Vierzig
Ich stand in der Diele und überlegte, wie ich mit dem Eindringling verfahren sollte, der sich in meiner Küche zu schaffen machte.
Ich könnte hineinstürzen und das Überraschungsmoment nutzen. Doch möglicherweise wartete der ungebetene Gast schon auf mich. Und wenn es Sommer war, der auf mich wartete, dann hatte er, wie ich wusste, eine Waffe. Ich nicht. Also nicht unbedingt die beste Idee.
Ich könnte mich erkühnen, »Wer ist da?« zu rufen. Aber das hatte dieselben Nachteile wie die erste Strategie. Wenn jemand in der Küche auf mich wartete, dann wäre es für ihn genauso einfach, herauszukommen und mich abzuknallen, wie drinnen darauf zu warten, dass ich mich als Zielscheibe anbot.
Eine dritte Variante schien mir am vernünftigsten. Ganz leise das Haus wieder zu verlassen und die Polizei zu verständigen. Geräuschlos griff ich nach dem Handy in meiner Jacke. Weil jedoch das Piepsen der Tasten beim Wählen der Notrufnummer den Eindringling auf mich aufmerksam machen könnte, beschloss ich, damit zu warten, bis ich draußen war.
Ich drehte mich gerade um, um hinauszuschlüpfen, da hörte ich den schrillen Schrei einer Frau.
»O Gott! Mir ist fast das Herz stehengeblieben!«
Sie stand in der Küchentür, eine Flasche Bier in einer Hand, einen Teller mit Knabbergebäck und Käse in der anderen.
Auch mein Herz war nahe dran, mir den Dienst zu versagen, aber ich konnte einen Schrei unterdrücken. »Himmel, Joan, was machst du denn hier?«
Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Bist du auf Zehenspitzen gegangen oder wie? Ich hab dich gar nicht reinkommen hören.«
»Joan.«
»Is ja gut, is ja gut. Jetzt nimm doch erst mal das Bier hier.« Lächelnd kam sie mir zwei Schritte entgegen. Sie trug enge Jeans und wieder das Oberteil, das Ausblick auf ein Stück BH gab. »Du siehst aus, als könntest du’s brauchen. Eigentlich wollte ich mir das einverleiben, während ich auf dich warte, aber jetzt nimm du’s, ich mach mir noch eins auf. Ich hab mir gedacht, ein bisschen was zum Knabbern wär vielleicht auch nicht schlecht.«
»Wie bist du hier reingekommen?«
»Was? Hat Sheila dir das nie gesagt?«
»Was gesagt?
»Dass ich einen Schlüssel habe. Wir hatten beide einen Schlüssel von der anderen, für alle Fälle. Na, zum Beispiel, wenn Kelly nach der Schule zu mir kam, aber was von zu Hause brauchte. Oder so was. Kelly ist nicht da, oder? Ich meine, ich hab gesehen, dass du einen kleinen Koffer für sie in den Wagen getan hast, da dachte ich mir, sie fährt vielleicht ein paar Tage zu Fiona, nach dem Schuss auf das Haus und so. Habt ihr’s so gemacht? Das ist sehr vernünftig, ganz bestimmt.«
Ich stand noch ganz benommen da. »Geh nach Hause, Joan.«
Ihre Gesichtszüge entgleisten. »Es tut mir leid. Ich weiß doch, was du gerade durchmachst, und da dachte ich, es muss doch schon ewig her sein, dass jemand etwas Nettes für dich getan hat. Das stimmt doch, oder? Sheila hat mir erzählt, dass ihre Mutter nie mit dir warmgeworden ist, deshalb weiß ich, dass sie dir in den vergangenen Wochen ganz sicher kein Trost gewesen sein kann.«
»Carl Bain hat keine Frau«, sagte ich. »Zumindest keine, mit der er zusammenlebt. Sie ist abgehauen, als Carlson noch ein Baby war.«
Joan stand wie erstarrt da. Der Teller mit dem Salzgebäck und dem Käse schien plötzlich einen Zentner zu wiegen.
»Warum hast du mir dieses Märchen erzählt?«, fragte ich sie. »Denn es war doch ein Märchen, oder? Der Kleine hat nie ein Wort davon gesagt, dass sein Vater seiner Mutter wehgetan hat. Und du hast nie mit Sheila darüber gesprochen, was du tun sollst. Das war alles erstunken und erlogen, stimmt’s? Das hast du erfunden.«
Joans Augen füllten sich mit Tränen.
»Warum in aller Welt?«, fragte ich, obwohl ich es mir eigentlich schon denken konnte.
Eine Träne rollte ihr die Wange herab. »Sag mir, dass du nicht mit ihm geredet hast.«
»Ist doch völlig egal, woher ich es weiß. Ich weiß es und Punkt. So was kannst du doch nicht machen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das geht einfach nicht.« Ich nahm ihr das Bier und den Teller ab und trug beides in die Küche. Als ich mich umdrehte, stand sie da und wirkte auf einmal sehr klein.
»Ich glaube immer noch, eines Tages kommt er zur Tür herein«, sagte sie. »Die Bohrinsel ist zwar untergegangen, aber irgendwie konnte Ely sich an einem Teil festhalten, und vielleicht hat ihn irgendein Schiff rausgefischt, aber er hatte keinen Ausweis, und vielleicht hat er sein Gedächtnis verloren, wie in dem Film mit Matt Damon, kennst du den? Aber dann kehrt seine Erinnerung zurück, und er kommt heim.« Sie kramte ein Taschentuch aus einer Hosentasche, tupfte sich die Augen ab und schneuzte sich. »Ich weiß ja, dass das nicht passieren wird. Ich weiß es. Aber er fehlt mir.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Es tut mir leid.«
»Ely war immer für mich da. Er hat mich beschützt. Hat sich um mich gekümmert. Das macht jetzt niemand mehr. Ich … ich wollte einfach vor irgendwas beschützt werden, wollte jemanden haben, der mich beschützt …«
Joan versuchte, mich anzusehen, konnte es aber nicht. »Es hat sich so gut angefühlt, weißt du?« Ihr Gesicht verzog sich, und mehr Tränen flossen. »Zu wissen, dass du da bist. Dass ich bei dir anklopfen kann.«
»Du kannst bei mir anklopfen«, sagte ich. »Wenn es etwas Reales ist.«
»Und umgekehrt wollte ich auch für jemand da sein. Ely hat sich um mich gekümmert, aber ich hab mich auch um ihn gekümmert. Und jetzt, nach allem, was dir passiert ist, brauchst du das auch. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Ich dachte … ich dachte, das könnte ich sein. Aber was ich noch gesagt habe, das mit dem Geld, das ich bekomme, das stimmt, ich schwöre bei Gott. Ich bekomme eine satte Abfindung.«
Ich wollte ein paar Schritte auf sie zumachen, hielt mich aber zurück. Das war eine Situation, die sehr schnell sehr heikel werden konnte, wenn ich nicht gegensteuerte.
»Joan«, sagte ich sanft, »du bist ein guter Mensch, ein gütiger Mensch.«
»Mir ist nicht entgangen, dass du nicht Frau gesagt hast.«
»Das bist du natürlich, keine Frage«, sagte ich. »Aber … ich will das nicht. Nicht nur mit dir nicht, mit niemandem. Ich bin noch nicht so weit. Ich bin sogar noch sehr, sehr weit weg davon. Und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauert, bis sich das ändert. Das Einzige, was mir jetzt am Herzen liegt, das Einzige, worum ich mich jetzt kümmern möchte, ist meine Kleine.«
»Klar«, sagte Joan. »Das versteh ich.«
Wir standen noch einen Augenblick so da. Schließlich sagte Joan: »Dann geh ich jetzt, ja?«
»Ja.«
Sie wandte sich zur Tür.
»Joan«, sagte ich.
Sie blieb stehen, und da war dieser Blick in ihren Augen, dieser Schimmer von Hoffnung, dass ich es mir vielleicht anders überlegt hatte, dass ich, so wie sie, einen Schlussstrich unter meine Einsamkeit und meinen Schmerz und meine Trauer ziehen wollte, dass ich sie in den Arm nehmen und nach oben führen würde und dass sie mir morgen Frühstück machen würde, so wie sie es für Ely getan hatte.
»Der Schlüssel«, sagte ich.
Sie blinzelte. »Oh, ja, klar.« Sie fischte ihn aus ihrer Hosentasche, legte ihn auf den Küchentisch und ging.
Wie oft, überlegte ich, war Joan schon herübergekommen, wenn ich nicht da war, und was hatte sie wohl getrieben?
Einen Augenblick überlegte ich auch, ob sie sich eventuell für einen mir bekannten Wirtschaftslehrer interessieren würde.