Zwanzig
»Interessant ist es auf jeden Fall«, sagte Edwin Campbell. Er nahm seine Brille mit der Metallfassung ab und legte sie neben das Schriftstück, das mir vor zwei Stunden zugestellt worden war. Er schüttelte den Kopf. »Ein bisschen überzogen, wie mir scheint, aber interessant.«
»Sie meinen also, ich muss mir deswegen keine Sorgen machen?«, fragte ich ihn und beugte mich vor. Wir saßen auf Ledersesseln im Besprechungszimmer seiner Kanzlei. Edwin war Ende sechzig und viele Jahre der Anwalt meines Vaters gewesen. Ich nahm auch heute noch seine Dienste in Anspruch, nicht nur aus Familientradition und Loyalität, sondern weil er sein Handwerk verstand. Sofort nach Zustellung der Papiere hatte ich ihn angerufen, und er hatte mir gleich einen Termin gegeben.
»Also, so weit würde ich auch wieder nicht gehen«, sagte Campbell. »Es gibt genügend Fälle dieser Art, die jahrelang von einer Instanz zur nächsten weitergereicht werden, und die Beschuldigten Unsummen für die Verteidigung kosten. Wir müssen also eine Erwiderung schreiben. Sie werden beweisen müssen, dass du wusstest, dass Sheila Alkoholikerin war, und dass du sehr wahrscheinlich wusstest, dass sie sich in alkoholisiertem Zustand ans Steuer eines Wagens setzen würde.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass mir nie –«
Edwin winkte ab. »Ich weiß, was du gesagt hast. Und ich glaube dir. Aber ich glaube auch – und ich bin sicher, du hast das schon getan –, dass du unbedingt noch einmal über alles, was Sheila betrifft, gründlich nachdenken musst. Gibt es etwas, das du übersehen hast, etwas, das du vielleicht ignoriert hast, weil du es nicht wahrhaben wolltest? Etwas, was du dir nicht eingestehen willst? Jetzt musst du wirklich ehrlich zu dir selbst sein, auch wenn es weh tut, denn wenn es da etwas gibt, auch nur das winzigste Fitzelchen eines Beweises, dass du Grund zur Annahme hattest, Sheila sei fähig zu tun, was sie getan hat, dann müssen wir uns dem stellen und sehen, wie wir damit umgehen.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, da ist nichts.«
»Du hast deine Frau nie alkoholisiert gesehen?«
»Was, nie?«
»Das war meine Frage.«
»Doch, Scheiße, natürlich ist es vorgekommen, dass sie so viel getrunken hatte, dass sie den Alkohol spürte. Wer denn nicht?«
»In welchen Situationen?«
»Keine Ahnung. Weihnachten, Familienfeiern, ein Hochzeitstag, wenn wir ausgegangen sind. Partys.«
»Dann hatte Sheila also die Angewohnheit, bei all diesen Anlässen zu viel zu trinken?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Herrgott, Edwin.«
»Ich spiele hier den Advocatus Diaboli. Aber du siehst, was rauskommen kann, wenn man nicht aufpasst. Ich weiß und du weißt, dass es einen Riesenunterschied macht, ob man sich zu Weihnachten ein paar Gläser gönnt oder ob man sich ans Steuer setzt, wenn man nicht sollte. Aber alles, was Bonnie Wilkinson an Beweisen braucht, ist eine Handvoll Zeugen, die Sheila erlebt haben in solchen Situationen, bei denen vielleicht auch du dabei gewesen bist.«
»Da wird sie sich aber ganz schön ranhalten müssen.«
»Was ist mit Belinda Morton?«
»Hah? Belinda war Sheilas Freundin. Was soll mit ihr sein?«
»Ich hab ein bisschen herumtelefoniert, bevor du gekommen bist, unter anderem mit Barnicke & Trundle. Das ist die Kanzlei, die Mrs. Wilkinson vertritt, und sie hatten keine Hemmungen mir vorzuschlagen, die ganze Sache außergerichtlich zu regeln.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Sie haben bereits eine Aussage von Mrs. Morton, dass, wenn sie und Sheila und noch eine Frau sich zum Mittagessen trafen, sie sich ziemlich beschickert haben.«
»Dann haben sie halt mehr als ein Glas getrunken. Sheila ist von diesen Treffen immer mit dem Taxi heimgefahren. Normalerweise ist sie schon mit dem Taxi hingefahren, weil sie wusste, dass sie einiges trinken würde.«
»Wirklich?«, fragte Edwin. »Dann ging sie also zum Mittagessen aus, in dem vollen Bewusstsein, dass sie viel trinken würde?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben sich ja nicht vorsätzlich betrunken. Sie hatten nur ihren Spaß beim Mittagessen. Sie spielen das viel zu hoch.«
»Nicht ich werde es sein, der das tut.« Er schwieg einen Augenblick. »Dann ist da noch die Sache mit dem Marihuana.«
»Mit dem was?«
»Anscheinend hat Belinda gesagt, dass sie und Sheila welches geraucht haben.«
»Belinda hat das gesagt?« Die Frau, die angeblich eine Freundin meiner Frau war?
»So wurde es mir berichtet. Soweit ich verstanden habe, geht es um einen einmaligen Vorfall. Vor einem Jahr, bei den Mortons, hinten im Garten. Anscheinend ist der Ehemann dazugekommen und war sehr verstört.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Was tut sie uns da an? Kelly und mir?«
»Ich weiß es nicht. Wollen wir ihr zugutehalten, dass sie sich der Tragweite ihrer Bemerkungen nicht bewusst war, als sie sie machte. Anscheinend war ihr Mann der Meinung, sie habe die Pflicht, über diese Vorfälle zu sprechen.«
Ich ließ mich in meinen Stuhl sinken. »Der Typ ist so ein Schisser. Selbst wenn sie beweisen könnten, dass Sheila beim Mittagessen gern ein Glas Wein oder einen Cosmopolitan getrunken hat, von da bis zum Beweis, dass sie sich in der Nacht des Unfalls betrunken ans Steuer gesetzt hat, ist es noch ein ziemlich weiter Weg.«
»Wie ich schon sagte, es ist ein bisschen überzogen. Aber in einem Fall wie diesem ist alles möglich, also dürfen wir ihn nicht auf die leichte Schulter nehmen. Überlass jetzt erst mal alles mir. Ich werde eine Erwiderung aufsetzen, und die können wir dann besprechen.«
Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben flöge mir um die Ohren. Kaum glaubt man, schlimmer kann’s nicht mehr werden …
Ich merkte, wie ich noch mehr zusammensackte. »Gott, was für eine Woche.«
»Was?«, fragte Edwin, widerstrebend, wie mir schien.
»Ich weiß noch immer nicht, wie das mit der Versicherung für dieses Haus weitergeht, das mir abgebrannt ist, einer meiner Mitarbeiter steht vor dem finanziellen Aus und geht mich die ganze Zeit um Vorschüsse an, wegen Sheilas Unfall rufen die Kinder in der Schule meiner Tochter ›Säuferkind‹ hinterher, die Mutter ihrer besten Freundin ist vor ein paar Tagen bei einem Unfall ums Leben gekommen, und ihr Mann nervt mich wegen eines Anrufs, den Kelly mit angehört hat, als sie zum Übernachten dort war. Und jetzt wollen mich die Wilkinsons mit ihrer Klage endgültig ruinieren.«
»Brrr«, sagte Edwin.
»Kann man wohl sagen.«
»Nein, geh noch mal ein Stück zurück.«
»Wie weit?«
»Die Mutter der Freundin deiner Tochter ist ums Leben gekommen und weiter?«
Ich erzählte ihm von Ann Slocums Tod und dass Darren Slocum jetzt unbedingt wissen wollte, was Kelly gehört hat, als Ann im Schlafzimmer telefonierte.
»Ann war die Dritte bei diesen Mittagessen«, fügte ich hinzu.
»Also, das ist interessant«, sagte Edwin.
»Ja.«
»Sagtest du Darren Slocum?«
»Richtig.«
»Von der Polizei in Milford?«
»Wieder richtig. Kennen Sie ihn?«
»Ich kenne seinen Ruf.«
»Das klingt aber gefährlich«, sagte ich.
»Ich weiß von mindestens zwei internen Ermittlungen gegen ihn. Einem Mann hat er während der Festnahme nach einer Kneipenschlägerei den Arm gebrochen. Bei der anderen Sache haben sie ihn im Zusammenhang mit verschwundenem Drogengeld aufs Korn genommen, aber da bin ich mir ziemlich sicher, dass es zu nichts geführt hat. Es gab mehrere Polizisten, die Zugriff auf das Beweismaterial hatten, also konnten sie ihm nichts anhängen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Glaubst du, ich sitze den ganzen Tag hier und pussel an meiner Briefmarkensammlung rum?«
»Dann ist er also ein böser Cop?«
Edwin antwortete nicht gleich, so als ob noch andere Leute im Raum wären und er keine Verleumdungsklage riskieren wollte.
»Sagen wir, es liegt ein Schatten auf ihm.«
»Sheila war mit seiner Frau befreundet.«
»Über seine Frau weiß ich nicht viel. Nur, dass sie nicht seine erste war.«
»Ich wusste gar nicht, dass er schon mal verheiratet war.«
»Tja. Im Zusammenhang mit dem Ärger, den er sich da eingehandelt hat, war auch davon die Rede, dass er vor Jahren schon mal verheiratet war.«
»Scheidung?«
»Sie ist gestorben.«
»Woran?«
»Keine Ahnung.«
Ich dachte darüber nach. »Vielleicht ergibt das alles langsam einen Sinn. Er ist ein zwielichtiger Polizist, und seine Frau verkauft von zu Hause aus gefälschte Designerhandtaschen. Ich glaube, die haben ganz gut verdient mit diesen Taschen.« Dass das Ganze wahrscheinlich auch am Finanzamt vorbeilief, erwähnte ich nicht. Wer im Glashaus sitzt und so.
Edwin spitzte die Lippen. »Könnte sein, dass man bei der Polizei wenig Verständnis dafür aufbringt, dass er und seine Frau gefälschte Produkte verkaufen. Das ist illegal. Nicht der Besitz so einer Tasche, aber die Herstellung und der Verkauf.«
»Als Slocum Samstagvormittag zu mir kam, war er ziemlich neben der Spur. Für ihn gab es anscheinend einen Zusammenhang zwischen dem Anruf, den seine Frau erhalten hatte, und dem Unfall.«
»Und zwar?«
»Er sah das wohl so: Hätte sie nicht das Haus verlassen, um sich mit dem Anrufer zu treffen, hätte sie diese Reifenpanne vielleicht irgendwann und irgendwoanders gehabt, wäre nicht ins Wasser gefallen und folglich nicht gestorben.«
Wieder spitzte Edwin die Lippen.
»Woran denken Sie?«
»Weißt du, ob die Polizei den Fall Ann Slocum als Tod unter ungeklärten Umständen behandelt?«
»Keine Ahnung.«
Edwin presste die Lippen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. So hatte ich ihn schon früher gesehen, wenn er tief in Gedanken war.
»Glen«, begann er zögernd.
»Ich höre.«
»Glaubst du an Zufälle?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich. Ich ahnte, worauf er hinauswollte.
»Deine Frau kommt bei einem Unfall ums Leben, der, ich glaube, da sind wir uns einig, schwer nachvollziehbar ist. Und weniger als einen Monat später stirbt ihre Freundin unter mysteriösen, wenn nicht genauso wenig nachvollziehbaren Umständen bei einem anderen Unfall. Ich bin sicher, das ist deiner Aufmerksamkeit nicht entgangen.«
»Durchaus nicht, Edwin«, antwortete ich. In mir brach ein Tumult los. »Aber abgesehen von dieser Feststellung weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll. Sehen Sie, worüber ich Tag und Nacht grüble, ist, wie Sheila so etwas tun konnte – wie sie gestorben ist. Was habe ich übersehen? Wie kann es sein, dass ich nicht wusste, dass sie ein Problem hatte? Herrgott, Edwin, soviel ich weiß, mochte sie Wodka überhaupt nicht, trotzdem lag eine leere Flasche in ihrem Wagen.«
Edwin trommelte mit den Fingern seiner linken Hand auf den Tisch. Er warf einen Blick auf das Bücherregal. »Du weißt, ich war schon immer ein Bewunderer von Arthur Conan Doyle. Ein Fan, könnte man sagen.«
Ich folgte seinem Blick. Ich stand auf, stellte mich vor das Regal und hielt den Kopf etwas schräg, um zu lesen, was auf den Bücherrücken stand. Eine Studie in Scharlachrot, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, Das Zeichen der Vier.
»Die sehen echt alt aus«, sagte ich. »Darf ich?«
Edwin nickte, und ich zog eines der Bücher heraus. Vorsichtig schlug ich es auf. »Sind das alles Erstausgaben?«
»Nein. Aber ich habe welche, eingeschweißt und sicher verwahrt. Sogar ein vom Autor signiertes. Kennst du seine Bücher?«
»Kann ich nicht behaupten – das mit dem Hund vielleicht. Von Baskerville, stimmt’s? Aus meiner Kinderzeit. Und Sheila und ich haben uns diesen Film angesehen, den mit dem Typen, der auch den Iron Man gespielt hat.«
Edwin schloss kurz die Augen. »Ein grauenhaftes Machwerk«, sagte er. »Nicht Iron Man, der hat mir gefallen.« Er wirkte enttäuscht, vielleicht ob der Lücken in meiner literarischen Bildung. Davon gab es einen Haufen.
»Ich will dich eines fragen – ganz ohne Umschweife: So, wie du Sheila kennst, besteht deiner Meinung nach auch nur die geringste Möglichkeit, dass sie vorsätzlich eine Flasche Wodka trinkt und dann den Unfall verursacht, der sie und zwei andere Menschen das Leben kostet?«
Ich schluckte. »Nein. Das ist unmöglich. Und trotzdem –«
»Im Zeichen der Vier sagt Holmes, und ich glaube, ich kann es wörtlich zitieren: ›Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.‹ Ist dir dieser Satz geläufig?«
»Ich glaube, ich hab ihn schon mal gehört. Sie wollen also sagen, wenn es unmöglich ist, dass Sheila so etwas tun würde, dann muss es eine andere Erklärung für das geben, was geschehen ist, selbst wenn sie … wirklich absurd klingt.«
Edwin nickte. »In der Kurzversion.«
»Was für andere Erklärungen könnte es denn geben?«
Edwin schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen solltest du meiner Meinung auf jeden Fall in Erwägung ziehen, dass es welche gibt.«