Vierundvierzig
Ich sah dem Wagen hinterher, mit dem Doug Pinder weggebracht wurde. Der andere Polizist pflanzte sich neben dem Infiniti auf, anscheinend, um ihn zu bewachen. Irgendwas sagte mir, dass Betsy ihren Wagen nicht so bald zurückbekommen würde. Der kam bestimmt ins Labor, genauso wie die Pistole, die sie darin gefunden hatten.
So eine Scheiße.
Ich überlegte, ob ich Betsy vorwarnen sollte, kam jedoch zu dem Schluss, dass es nicht allzu lang dauern konnte, bis sie es erfuhr. Der Polizist, der vor dem Haus ihrer Mutter postiert war, wurde bestimmt informiert, dass man Pinder gefunden und Betsys Wagen beschlagnahmt hatte. Was sie wohl härter treffen würde? Dass ihr Mann in einer Mordsache befragt wurde oder dass sie auf ihren fahrbaren Untersatz verzichten musste?
In den letzten vierundzwanzig Stunden war die ganze Welt in Scherben gegangen. Nicht ein Winkel, der davon verschont geblieben wäre. Mir war richtig schlecht. Nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht glaubte, dass Doug das Zeug zu einem Mörder hatte. Dass er sich daran bereichert hatte, Elektroramsch zu verwenden, konnte ich mir zur Not noch vorstellen, aber dass er einen Mord begehen würde?
Nun war es aber leider so, dass Doug tatsächlich zu Theo gefahren war. Er hatte Grund, sauer auf ihn zu sein. Und eine Waffe im Wagen. Vielleicht hatte er es getan und sich hinterher so volllaufen lassen, dass er sich an nichts mehr erinnerte. Oder war schon voll, als er den Abzug betätigte.
Drei Mal.
Um jemanden im Dunkeln – dazu noch im Wald – dreimal zu treffen, dazu musste man allerdings ziemlich nüchtern sein.
Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Also stieg ich in den Wagen und fuhr in die Firma zurück. Ich schloss das Tor zum Grundstück auf, dann das Büro. Ich hatte das Gefühl, es sei Wochenende. Kein Mensch da, alles still.
Das Lämpchen am Telefon blinkte. Ich nahm den Hörer ab und hörte den Anrufbeantworter ab. Siebzehn Nachrichten. Ich nahm mir einen Stift und einen Block und fing an, mir eine nach der anderen zu notieren.
»Wir sind hier mit den Gipsplatten, Glen. Wo seid ihr denn, Herrschaften? Wie’s aussieht, nicht bei der Arbeit. Ist heute ein Feiertag, von dem ich nichts weiß?«
»Ich habe letzte Woche schon angerufen. Sie haben uns vergangenen Sommer einen Wintergarten angebaut. Und jetzt haben wir Bienen hier drinnen. Wir glauben, die haben irgendwo ein Schlupfloch gefunden. Könnten Sie vielleicht mal vorbeikommen und sich das anschauen?«
»Ich heiße Ryan und ich wollte wissen, ob ich mich bei Ihnen bewerben könnte. Meine Mom sagt, sie schmeißt mich raus, wenn ich mir keine Arbeit suche.«
Und so ging es weiter. Genau wie Sally vor ein paar Tagen fiel auch mir jetzt auf, dass nicht ein einziger Anruf dabei war, der möglicherweise einen Auftrag versprach. Scheiße, so weit das Auge reichte.
Als ich mir alle siebzehn Anrufe notiert hatte, fing ich an, die Leute zurückzurufen. Beinahe bis fünf saß ich da und telefonierte mit Subunternehmern, Lieferanten, früheren Kunden. Das ließ mich meine Scherereien zwar nicht vergessen, lenkte mich aber wenigstens eine Zeitlang davon ab, weil ich mich auf etwas konzentrieren konnte, dem ich auch gewachsen war.
Ich erledigte so viele Anrufe, wie ich konnte, dann lehnte ich mich zurück und stieß einen langen, erschöpften Seufzer aus.
Ich betrachtete Sheilas Foto auf dem Schreibtisch und sagte: »Was tu ich hier eigentlich?«
Ich musste wieder an den Tag denken, an dem ich eigentlich die Garage meines verstorbenen Vaters hatte ausräumen wollen. Plötzlich fielen mir jede Menge Sachen ein, die ich in meinem eigenen Haus zu erledigen hatte. Ich befestigte ein paar lose Schindeln, reparierte ein kaputtes Insektengitter, ersetzte eine Verandastufe, die zu faulen begonnen hatte.
Sheila stand da und sah mir zu, wie ich das Brett zurechtschnitt. Als der Lärm der Säge verstummt war, sagte sie: »Wenn dir die Arbeit hier ausgeht, dann kannst du ja bei den Nachbarn weitermachen, damit du dich nicht um den Kram deines Vaters kümmern musst. Der Kamin der Jacksons fängt auch an zu bröckeln.«
Sie wusste immer, wenn ich mich vor etwas drückte. Und genau das tat ich auch jetzt. Aber ich drückte mich vor mehr als einer unangenehmen Aufgabe.
Ich drückte mich vor der Wahrheit.
Ich hatte hier rumgesessen, Liegengebliebenes abgearbeitet, Nachrichten vom Anrufbeantworter abgeschrieben – aber das eigentliche Problem hatte ich nicht angepackt. An der nächsten Straßenecke lauerte schon die Trichterwolke des Tornados, aber ich kehrte brav das Laub in der Einfahrt zusammen.
Die längste Zeit hatte ich alle damit genervt, dass Sheila nicht der Typ gewesen war, sich betrunken ans Steuer zu setzen. Und nun hatte ich den Verdacht, dass Sheila gezwungen worden war zu tun, was sie getan hatte. Meine Phantasie quälte mich mit grauenhaften Bildern. Bilder, so schrecklich wie in meinem Alptraum. In jeder wachen Minute machten sie sich in meinem Kopf breit.
Jemand hatte Sheila etwa Furchtbares angetan. Das glaubte ich jetzt.
Jemand steckte hinter ihrem Tod. Hatte ihn irgendwie inszeniert.
»Jemand hat sie umgebracht«, sagte ich.
Laut.
»Jemand hat Sheila ermordet.«
Ich hatte nichts Konkretes. Keine Beweise. Ich hatte nur dieses Bauchgefühl, das im Strudel der Ereignisse um Ann Slocum, ihren Mann, diesen Sommer, Belinda und die zweiundsechzigtausend, die Sheila für sie hätte überbringen sollen, immer stärker geworden war.
Alles deutete in eine Richtung.
Und ich war überzeugt, diese Richtung hieß Mord. Jemand hatte meine Frau betrunken in ihren Wagen gesetzt und sterben lassen.
Und mit ihr noch zwei andere Menschen.
Ich war mir so sicher, wie man sich nur sein konnte.
Ich griff zum Telefon, wählte die Nummer der Polizei Milford und fragte nach Detective Rona Wedmore.
»Der Unfall Ihrer Frau hat sich außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs ereignet«, sagte mir Wedmore beim Kaffee eine Stunde später. Wir hatten uns bei McDonald’s an der Bridgeport Avenue verabredet. Sie dachte, ich hätte sie angerufen, um zu hören, ob die Polizei herausgefunden habe, wer auf mein Haus geschossen hatte. Ich sagte ihr, wenn sie es mir sagen könnte, dann würde ich es gerne wissen, ansonsten hätte ich eigentlich etwas anderes mit ihr zu besprechen.
»Sie sehen mir nicht wie jemand aus, der das zum Vorwand nimmt, sich mit einer Sache nicht auseinanderzusetzen«, sagte ich.
»Das ist kein Vorwand«, sagte sie. »Das ist eine Tatsache. Wenn ich anfange, in fremden Fällen rumzuschnüffeln, mache ich mich sehr unbeliebt.«
»Und wenn es einen Zusammenhang mit einem Fall vor Ort gäbe?«
»Nämlich?
»Den von Ann Slocum.«
»Erzählen Sie.«
»Ich glaube nicht, dass der Tod meiner Frau ein Unfall war. Und deshalb frage ich mich, ob nicht vielleicht auch Anns Tod nicht das ist, wonach es aussieht. Die beiden waren Freundinnen, unsere Töchter spielten miteinander, beide hatten die gleiche Nebenbeschäftigung, obwohl die eine sich stärker engagierte als die andere. Es gibt einfach viel zu viele Zufälle bei dem Ganzen. Und Sie wissen, dass Darren halb übergeschnappt ist wegen des Anrufs, den Kelly gehört hat. Gut, ich bin kein Polizist, aber irgendwie ist es doch wie mit Häusern. Man kommt rein, und für die meisten Leute sieht alles ganz normal aus. Aber wenn ich reingehe, dann sehe ich Sachen, die den anderen nicht auffallen. An einer Stelle ist der Verputz vielleicht nicht so glatt, wie er sein sollte, weil da einer drübergeschmiert hat, um zu vertuschen, dass Wasser reinkommt, oder man spürt, wie die Bodenbretter sich unter den Arbeitsschuhen bewegen, und man weiß, dass da kein Estrich drunter ist. Man weiß einfach, dass da was nicht stimmt. Und das ist genau das Gefühl, das ich beim Unfall meiner Frau habe. Und bei dem von Ann.«
»Haben Sie irgendwelche Beweise, Mr. Garber, dass Ann Slocums Tod kein Unfall war?«
»Wie zum Beispiel?«
»Etwas, das Sie gesehen oder gehört haben, irgendetwas Konkretes zur Untermauerung Ihrer Behauptung.«
»Was Konkretes?«, wiederholte ich. »Ich sage Ihnen, was ich glaube. Ich sage Ihnen, was ich für wahr halte.«
»Ich brauche mehr als das«, sagte Wedmore.
»Gehen Sie nie nach Gefühl?«, fragte ich sie.
»Wenn es meines ist, schon«, antwortete sie mit dem Anflug eines Lächelns.
»Kommen Sie, wollen Sie mir weismachen, dass Sie nicht auch daran glauben? Ann Slocum verlässt nach diesem mehr als merkwürdigen Anruf mitten in der Nacht das Haus und landet im Hafenbecken. Und ihr Mann schluckt das alles, ohne Fragen zu stellen?«
»Er ist Polizist«, sagte Wedmore. Stellte sie sich wirklich hinter ihn, oder spielte sie nur Advocatus Diaboli?
»Ich bitte Sie«, sagte ich. »Ich habe von den Anschuldigungen gegen ihn gehört. Und Sie wissen bestimmt, dass er und seine Frau nebenbei einen Handel mit Raubkopien betrieben haben. So was kauft man nicht en gros bei Walmart ein, und das Startkapital dafür bekommt man auch nicht bei der Citibank. Da muss man sich schon mit sehr zwielichtigen Zeitgenossen einlassen. Die Slocums haben auch noch andere Leute eingespannt, um gefälschtes Zeug zu verkaufen, und nicht nur Handtaschen. Verschreibungspflichtige Medikamente, zum Beispiel. Und Baumaterial.«
In diesem Moment kam mir zum ersten Mal in den Sinn, dass die Slocums ohne weiteres auch die Elektroteile geliefert haben konnten, wegen denen das Haus abgebrannt war, das ich gerade erst gebaut hatte. Ich erinnerte mich vage, dass Sally einmal erzählt hatte, Theo hätte irgendwas bei den Slocums repariert. Und sollte tatsächlich Doug die Teile beschafft haben, dann gab es auch da eine Verbindung: Betsy und Ann hatten sich bei der Taschenparty kennengelernt, die Ann bei uns veranstaltet hatte. Und es war auch nicht ausgeschlossen, dass sie sich schon davor kannten.
»An dem Tag, an dem Sheila starb«, sagte ich, »wollte sie etwas für Belinda erledigen. Sie wollte einem Mann namens Sommer Geld von Belinda übergeben. Aber dieses Geld wurde nie übergeben. Dafür hatte Sheila diesen Unfall. Und dieser Sommer ist ein ziemlich brutaler Typ. Er war vor ein paar Tagen bei mir, und Arthur Twain sagt, er ist ein Verdächtiger in einem Dreifachmord in New York.«
»Was?« Wedmore hatte ihr Notizbuch gezückt und alles mitgeschrieben. Als ich zu Twain und dem dreifachen Mord kam, blickte sie auf. »Wer, zum Teufel, ist Arthur Twain, und was für ein Dreifachmord?«
Ich berichtete ihr vom Besuch des Privatermittlers und dem, was er mir erzählt hatte.
»Und dann ist Sommer bei Ihnen aufgetaucht? Hat er Sie bedroht?«
»Er dachte, ich hätte das Geld. Dass es bei dem Unfall vielleicht gar nicht verbrannt ist.«
»Ist es bei dem Unfall verbrannt?«
Ich zögerte. »Nein, ich hab’s gefunden. Bei uns zu Hause. Sheila hatte es gar nicht mitgenommen.«
»Menschenskind«, sagte Wedmore. »Über wie viel Geld reden wir da eigentlich?« Ich sagte es ihr. Ihr fielen fast die Augen aus dem Kopf. Doch sie fasste sich im Bruchteil einer Sekunde. »Und Sie haben es ihm gegeben?«
»Belinda hatte mich bereits angerufen und alle möglichen Andeutungen gemacht, über ein Päckchen mit Geld. Ich glaube, Sommer hatte ihr schon die Hölle heißgemacht, damit sie ihre Schulden bezahlt. Als ich das Geld fand, habe ich es Belinda gegeben, damit sie den Typen loswird. Von diesem Geld wollte ich bestimmt nichts.«
Wedmore legte den Stift aus der Hand. »Vielleicht ging es bei dem Anruf ja darum.«
»Bei dem, den Kelly gehört hat?«
»Nein, bei dem, von dem Darren erzählt hat. Kurz bevor Mrs. Slocum aus dem Haus ging, hat Belinda Morton sie angerufen. Aber die hat mit keinem Wort erwähnt, dass sie deswegen angerufen hat.«
»Sie haben mit ihr gesprochen?«
Wedmore nickte. »Ich war bei ihr zu Hause.«
Ich überlegte hin und her, ob ich ihr von George Mortons Verhältnis mit Ann Slocum erzählen sollte und dass sie ihn erpresst hatte. Diese Information zurückzuhalten war im Moment mein Druckmittel gegen Morton, damit er Belinda dazu brachte, ihre Aussage über Sheila zurückzunehmen. Ich überlegte, was dafür sprach, Wedmore wirklich alles zu erzählen. Dann dachte ich an die finanzielle Zukunft, die meine Tochter und mich erwartete, und kam zu dem Schluss, dass ich, zumindest im Augenblick, an meine eigenen Interessen denken musste. Sollte sich aber herausstellen, dass Mortons Fesselspielchen irgendetwas mit Sheilas Ende zu tun hatten – ich konnte es mir zwar nicht vorstellen, außer Sheila hatte wirklich von den beiden gewusst und sich damit in Gefahr gebracht –, dann würde ich Wedmore alles erzählen, was ich wusste.
»Wollten Sie gerade etwas sagen?«, fragte sie.
»Nein. Das wär’s im Moment.«
Wedmore machte sich noch ein paar Notizen, dann sah sie mich an.
»Mr. Garber«, sagte sie, in demselben Ton, den mein Arzt anschlug, wenn er mir sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, bis die Befunde kämen, »ich glaube, Sie gehen jetzt am besten nach Hause. Ich kümmere mich darum. Ich werde ein bisschen rumtelefonieren.«
»Finden Sie diesen Sommer«, sagte ich. »Bringen Sie Darren Slocum aufs Revier und stellen Sie ihm ein paar drängende Fragen.«
»Ich bitte Sie, sich zu gedulden und mich meine Arbeit tun zu lassen«, erwiderte sie.
»Was machen Sie als Nächstes? Wenn Sie hier weggehen?«
»Ich fahre nach Hause und mache Abendessen für mich und meinen Mann.« Sie sah hinüber zum Tresen. »Oder vielleicht nehme ich was von hier mit. Und morgen widme ich mich Ihren Anliegen mit der ganzen Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt.«
»Sie halten mich für durchgeknallt«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie und sah mir direkt in die Augen. »Keineswegs.«
Ich hatte zwar das Gefühl, dass sie mich ernst nahm, doch ihre Ankündigung, sich erst morgen mit der ganzen Sache zu beschäftigen, war mir zu wenig.
Also musste ich sie heute Abend selbst in die Hand nehmen.
Wedmore sagte, sie würde sich melden, stand auf und stellte sich in die Schlange vor dem Tresen. Ich beobachtete sie einen Augenblick, dann erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. Ich musste zweimal hinsehen.
Vor ihr standen zwei Jugendliche in der Schlange, die sich gegenseitig herumschubsten und dabei die Augen nicht von einem iPhone oder etwas in der Art ließen, das einer der beiden in der Hand hielt. Einen der Jungen erkannte ich. Er hatte neben Bonnie Wilkinson im Supermarkt gestanden, als ich mit ihr zusammenstieß. Er hatte dabeigestanden, als sie mir sagte, ich würde bekommen, was ich verdiente. Und kurz darauf bekam ich die Forderung ihrer Anwälte.
Das war Corey Wilkinson. Der Junge, dessen Vater und Bruder tot waren, weil Sheilas Wagen ihnen in der Ausfahrt im Weg stand.
Ich wollte hier nicht sitzen, wenn die beiden mit ihrem Essen vorbeigingen. Ich konnte ihn nicht ansehen.
Ich saß in meinem Pick-up und wollte schon den Motor anlassen, als die beiden aus dem Lokal kamen, jeder mit einer braunen Papiertüte und einem Getränk in der Hand. Schnell überquerten sie den Parkplatz und stiegen in einen kleinen silbernen Wagen, Corey auf der Beifahrerseite, der andere Junge setzte sich ans Steuer.
Der Wagen war ein VW Golf, ein Modell aus den späten neunziger Jahren. Die Spitze der kurzen, dicken Antenne, die hinten aus dem Dach ragte, zierte ein gelber Ball, etwas kleiner als ein Tennisball. Als sie an mir vorüberfuhren, sah ich den Smiley, der daraufgemalt war.