24. Kapitel
Die Hippokrates-Gesellschaft hat ihren Sitz in einem reizvollen, wenn auch leicht heruntergekommenen Gebäude in Chelsea. Der Butler nimmt uns unsere Mäntel ab und führt uns durch einen weitläufigen Salon, wo mehrere Herren sitzen, Zigarren rauchen, Schach spielen und sich über Politik unterhalten. Anschließend betreten wir die größte Bibliothek, die ich je gesehen habe. Eine Anzahl wahllos zusammengewürfelter Sessel füllt die Ecken aus. Einige sind um das lodernde Feuer gruppiert, als hätte dort soeben eine angeregte Debatte stattgefunden. Die Perserteppiche sind schon so alt, dass sie an manchen Stellen durchgetreten sind. Jedes einzelne Regal ist mit Büchern vollgestopft: Medizinische Aufsätze, naturwissenschaftliche Studien, Bände in griechischer und lateinischer Sprache sowie englische Klassiker reihen sich aneinander. Ich könnte wochenlang hier sitzen und lesen.
Dr. Hamilton begrüßt uns. Er ist ein Mann von siebzig Jahren mit weißem Haar, das sich nur noch in dünnen Strähnen über seinen Scheitel zieht. »Ah, da sind Sie. Gut, gut. Unser Freund hat ein wundervolles Fest vorbereitet. Wir wollen ihn nicht warten lassen.«
Wir sitzen zu zwölft am Tisch, eine bunte Mischung aus Medizinern, Schriftstellern, Philosophen und ihren Gattinnen. Die Unterhaltung ist lebhaft und faszinierend. Wir sprechen über Naturwissenschaft und Religion, über Bücher und Medizin, über die gesellschaftliche Saison ebenso wie über Politik. Aber es ist Vater, der mit seinem Witz und mit seinen Geschichten von Indien das eigentliche Kommando am Tisch führt.
»Und dann ist da die Geschichte von dem Tiger, aber ich fürchte, ich habe Ihre Aufmerksamkeit schon zu lange in Anspruch genommen«, sagt Vater, nun wieder mit diesem lustigen Zwinkern wie früher.
Die Neugier der Gäste will gestillt werden. »Ein Tiger!«, rufen sie. »Aber das müssen Sie uns unbedingt erzählen.«
Erfreut beugt Vater sich vor. Seine Stimme nimmt einen geheimnisvollen Ton an. »Wir hatten für einen Monat ein Haus in Lucknow gemietet, um der Hitze in Bombay zu entfliehen. Unsere Gemma war noch nicht älter als sechs. Sie spielte mit Vorliebe im Garten, der an den Dschungel grenzte, während unsere Haushälterin Sarita die Wäsche aufhängte und aufpasste. In jenem Frühling verbreitete sich von Dorf zu Dorf das Gerücht, ein Bengalischer Tiger spaziere völlig unbekümmert durch die Dörfer. Der dreiste Kerl hatte einen Markt in Delhi verwüstet und dort ein ganzes Regiment in Angst und Schrecken versetzt. Für seine Gefangennahme wurde eine Belohnung von hundert Pfund Sterling ausgesetzt. Nicht im Traum hätten wir gedacht, dass der Tiger zu uns gelangen könnte.«
Alle hängen an Vaters Lippen und er sonnt sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. »Eines Tages, während Sarita sich ihrer Wäsche widmete, spielte Gemma im Garten. Das heißt, sie war ein Ritter mit einem aus Holz gebastelten Schwert. Sie war äußerst furchterregend, doch ich ahnte nicht, wie furchterregend. Als ich in meinem Arbeitszimmer saß, hörte ich von draußen Geschrei. Ich lief hinaus, um zu sehen, was der Grund der Aufregung war. Sarita rief mir mit vor Angst weit aufgerissenen Augen zu: ›Oh, Mr Doyle, sehen Sie – dort drüben!‹ Der Tiger hatte den Garten betreten und bewegte sich auf Gemma zu, die mit ihrem hölzernen Schwert herumtollte. Neben mir zog unser Hausbursche Raj sein Messer. Aber Sarita hielt seine Hand fest. ›Wenn du mit deinem Messer auf ihn zuläufst, reizt du den Tiger‹, warnte sie ihn. ›Wir müssen warten.‹«
Am Tisch ist es mucksmäuschenstill. Die Gäste sind von Vaters Geschichte gefesselt und Vater genießt diese Wirkung in vollen Zügen. Den charmanten Erzähler zu spielen, das ist, was er am allerbesten kann.
»Ich muss Ihnen sagen, das war der längste Moment meines Lebens. Niemand wagte sich zu rühren. Niemand wagte zu atmen. Und die ganze Zeit spielte Gemma ahnungslos weiter, bis die große Katze bei ihr war. Gemma stand dem Tiger Auge in Auge gegenüber. Sie starrten einander an, als fragte sich jeder von ihnen, was er von dem anderen halten solle, so als fühlten sie eine Art Geistesverwandtschaft. Schließlich legte Gemma ihr Schwert auf den Boden. ›Lieber Tiger‹, sagte sie. ›Wenn du friedlich bist, darfst du passieren.‹ Der Tiger schaute auf das Schwert und zurück zu Gemma und ohne einen Laut marschierte er weiter und verschwand im Dschungel.«
Die Gäste atmen erleichtert auf. Sie gratulieren meinem Vater zu seiner wunderbar erzählten Geschichte. In diesem Moment bin ich unglaublich stolz auf ihn.
»Und was war mit Ihrer Gattin, Mr Doyle? Sicher hat sie das Geschrei auch gehört?«, fragt eine der Damen.
Ein leichter Schatten fällt auf das Gesicht meines Vaters. »Glücklicherweise war meine Frau gerade auf der Armenstation des Krankenhauses, wie so oft.«
»Sie muss eine fromme und gute Seele gewesen sein«, sagt die Frau gerührt.
»Allerdings. Niemand konnte auch nur ein schlechtes Wort über Mrs Doyle sagen. Alle Herzen wurden weich, sobald ihr Name fiel. Sie wurde in jedem Haus mit offenen Armen empfangen. Ihr Ruf war über jeden Tadel erhaben.«
»Wie glücklich Sie sind, solch eine Mutter gehabt zu haben«, sagt eine Dame zu meiner Rechten.
»Ja«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Sehr glücklich.«
»Sie hat sich um die Kranken gekümmert«, erklärt mein Vater. »Die Cholera war nämlich ausgebrochen. ›Mr Doyle‹, sagte sie, ›ich kann nicht mit den Händen im Schoß dasitzen, während sie leiden. Ich muss zu ihnen.‹ Jeden Tag ist sie hingegangen, mit ihrem Gebetbuch in der Hand. Sie las ihnen vor, tupfte ihnen die fiebrige Stirn, bis sie selbst erkrankte.«
Es hört sich an wie eine von seinen gut erzählten, vielleicht ein bisschen zu dick aufgetragenen Geschichten. Doch hiervon ist kein Wort wahr. Meine Mutter war vieles: einerseits stark, andererseits eitel; auf der einen Seite konnte sie liebevoll, auf der anderen grausam und unbarmherzig sein. Aber sie war nicht diese Idealgestalt – eine aufopfernde Heilige, die sich fraglos und klaglos um ihre Familie sowie um die Kranken kümmerte. Ich schaue zu Vater, ob ihn irgendetwas verrät, doch nein, er glaubt es selbst, jedes Wort. Er hat sich diesen Glauben selbst eingeimpft.
»Was für ein edler und selbstloser Mensch«, sagt die Frau mit dem Stirnreif und tätschelt Großmamas Hand. »Der Inbegriff einer Frau.«
»Niemand konnte auch nur ein unfreundliches Wort über meine Mutter sagen«, redet Tom seinem Vater nach dem Mund.
Vergiss deinen Schmerz. Das habe ich gestern im Salon gesagt, als ich Vaters Hand nahm, und das habe ich heute Nacht wiederholt. Aber das hier wollte ich nicht. Ich muss vorsichtiger sein. Aber nicht die Stärke der Magie ist es, die mir Sorgen macht, oder dass sie alle, ohne Ausnahme, Vaters Worte für bare Münze genommen haben. Nein, was mich am meisten beunruhigt, ist, wie sehr ich es selbst glauben möchte.
*
Die Droschken fahren vor und signalisieren das Ende unseres Abends. Wir versammeln uns vor dem Klub. Vater, Tom und Dr. Hamilton sind ins Gespräch vertieft. Großmama ist von einem Rundgang durch den Klub mit einigen der Ehefrauen noch nicht zurückgekehrt. Ich mache einen Abstecher zum Garten, als ich plötzlich ins schattige Dunkel gezerrt werde.
»Schöner Abend, hä?«
Der Hut des Wegelagerers sitzt tief in seiner Stirn, aber ich erkenne seine Stimme ebenso wie die zornige rote Narbe, die sich über seine eine Gesichtshälfte zieht. Mr Fowlson, der getreue Wachhund der Rakschana.
»Schreien Sie nicht«, sagt er und nimmt meinen Arm. »Ich hab nur ein Wort mit Ihnen zu reden, im Namen meiner Dienstherren.«
»Was wollen Sie?«
»Na, was wohl, hä?« Sein Lächeln erstarrt zu einer finsteren Fratze. »Die Magie. Wir wissen, dass Sie sie an sich gebunden haben. Wir wollen sie haben.«
»Ich habe sie dem Orden gegeben. Der Orden ist jetzt im Besitz der Magie.«
»Und das soll ich Ihnen glauben, hä?« Sein Atem riecht nach Bier und Fisch.
»Wie wollen Sie wissen, dass ich Ihnen nicht die Wahrheit sage?«
»Ich weiß mehr, als Sie glauben, Süße«, flüstert er.
Der Stahl seines Messers schimmert in der kalten Nacht. Ich schaue zu meinem Vater hinüber, der sich vergnügt mit Dr. Hamilton unterhält. Er ist fast wieder der Vater, den ich vermisst habe. Ich werde nichts tun, um diesen zerbrechlichen Frieden aufs Spiel zu setzen.
»Was wollen Sie von mir?«
»Wie ich schon sagte. Wir wollen die Magie.«
»Und wie ich schon sagte. Ich habe sie nicht.«
Fowlson reibt die flache Klinge seines Messers an meinem Arm, was mir ein gefährliches Kribbeln über die Haut laufen lässt.
»Überlegen Sie sich gut, was Sie tun. Sie sind nicht die Einzige, die Spielchen spielen kann.« Er wirft einen Blick zu Vater und Tom. »Schön, Ihren Vater hier zu sehen. Und Ihren Bruder. Ich höre, er möchte sich um jeden Preis einen Namen machen. Guter alter Tom.« Fowlson schnipselt mit seiner Messerspitze einen Knopf von meinem Handschuh. »Vielleicht sollte ich mit ihm einen kleinen Plausch darüber halten, was seine Schwester treibt, wenn er nicht aufpasst. Ein Wort in sein Ohr und er könnte Sie nach Bedlam verfrachten.«
»Das würde er nicht tun.«
»Sind Sie sicher?« Fowlson schnipselt noch einen Knopf von meinem Handschuh. Der Knopf schlittert über die Pflastersteine. »Ich hab Mädchen gesehen, die haben sich ihre Krankheit nicht mit dem Holzhammer austreiben lassen. Wie würde es Ihnen gefallen, Ihr Leben in einem Zimmer dort zu verbringen und die Welt durch ein kleines Fenster zu betrachten?«
Die Magie regt sich in mir und ich wende all meine Kraft auf, um sie zurückzudrängen. Fowlson darf nicht wissen, dass ich sie habe.
»Geben Sie mir die Magie. Ich sorge dafür, dass sie in die richtigen Hände kommt.«
»Sie meinen, Sie würden sie für sich behalten.«
»Wie geht’s unserem Freund Kartik?«
»Darüber sollten Sie besser Bescheid wissen als ich, denn ich habe ihn überhaupt nicht gesehen«, lüge ich. »Er hat sich als genauso niederträchtig erwiesen wie Sie alle.«
»Guter alter Kartik. Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen – falls Sie ihn sehen –, sagen Sie ihm, Fowlson hat nach ihm gefragt.«
Kartik hat gesagt, die Rakschana seien der Meinung, er sei tot. Aber wenn Fowlson glaubt, dass er lebt, dann ist Kartik in Gefahr.
Plötzlich steckt Fowlson sein Messer in die Scheide. »Ihre Droschke scheint da zu sein, Miss. Wir sehen uns wieder. Darauf können Sie sich verlassen.«
Er gibt mir einen kleinen Schubs. Tom, der von alldem nichts bemerkt hat, winkt mir. »Komm, Gemma.«
Der Diener hängt die Treppe ein.
»Ja, ich komme schon«, antworte ich. Als ich mich umdrehe, ist Fowlson fort, in der Nacht verschwunden, als sei er nie da gewesen.