräterin.«

Sie schlägt das Buch mit einem lauten Knall zu, reißt es mir aus der Hand und marschiert damit in die Küche. Ich stürze ihr nach und hole sie ein, als sie gerade die Ofentür öffnet.

»Was tun Sie da?«, frage ich entsetzt.

»Ihm ein ordentliches Begräbnis bereiten.«

»Warten Sie …«

Bevor ich sie zurückhalten kann, wirft Miss McChennmine die Geschichte der Geheimbünde in den Ofen und schließt die Tür. Für einen Moment bin ich versucht, ihr zu sagen, was ich weiß – dass ich Eugenia Spence gesehen habe und dass dieses Buch sie retten kann –, aber Eugenia hat mir gesagt, ich solle vorsichtig sein, und nach all meinen Erfahrungen ist Miss McChennmine nicht zu trauen. Ich kann nur danebenstehen, während unsere größte Hoffnung verbrennt.

»Das Buch hat uns vier Schillinge gekostet«, krächze ich.

»Das soll Ihnen eine Lehre sein, in Zukunft sorgfältiger mit Ihrem Geld umzugehen.« Miss McChennmine seufzt. »Wirklich, Miss Doyle, Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe.«

Ich könnte bemerken, dass sie damit nicht allein ist, aber mich beschäftigt noch etwas anderes.

»Sie haben gesagt war«, sinniere ich.

»Was?«

»Sie haben gesagt, Wilhlemina Wyatt war eine Drogensüchtige und eine Lügnerin, eine Verräterin. Sind Sie der Meinung, dass sie tot ist?«, frage ich, sie auf die Probe stellend.

Miss McChennmine wird blass. »Ich weiß nicht, ob sie am Leben ist oder nicht, aber angesichts ihres Zustands kann ich mir nicht vorstellen, dass sie noch lebt. Solch ein Leben fordert seinen Tribut«, sagt sie sichtlich nervös. »Wenn Sie in Zukunft etwas über den Orden wissen wollen, dann fragen Sie mich.«

»Damit Sie mir sagen können, was ich hören soll?«, sage ich herausfordernd.

»Miss Doyle, Sie hören nur, was Sie hören wollen, ob es wahr ist oder nicht. Das hat nicht das Geringste mit mir zu tun.« Sie reibt sich ihre Schläfen. »Jetzt gesellen Sie sich zu den anderen. Sie sind entlassen.«

Ich stürme aus der Küche und wünsche Miss McChennmine lautlos die Pest an den Hals. Die Mädchen strömen von draußen herein. Sie sind erhitzt und riechen ein bisschen streng, aber sie sind vergnügt und aufgekratzt, nachdem sie sich in einem sportlichen Wettstreit ausgetobt haben.

Als Felicity mich sieht, geht sie in Fechtposition und schneidet mit dem Florett Fechthiebe in die Luft. »Schurke! Du sollst dem König für deinen Verrat Rede und Antwort stehen!«

Vorsichtig schiebe ich die lange dünne Klinge beiseite. »Auf ein Wort, d’Artagnan.«

Sie verbeugt sich tief. »Gehen Sie voraus, Kardinal Richelieu.«

Wir schleichen uns in das kleine Empfangszimmer im Erdgeschoss. Es ist der Raum, wo Pippa ihrem ehemals Zukünftigen, Mr Bumble, ihre legendäre Abfuhr erteilt hat, bevor sie für immer im Magischen Reich gelandet ist. Auch den Verlust von Pippa empfinde ich heute besonders schmerzlich.

»Was zum Teufel hast du Cecily getan?« Felicity lässt sich in einen Sessel plumpsen und hängt ihre Beine höchst undamenhaft über die Armstütze. »Sie erklärt jedem, der es hören will, man sollte dich beim Morgengrauen hängen.«

»Wenn ich dann nie wieder ihre Stimme hören müsste, würde ich mit Vergnügen meinen Kopf in die Schlinge stecken. Aber ich muss dir etwas anderes sagen. Ich habe mir Wilhelmina Wyatts Buch noch einmal vorgenommen. Wir haben beim ersten Durchgang etwas Wichtiges übersehen. Die Zeichnungen. Ich glaube, sie sind verschlüsselte Hinweise.«

Felicity schneidet ein Gesicht. »Auf was?«

Ich seufze. »Ich weiß es nicht. Aber eine davon scheint den Turm des Ostflügels darzustellen. Und ganz vorne im Buch war ein Zimmer, das ich immer wieder in meinen Visionen sehe.«

»Du glaubst also, dieses Zimmer hat einmal zum Ostflügel gehört?«, fragt Felicity.

»Oh.« Ich stoße die Luft aus. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wenn ja, dann ist es längst verschwunden.«

»Na, dann sehn wir’s uns einmal an«, sagt Felicity.

»Das können wir nicht. Miss McChennmine hat das Buch in den Ofen geworfen«, erkläre ich.

Felicity reißt empört den Mund auf. »Wir haben vier Schillinge dafür bezahlt.«

»Ja, ich weiß.«

»Und das heutige Abendessen wird seltsam nach Buch schmecken.« Sie bohrt die Spitze ihres Floretts in den Fußboden und kratzt ein kleines F hinein.

»Da stimmt irgendetwas nicht«, sage ich, während ich mit langen Schritten im Zimmer auf und ab gehe und dabei an meinen Fingernägeln knabbere, eine Gewohnheit, die ich aufgeben sollte und werde. Morgen. »Ich traue Miss McChennmine nicht. Sie verbirgt etwas, davon bin ich überzeugt. Sie hat von Wilhelmina Wyatt in der Vergangenheitsform gesprochen. Was ist, wenn Miss McChennmine weiß, dass Wilhelmina tot ist? Und wenn das der Fall ist, wie kommt es, dass sie es weiß?«

»Dr. Van Ripple hat gesagt, Wilhelmina sei von einer Freundin verraten worden«, fügt Felicity hinzu. »Könnte das Miss McChennmine gewesen sein?«

Ich kaue an meinem Nagel, bis er bis auf die Haut abgenagt ist. Es tut weh und ich bedaure sofort, dass ich es getan habe. »Wir müssen noch einmal mit Dr. Van Ripple sprechen. Vielleicht weiß er etwas mehr darüber. Vielleicht weiß er, wo der Dolch versteckt ist. Was meinst du?«

Ein breites Grinsen geht über Felicitys Gesicht. Sie berührt mit der Florettspitze meine Schultern, als würde sie mich zum Ritter schlagen. »Alle für einen und einer für alle.« Plötzlich verändert sich ihr Gesichtsausdruck. »Warum, glaubst du, hat sie es getan?«

»Miss McChennmine oder Miss Wyatt?«, frage ich.

»Ann.« Felicity stützt sich auf den Griff ihres Floretts. »Die Freiheit war für sie zum Greifen nahe. Warum hat sie sich davon abgewendet?«

»Danach zu verlangen war eine Sache, sie zu ergreifen vielleicht eine andere.«

»Das ist lächerlich.« Mit einem spöttischen Lachen legt sie sich wieder in den Sessel zurück, einen Fuß auf dem Boden, den anderen über der Armlehne.

»Dann weiß ich es auch nicht«, sage ich ein bisschen gereizt.

»Ich werde dem Glück nicht den Rücken zukehren. Das garantiere ich dir.« Felicity sticht mit dem Florett in die Luft. »Gemma?«

»Ja?«, sage ich mit einem schweren Seufzer.

»Was wird mit Pippa geschehen? Als ich mit dem Baum eins war, sah ich …«

»Was hast du gesehen?«

»Ich sah sie lebendig und glücklich. Ich sah uns beide in Paris, an der Seine, der Fluss flimmerte wie ein Traum. Und sie lachte, ganz so wie früher. Wie hätte ich das sehen können, wenn … Denkst du, es könnte wahr sein? Dass sie zurückkommen könnte?«

Felicity dreht ihren Kopf zu mir und ich sehe die Hoffnung in ihren Augen. Ich möchte sagen, Ja, aber etwas tief in meinem Innern sagt Nein. Ich glaube nicht, dass es jemals so sein kann.

»Ich denke, es gibt gewisse Gesetze, die nicht zu brechen sind«, sage ich so schonend wie möglich, »wie sehr man es sich auch wünscht.«

Felicity zieht ihre Klinge durch die Luft. »Du denkst es, oder weißt du’s?«

»Ich weiß, dass ich auf der Stelle meine Mutter zurückbringen würde, wenn es möglich wäre.«

»Warum tust du’s dann nicht?«

»Weil«, sage ich und suche nach den richtigen Worten. »Ich weiß, dass sie tot ist. Genauso wie ich weiß, dass jene Zeit in Indien, als wir alle zusammen waren, für immer vorbei ist und ich sie nicht zurückbringen kann.«

»Aber wenn die Magie sich verändert – wenn alles sich verändert, vielleicht..« Sie bricht ab und ich versuche nicht, sie eines Besseren zu belehren. Manchmal genügt die Kraft von einem Vielleicht, um uns aufrecht zu halten, und die werde ich ihr nicht nehmen.

Ich höre Brigid im Flur falsch vor sich hin trällern und das bringt mich auf eine Idee. »Fee, wenn jemand über eine bestimmte Hausbewohnerin etwas wissen möchte, eine ehemalige Schülerin zum Beispiel, wohin würde er sich wenden, um eine verlässliche Auskunft zu erhalten?«

Felicity biegt lächelnd das Florett in ihren Händen. »Nun, an die Dienstboten, denke ich.«

Ich öffne die Tür und strecke meinen Kopf hinaus. »Brigid, darf ich Sie etwas fragen?«

Sie wirft mir einen finsteren Blick zu. »Was tun Sie da drinnen? Emily hat erst gestern in dem Zimmer sauber gemacht. Ich will nicht, dass das gleich wieder alles ruiniert wird.«

»Natürlich nicht«, sage ich und beiße mir scheinbar reumütig auf die Lippe. »Es ist nur, Felicity und ich sind so schrecklich traurig, jetzt, wo Ann fort ist. Wir wissen ja, dass Sie sie auch gerngehabt haben. Wollen Sie sich einen Moment zu uns setzen?«

Ich schäme mich ein bisschen, mich so hinterhältig in Brigids weiches Herz zu schleichen – umso mehr, als es funktioniert.

»Oh, Herzchen, ich vermisse sie auch. Aber sie wird ein gutes Leben haben. Genau wie Ihre alte Brigid.« Sie poltert herein und klopft mir im Vorbeigehen mitfühlend auf die Schulter, worauf ich mich noch erbärmlicher fühle.

»Aber, aber. Setzen Sie sich ordentlich hin, Miss«, schimpft Brigid, als sie Felicity sieht. Felicity stellt beide Füße mit einem lauten Rums auf den Boden und ich werfe ihr einen tadelnden Blick zu.

Brigid fährt mit dem Zeigefinger über den Kaminsims und macht ein missbilligendes Gesicht. »Nein. So geht das nicht.«

»Brigid«, beginne ich, »erinnern Sie sich an ein Mädchen, das in Spence zur Schule gegangen ist …«

»Viele Mädchen sind in Spence zur Schule gegangen«, unterbricht sie. »Kann mich nicht an alle erinnern.«

»Na ja, dieses Mädchen war vor langer Zeit hier, damals, als Mrs Spence noch gelebt hat, vor dem Brand.«

»Oh, das ist schon ’ne Ewigkeit her«, murmelt Brigid und wischt mit dem Rand ihrer Schürze den Kaminsims ab.

»Dieses Mädchen war taubstumm. Wilhelmina Wyatt.«

Brigid wirbelt jäh herum und ihr Gesicht zeigt einen merkwürdigen Ausdruck. »Verflixt, wie kommen Sie ausgerechnet auf die?«

»Ann hat von ihr gewusst. Sie hatte ein Buch, das Wilhelmina geschrieben hatte. Und ich … wir … haben uns nur gefragt, was für ein Mensch sie war.« Ich lächle schwach.

»Tja, das ist schon ’ne Ewigkeit her«, wiederholt Brigid. Sie staubt eine kleine orientalische Vase mit ihrer Schürze ab. »Aber ich erinnere mich an sie. Miss Wil’mina Wyatt. Mrs Spence sagte, sie ist was Besonderes, auf ihre Art, dass sie Sachen sieht, die die meisten von uns nicht sehen. ›Sie kann ins Dunkel sehen‹, sagte sie. Na ja, ich hab nicht behauptet, dass ich verstehe, was sie meint. Das Mädchen konnte nicht einmal sprechen, Gott hab sie selig. Aber sie hatte immer ihr kleines Buch dabei, in das sie geschrieben und gezeichnet hat. Auf diese Weise hat sie sich verständigt.«

Genau so, wie es uns Dr. Van Ripple erzählt hat.

»Wie ist sie hierhergekommen? Soviel ich weiß, hatte sie keine Familie«, sage ich.

Brigid zieht die Brauen hoch. »Aber ja doch …«

»Ich dachte …«

»Wilhelmina Wyatt war Mrs Spence’ eigen Fleisch und Blut. Mina war ihre Nichte.«

»Ihre Nichte?«, wiederhole ich, denn ich wundere mich, dass Eugenia mir nichts davon gesagt hat.

»Sie ist zu uns gekommen, nachdem ihre Mutter gestorben war, Gott hab sie selig. Ich erinnere mich noch an den Tag, als Mrs Spence in die Stadt gefahren ist, sie zu holen. Klein-Mina war in einem Boot ausgesetzt worden und sie haben sie in der Nähe der Zollwache gefunden. Armes Wurm. Muss schrecklich gewesen sein. Und hier waren die Dinge nicht viel besser.« Brigid stellt die Vase zurück und nimmt sich den ersten von zwei Kerzenleuchtern vor.

»Was meinen Sie damit?«, fragt Felicity.

»Manche Mädchen haben sie gepiesackt und ihr das Leben schwer gemacht. Sie haben sie an den Zöpfen gezogen, um zu sehen, ob sie petzt.«

»Hatte sie überhaupt irgendwelche Freundinnen?«

Brigid runzelt die Stirn. »Diese furchtbare Sarah Rees-Toome hat manchmal mit ihr zusammengesteckt. Ich hab gehört, wie sie Mina gefragt hat, ob sie wirklich ins Dunkel sehen kann und wie es dort ist, und Mrs Spence hat Sarah deswegen zur Rede gestellt und ihnen verboten, miteinander zu spielen.«

»Hatte Miss Wyatt irgendeinen Lieblingsplatz – ein Versteck vielleicht?«, drängt Felicity.

Brigid denkt einen Augenblick nach. »Sie hat gern draußen auf dem Rasen gesessen und die Wasserspeier gezeichnet. Ich hab sie gesehen, mit dem Buch auf dem Schoß, wie sie lächelnd zu ihnen raufgeschaut hat.«

Ich muss an die seltsame Halluzination denken, die ich hatte, als ich zu Ostern nach London abgereist bin. Der Wasserspeier mit dem Raben im Maul. Mich schaudert, wenn ich mir vorstelle, wie Wilhelmina diesen grässlichen steinernen Wächtern zugelächelt hat. Wächter der Nacht, jawohl.

Brigid hält im Abstauben inne. »Ich erinnere mich noch, wie Mrs Spence sich über Mina aufgeregt hat. Das Mädchen hat angefangen schreckliche Sachen zu zeichnen und Mrs Spence hat gesagt, sie fürchtet, dass Mina unter einem schlechten Einfluss steht. Das hat sie gesagt. Und kurz danach ist das Feuer ausgebrochen und diese beiden Mädchen und Mrs Spence sind drin umgekommen, Gott hab sie selig.« Mit einem Seufzer stellt sie den Kerzenleuchter wieder zurück und nimmt den anderen.

»Aber was war mit Wilhelmina? Warum ist sie weggegangen?«

Brigid leckt mit der Zunge über ihren Daumen und bearbeitet einen Fleck auf dem Silber. »Nach dem Feuer hat sie sich merkwürdig benommen – vor lauter Trauer, wenn Sie mich fragen, aber mich hat ja keiner gefragt.«

Felicity schaltet sich rasch ein. »Ja, ich bin sicher, dass Sie recht haben, Brigid«, sagt sie und wirft mir einen bedeutsamen Blick zu. »Was ist dann passiert?«

»Na ja«, fährt Brigid fort, »Mina hat angefangen, den anderen Mädchen mit ihrem merkwürdigen Benehmen Angst einzujagen. Und mit diesen schrecklichen Sachen, die sie in ihrem Buch geschrieben und gezeichnet hat. Mrs Nightwing hat zu ihr gesagt, Verwandtschaft hin oder her, wenn sie nicht damit aufhört, dann wirft sie sie raus. Aber bevor sie das tun konnte, ist Mina mitten in der Nacht verschwunden und hat irgendwas Wertvolles mitgenommen.«

»Was denn?«, hakt Felicity nach.

»Ich hör nicht alles, Miss Quälgeist«, schilt Brigid.

Felicity will aufbrausen, aber ich werfe ihr einen warnenden Blick zu.

»Was für ’n Ding das auch war«, fährt Brigid fort, »Mrs Nightwing war sehr böse darüber. Hab sie nie so wütend gesehen.« Brigid stellt den Kerzenleuchter zufrieden an seinen Platz zurück. »So, das wär’s. Ich hab ein Wörtchen mit dieser Emily zu reden. Und Sie gehen jetzt am besten zur Abendandacht, bevor Mrs Nightwing Sie rauswirft und mich gleich hinterher.«

*

»Was meinst du, was das alles bedeutet?«, fragt Felicity, als wir uns unter die anderen mischen.

»Ich habe keine Ahnung«, sage ich seufzend. »Ist Wilhelmina vertrauenswürdig oder nicht?«

»Sie erscheint in deinen Visionen, es hat also etwas zu bedeuten«, sagt Felicity.

»Ja, aber die Mädchen in Weiß sind mir auch erschienen, doch sie waren Teufelinnen und wollten mich vom Weg abbringen«, erinnere ich sie. »Ehrlich, ich weiß es nicht. Aber sie hat den Dolch an sich genommen – das steht fest –, und den müssen wir finden.«