60. Kapitel

Zwei endlose Tage lang bin ich in unserem Haus in London gefangen, ohne eine Möglichkeit, Kartik, Ann oder Felicity zu benachrichtigen. Ich weiß nicht, was im Magischen Reich vor sich geht, und ich bin krank vor Sorge. Aber jedes Mal, wenn ich den Mut fasse, die Magie heraufzubeschwören, denke ich an Circes Warnung: dass die Magie sich verändert hat, dass wir beide sie geteilt haben, dass sie an etwas Dunkles und Unvorhersehbares geknüpft sein könnte. Ich spüre, dass in den Winkeln des Zimmers drohende Schatten nisten, von Dingen, die ich vielleicht nicht kontrollieren kann, und ich schiebe die Magie tief nach unten, weit weg von mir und krieche zitternd in mein Bett.

Ich habe nicht den Schimmer einer Idee, wie ich entkommen könnte. Ich bin dazu verurteilt, das Leben einer wohlerzogenen jungen Dame der Londoner Gesellschaft zu führen und mit Großmama Besuche zu machen. Wir trinken Tee, der zu schwach und für meinen Geschmack nie heiß genug ist. Die Damen verbringen die Zeit mit Klatsch und Tratsch. Das ist ihr Ersatz für Freiheit – Zeit und Geschwätz. Ihr Leben ist klein und behutsam. Ich wünsche mir nicht, so zu leben. Ich möchte mein Zeichen setzen. Meinungen äußern, die nicht höflich, nicht einmal korrekt sein mögen, aber eben die meinigen sind. Wenn ich für irgendetwas gehängt werden sollte, möchte ich erhobenen Hauptes zum Galgen schreiten.

Die Abende verbringe ich, indem ich Vater vorlese. Seine Gesundheit bessert sich ein wenig – er kann über seinen Landkarten und Büchern an seinem Schreibtisch sitzen –, aber er wird nicht wieder genesen. Es wurde beschlossen, dass Vater nach meinem Debüt in ein wärmeres Klima reisen soll. »Heiße Sonne und warmer Wind – das ist’s, was er braucht«, sagen wir mit verkrampftem Lächeln, weil wir uns nicht dazu durchringen können, es auszusprechen: Er stirbt.

Am dritten Tag bin ich vor Kummer und Sorge fast außer mir. Da verkündet Großmama, wir seien zu einem Gartenfest zu Ehren von Lucy Fairchild eingeladen. Ich behaupte hartnäckig, ich fühle mich nicht wohl und sollte besser zu Hause bleiben – denn vielleicht könnte ich mich fortstehlen und einen Zug zurück nach Spence nehmen, während sie weg ist –, aber Großmama will nichts davon hören. Und so betreten wir einen Garten in Mayfair von unvorstellbarer blühender Pracht.

Ich erspähe Lucy allein auf einer Bank unter einem Weidenbaum. Mit klopfendem Herzen setze ich mich neben sie. Sie beachtet mich nicht.

»Miss Fairchild, ich – ich möchte Simons Verhalten auf dem Ball erklären«, sage ich.

Ihre gute Erziehung gebietet ihr, sehr still zu sitzen. Sie hält ihr Temperament so fest im Zaum wie die Zügel ihres Pferdes. »Fahren Sie fort.«

»Es könnte der Eindruck entstanden sein, dass Mr Middleton und ich an diesem Abend zu vertraulich waren, aber das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, als meine Anstandsdame kurz weg war, kam mir ein Herr, den ich nicht kannte und der viel zu viel getrunken hatte, zu nahe.«

Glaub mir … bitte glaub …

»Ich war natürlich furchtbar erschrocken, weil ich allein war«, lüge ich. »Glücklicherweise sah Mr Middleton, in welchem Dilemma ich mich befand, und da unsere Familien schon lange befreundet sind, ergriff er augenblicklich die Initiative, ohne an die Konsequenzen zu denken. So ein Mann ist er eben. Ich dachte mir, Sie sollten die wahren Umstände kennen, bevor Sie den Stab über ihn brechen.«

Langsam glätten sich ihre Gesichtszüge. Eine schüchterne Hoffnung spielt um ihre Lippen. »Er hat mir gestern wunderschöne Blumen geschickt. Und ein raffiniertes Silberkästchen mit einem Geheimfach.«

»Für all Ihre Geheimnisse«, sage ich, ein Lächeln unterdrückend.

Ihre Augen leuchten auf. »Genau das hat Simon mir erklärt. Er hat gesagt, er ist nichts ohne mich.« Sie hält sich die Hand vor den Mund. »Vielleicht hätte ich Ihnen etwas so Persönliches nicht sagen sollen.«

Ihre Worte versetzen mir einen Stich, aber ich stelle fest, dass der Stich nicht ganz so wehtut. Simon und Lucy sind einander sehr ähnlich. Sie wollen ein angenehmes und unbekümmertes Leben führen. Ich könnte mich nicht auf diese Weise arrangieren, aber ihnen behagt es.

»Es war schon in Ordnung«, versichere ich ihr.

Lucy tastet nach der Brosche, die Simon ihr geschenkt hat, dieselbe, die er mir gegeben hatte. »Ich weiß, dass Sie beide sich sehr … nahestanden.«

»Ich war nicht das richtige Mädchen für ihn«, sage ich. Überrascht stelle ich fest, dass es keine Lüge ist. »Ich wage zu behaupten, dass ich ihn nie fröhlicher gesehen haben als in Ihrer Gesellschaft. Ich hoffe, Sie werden zusammen glücklich sein.«

»Falls ich ihm verzeihen sollte.« Ihr Stolz meldet sich zurück.

»Ja. Das liegt ganz allein in Ihrer Hand«, sage ich und es ist zutreffender, als sie wissen kann. Denn das, was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern. Es ist Teil des Weges, der hinter uns liegt. Jetzt zählt nur das, was vor uns liegt.

Lucy erhebt sich. Unsere Unterhaltung ist zu Ende.

»Danke, Miss Doyle. Es war nett von Ihnen, mit mir zu sprechen.« Sie reicht mir nicht die Hand und ich habe auch nichts anderes erwartet.

»Es war nett von Ihnen, mir zuzuhören.«

*

Am Abend geht Tom wieder in seinen Klub. Ich versuche, ihn davon abzubringen, aber er weigert sich, mit mir zu reden. Großmama trifft sich mit ihrer Bakkaratrunde. So sitze ich also allein in meinem Zimmer und zerbreche mir den Kopf, wie ich zurück nach Spence und ins Magische Reich gelangen könnte.

»Gemma.«

Ich schreie fast auf, als ein Mann hinter den Vorhängen hervortritt. Dann sehe ich, dass es Kartik ist, und bin vor Freude überwältigt.

»Wie bist du hergekommen?«

»Ich habe mir in Spence ein Pferd geliehen«, erklärt er. »Na ja, in Wirklichkeit hab ich’s gestohlen. Als du nicht zurückgekommen bist …« Ich schließe ihm den Mund mit einem Kuss.

Wir liegen nebeneinander auf meinem Bett, mein Kopf ruht auf seiner Brust. Ich kann das Klopfen seines Herzens hören, stark und sicher. Seine Finger zeichnen Muster auf meinen Rücken. Seine andere Hand ist mit meiner verbunden.

»Ich verstehe nicht«, sage ich und genieße die Wärme seiner Finger, die an meiner Wirbelsäule auf und ab wandern. »Warum hat sie mir nicht gezeigt, wie ich Eugenia retten kann?«

»Könnte es sein, dass Wilhelmina auf der Seite von Circe ist? Du hast selbst gesagt, sie standen sich nahe.« Kartik küsst meinen Scheitel.

»Warum sollte sie den Orden und Eugenia verraten?«, sage ich. »Es ergibt keinen Sinn. Nichts von alldem ergibt einen Sinn«, seufze ich. »Der Schlüssel zur Wahrheit ist golden. Dieser Satz kehrt in meinen Träumen, meinen Visionen, in Wilhelminas Buch immer wieder. Aber was bedeutet er?«

»In dem Beutel mit dem Dolch war kein goldener Schlüssel?«, fragt Kartik.

»Nein. Und ich habe gedacht, vielleicht ist das Buch der Schlüssel.« Ich schüttle den Kopf. »Aber ich bin mir dessen nicht sicher. Ich denke …«

Ich erinnere mich an die Bilder, die Wilhelmina für die Geschichte der Geheimbünde gezeichnet hat. Das verborgene Objekt. Wächter der Nacht. Den Turm. Ich habe alle entziffert außer einem – das Zimmer mit dem Bild von den Booten an der Wand.

»Ja?«, fragt Kartik. Seine Hand wandert zu meiner Brust.

»Ich denke, es könnte sich um einen Ort handeln«, sage ich und richte mich auf, um ihn zu küssen.

Er wälzt sich auf mich. Seine Hände gleiten an meinem Körper entlang und ich dränge mich gegen ihn. Seine Zunge erforscht meinen Mund.

Es klopft an der Tür. In panischem Schreck stoße ich Kartik von mir.

»Der Vorhang!«, flüstere ich.

Er versteckt sich hinter den Vorhängen und ich bringe rasch mein Äußeres in Ordnung. Mit einem Buch in der Hand setze ich mich auf mein Bett.

»Herein«, rufe ich und Mrs Jones tritt ein. »Guten Abend«, sage ich und drehe das Buch richtig herum. Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen steigt. Mein Herz pocht in meinen Ohren.

»Ein Paket wurde für Sie abgegeben, Miss.«

»Ein Paket? Um diese Zeit?«

»Ja, Miss. Ein Junge hat es gebracht.«

Sie reicht mir eine in braunes Papier eingewickelte und grob verschnürte Schachtel. Kein Absender und keine Karte.

»Danke«, sage ich. »Ich glaube, ich gehe zu Bett. Ich bin sehr müde.«

»Wie Sie wünschen, Miss.« Die Tür fällt ins Schloss und ich schließe mit einem lauten, erleichterten Seufzer ab.

Kartik tritt hinter mich und schlingt seine Hände um meine Taille. »Mach es auf«, sagt er und ich tu’s. In der Schachtel sind Toms lächerlicher Hut und eine Nachricht.

 

Sehr geehrte Miss Doyle,

Sie besitzen etwas, das für uns von großem Wert ist. Wir besitzen im Moment etwas, das für Sie von großem Wert ist. Ich bin sicher, wir werden zu einer befriedigenden Lösung gelangen. Geben Sie nicht der Versuchung nach, die Magie gegen uns zu verwenden. Beim ersten Anzeichen wird Ihr Bruder sterben. Mr Fowlson steht an der Ecke. Lassen Sie ihn nicht warten.

 

Die Rakschana haben Tom.

Die Rakschana wollen mir meine Magie wegnehmen, und wenn ich mich weigere, werden sie meinen Bruder töten. Was ist, wenn ich meine Zauberkraft ausschließlich dazu verwende, Tom zu retten? Doch es ist nicht allein meine Magie und ich richte vielleicht mehr Schaden als Nutzen an. Ich habe heute Nacht nichts anderes zur Verfügung als meinen Verstand und der scheint mir jetzt keine große Hilfe zu sein. Aber im Moment ist er meine einzige Hoffnung.

»Ich komme mit«, beharrt Kartik.

»Das würde deinen Tod bedeuten«, protestiere ich.

»Dann ist es ein guter Tag, um zu sterben«, sagt er und mein Magen krampft sich zusammen.

Ich lege ihm meine Finger auf die Lippen. »Sag das nicht.«

Er küsst meine Finger, dann meinen Mund. »Ich komme mit dir.«