Einundsechzig
Es wäre falsch zu behaupten, unser Leben verlief wieder in seinen gewohnten Bahnen. Ich bezweifelte, ob das je wieder der Fall sein würde. Aber in den folgenden Tagen kehrte etwas wie Routine in unseren Alltag zurück.
Die erste Nacht war allerdings weit davon entfernt.
Nach all dem Entsetzlichen, das sie in Fionas Haus erlebt hatte, schlief Kelly sehr unruhig. Sie warf sich im Bett herum, und einmal fing sie sogar zu schreien an. Ich rannte in ihr Zimmer und setzte sie aufrecht hin. Ihre Augen waren geöffnet, und sie sah mich an, doch in ihrem Blick lag eine Leere, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Sie schrie: »Nein! Nein!«, und da wurde mir klar, dass sie noch schlief. Ich rief ihren Namen, immer wieder, bis sie blinzelte und erwachte.
Ich holte mir einen Schlafsack aus dem Keller, rollte ihn neben ihrem Bett auf dem Boden aus und verbrachte den Rest der Nacht dort. Ich legte meine Hand auf ihre Matratze, und sie hielt sie bis zum Morgen fest.
Ich machte Eier zum Frühstück. Wir redeten über die Schule und über Filme, und Kelly sagte ein paar interessante Dinge über die Sängerin Miley Cirus. Die hätte sich von einem Mädchen, das sie gern zur Freundin gehabt hätte, in jemanden verwandelt, der nur noch sexy und überdreht war.
»Du musst heute nicht zur Schule gehen«, sagte ich. »Du gehst zurück, wenn du so weit bist.«
»Vielleicht, wenn ich zwölf bin«, sagte sie.
»Träum weiter, Süße.«
Und sie lächelte.
An diesem Tag nahm ich sie zur Arbeit mit. Sie begleitete mich zu zwei Baustellen und spielte an meinem Computer, nachdem wir ins Büro zurückgekehrt waren. Dort herrschte das reinste Chaos. Dutzende unbeantwortete Anrufe. Jede Menge unbezahlte Rechnungen.
Ken Wang sagte, er hätte getan, was er konnte, den Laden in Schuss zu halten, aber ohne Doug und Sally sei er auf keinen grünen Zweig gekommen.
»Was ist denn mit Doug?«, wollte er wissen. »Wir brauchen ihn.«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Er ist noch in Untersuchungshaft.«
»Wollen Sie meine Meinung hören? Wenn er Theo tatsächlich umgebracht hat, dann war das total gerechtfertigt. Ich hab auch schon ein paarmal daran gedacht. Und wo, zum Teufel, ist Sally?«
»Sie arbeitet nicht mehr hier.«
»Sagen Sie doch so was nicht.«
»Das ist, was sie zu mir gesagt hat.«
»Hier ein gutgemeinter Rat, Herrschaften: Holen Sie diese Frau zurück, und wenn Sie sie auf Knien darum bitten müssen. Sie glauben vielleicht, Sie schmeißen diesen Laden, und wenn Sie diese Illusion glücklich macht, dann soll mir das recht sein, aber sie ist diejenige, die dafür sorgt, dass hier alles läuft.«
Ich seufzte. »Sie kommt nicht zurück.«
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Ihnen das sage, wo Sie doch der Boss sind und so, aber Sie müssen ganz schöne Scheiße – ups, tut mir leid, Kelly.«
»Schon in Ordnung«, sagte sie und drehte sich einmal mit meinem Stuhl um die eigene Achse. »Ich habe in letzter Zeit Schlimmeres gehört und gesehen.«
Kelly hatte sich mit Emily online und am Telefon unterhalten. Deren Tante Janice kümmerte sich weiter um das Mädchen, während Darren Slocum im Krankenhaus lag. Wahrscheinlich würde er noch etwa eine Woche dort bleiben und auch zu Hause noch Hilfe brauchen.
»Emily sagt, dass ihr Dad dann kein Polizist mehr sein wird«, sagte Kelly.
»Aha.«
»Sie sagt, er macht dann etwas anderes. Und dass sie vielleicht wegziehen. Ich will nicht, dass sie wegzieht.«
Ich strich ihr über den Kopf. »Ich weiß. Sie ist eine gute Freundin, und ihr zwei braucht euch gegenseitig.«
»Ich soll morgen Abend zu ihr kommen. Vielleicht zum Pizzaessen. Aber nicht zum Übernachten. Ich werde mein ganzes Leben nie mehr irgendwo anders übernachten.«
»Guter Plan«, sagte ich. »Aber besuchen kannst du sie schon. Wir reden morgen darüber.«
»Auf welche Baustellen fahren wir morgen?«
Rona Wedmore besuchte mich in der Firma. Sie trug den Arm in der Schlinge.
»Ich dachte, es war die Schulter«, sagte ich.
»Sie sagen, es heilt besser, wenn ich den Arm stillhalte. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, wie Sie die Nachrichtenreporterin zur Schnecke gemacht haben. Sehr cool.«
Ich lächelte.
»Meine Behörde will Ihnen eine Auszeichnung verleihen«, sagte sie. »Ich wollte es ihnen ausreden, hab ihnen gesagt, dass Sie komplett verrückt sind, aber die bestehen darauf.«
»Ich will nichts«, sagte ich. »Was ist mit Marcus. Kann er schon reden?«
»Der wird ziemlich lang nicht mehr reden. Dafür hat Ihre Schwiegermutter gesorgt. Aber er lässt auch durch seine Anwälte nichts sagen.«
»Er hat Sheila umgebracht.«
Wedmore fuhr sich mit der Zunge über die oberen Zähne. »Für Ann Slocum bekommen wir ihn dran, aber bis jetzt haben wir nichts, was ihn irgendwie mit dem Tod Ihrer Frau in Verbindung bringt.«
»Sie müssen weitersuchen.«
»Das werden wir. Aber …« Sie seufzte. »Ich glaube, Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass niemand Ihre Frau umgebracht hat. Wenn Sie sich überlegen, unter was für einem Druck sie stand, vielleicht hat sie an diesem Abend etwas gesucht, um sich ein bisschen davon zu befreien. Sie hat was getrunken, sie hat ein paar falsche Entscheidungen getroffen.«
Ich sah sie an.
»Ich weiß, das ist nicht das, was Sie hören wollen.«
Ich lehnte mich an einen Aktenschrank und verschränkte die Hände vor der Brust. Ich spürte einen Kloß im Hals. »Ich habe so oft darüber nachgedacht. Ich versteh schon, was Sie meinen. Und irgendwie … irgendwie weiß ich ja, dass ich mich vielleicht damit abfinden muss, dass sie in eine ganz üble Sache hineingeraten ist. Und dann hat sie sich zu etwas hinreißen lassen, was sie sonst nie getan hätte. Sie hat sich so tief in die Scheiße geritten wie nie zuvor in ihrem Leben und hat es nicht über sich gebracht, es mir zu sagen. Aber sie hätte mit mir reden sollen. Gemeinsam hätten wir eine Lösung gefunden.«
Wedmore nickte mitfühlend.
»Vielleicht wollen Sie ja, dass es Marcus war«, sagte. »Vielleicht brauchen Sie das jetzt.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
Eine Weile schwiegen wir beide. Dann sagte Wedmore: »Glauben Sie, es gibt einen Grund für alles, was passiert?«
»Sheila hat daran geglaubt. Ich war eigentlich nie so ganz davon überzeugt.«
»Da geht’s mir wie Ihnen. Oder es ging mir wenigstens so. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich glaube, es gab einen Grund, warum ich angeschossen wurde.«
Ich schob meine Hände in die Hosentaschen. »Ich kann mir keinen vernünftigen Grund dafür denken, angeschossen zu werden. Es sei denn, man wird für das nächste halbe Jahr vom Dienst freigestellt. Bei voller Lohnfortzahlung.«
»Tja.« Sie wandte eine Sekunde den Blick ab. Dann sagte sie: »Als ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hat man meinen Mann geholt und zu mir gebracht. Wissen Sie, was er getan hat, als er mich sah?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er hat gesagt: ›Geht’s dir gut?‹«
Ich fand nichts Besonderes dabei, aber für sie schien es so wichtig zu sein wie sonst nichts auf der Welt.
»Ich glaube, ich sollte einen Kuchen mitbringen«, sagte Kelly am nächsten Tag. »Wenn Emily die Pizza spendiert, dann sollte ich den Nachtisch mitbringen.«
»Gut.«
Ich hatte mit Janice telefoniert, um mich zu vergewissern, dass Kelly wirklich willkommen war. Janice sagte, Emily habe den ganzen Tag von nichts anderem geredet, als dass ihre beste Freundin sie besuchen käme.
Ich schlug vor, bei einer Konditorei vorbeizufahren, aber Kelly bestand darauf, in einen Supermarkt zu fahren und einen tiefgefrorenen Schokoladenkuchen von Sara Lee zu kaufen. »Den mag Emily am liebsten. Warum reibst du dir den Kopf, Daddy?«
»Ich hab in den letzten Tagen dauernd Kopfweh. Aber ich glaube, das ist nur der Stress.«
»Das versteh ich.«
Emily hatte schon nach uns Ausschau gehalten und kam aus dem Haus gelaufen, als wir in die Einfahrt bogen. Janice folgte ihr. Die Mädchen umarmten sich und rannten ins Haus.
Janice blieb draußen, um mit mir zu reden. »Ich wollte Ihnen danken. Dafür, dass Sie den Mann aufgehalten haben, der auf Darren geschossen hat.«
»Ich wollte schon auch meine eigene Haut retten.«
»Trotzdem«, sagte sie und berührte mich kurz am Arm.
»Was wird aus ihm?«
»Er hat gekündigt, und er hat einen guten Anwalt. Er hat angeboten, alles zu sagen, was er weiß. Über das, was Sommer getan hat, über die Leute, für die er gearbeitet hat. Ich hoffe, dass er, wenn er trotzdem ins Gefängnis muss, mit ein paar Monaten davonkommt. Dann kann er sich um Emily kümmern. Er liebt sie mehr als alles andere auf der Welt.«
»Natürlich. Ich hoffe, es klappt, um Emilys willen. In zwei Stunden komme ich Kelly abholen. Ist Ihnen das recht?«
»Wunderbar.«
Ich stieg in den Wagen, aber ich fuhr nicht nach Hause. Es gab noch einen Zwischenstopp zu machen.
Ungefähr fünf Minuten später parkte ich vor einem anderen Haus. Ich ging zur Tür und klingelte.
Ein paar Sekunden später öffnete Sally Diehl. Sie hatte Gummihandschuhe an und hielt eine Silikonpistole in der Hand.
»Wir müssen reden«, sagte ich.