Vierzehn
Ich ging hinaus auf die Veranda und wartete auf Darren Slocum.
Meine Neugier war geweckt. Was gab es zwischen Slocum und mir zu bereden? Ich hätte gedacht, er hätte im Moment andere Prioritäten. Einen Sarg auszusuchen, zum Beispiel.
Fünf Minuten später bog Slocums roter Pick-up schon in unsere Auffahrt und blieb vor dem Haus stehen. »Darren«, sagte ich und ging ihm die Verandastufen hinunter entgegen. Er kam auf mich zu, und ich hielt ihm die Hand hin. »Das mit Ann tut mir ja so leid.«
Wir schüttelten uns die Hände, Slocum beantwortete meine Beileidsbezeugung mit einem Nicken. »Ja«, sagte er. »Eine entsetzliche Geschichte.«
»Wie geht es Emily?«
»Es ist eine Katastrophe. Von einem Moment auf den anderen hat die Kleine keine Mutter mehr. Aber Sie wissen ja, wie das ist.«
»Was ist passiert, Darren?
Er schob seinen Unterkiefer vor und sah nach oben, als erhoffe er sich himmlischen Beistand für das, was ihm jetzt bevorstand. »Es gab einen Unfall.«
Bei dem Wort lief mir ein unerwarteter Schauer über den Rücken. »Einen Autounfall?«
»Sozusagen, aber nicht ganz«, sagte er und senkte wieder den Kopf, um mich anzusehen.
»Wie meinen Sie das?«
»Sie ist die High Street entlang zum Hafen runtergefahren, und anscheinend hatte sie einen Platten auf der Beifahrerseite. Sie ist stehen geblieben und ausgestiegen, um nachzusehen – die Tür stand offen, und der Motor lief noch. Ihre Tasche lag im Auto, unberührt. Auf jeden Fall stand sie ganz nah an der Pierkante, und es sieht so aus, als wäre sie ausgerutscht und ins Wasser gefallen. Ein Bekannter von mir, auch ein Polizist aus Milford, hat sie entdeckt. Direkt unter der Wasseroberfläche hat er sie gefunden.«
»O Gott«, sagte ich. »Das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid.«
»Ja, na ja, danke.«
»Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.«
»Ich dachte, Sie sollten es wissen, wo doch unsere Mädels Freundinnen sind und so.«
»Danke«, sagte ich.
»Weiß Ihre Kleine – Kelly – weiß sie’s schon?«
Ich nickte. »Nachdem ich mit Ihrer – ich nehme an, das war Ihre Schwägerin – telefoniert hatte, wollte ich es ihr sagen, aber sie hatte es schon erfahren, beim Chatten mit ihren Freundinnen, vielleicht sogar von Emily.«
»Verstehe«, sagte er leise. »Muss auch für sie ein Schock gewesen sein.«
»Ja.«
»Ich hab mir überlegt, ob es vielleicht helfen würde, wenn ich mit Kelly rede, ihr selbst sage, was passiert ist.«
»Sie wollen mit Kelly reden?«
»Ja. Ist sie da?«
»Nein. Aber ich habe schon mit ihr gesprochen. Das geht schon klar.« Ich konnte mir nicht einen Grund denken, warum Darren Slocum mit Kelly reden sollte.
Sein Unterkiefer mahlte. »Wann kommt sie denn zurück? Ist sie bei einer anderen Freundin zum Spielen oder so?«
Ein kleiner Muskel neben seinem rechten Auge begann zu zucken. Er stand so unter Strom, dass jeden Moment die Funken fliegen konnten. Darauf war ich nicht scharf, also sprach ich leise und ruhig.
»Darren, selbst wenn sie hier wäre, glaube ich nicht, dass es etwas bringen würde, wenn Sie mit ihr reden. Sie hat gerade erst ihre Mutter verloren, und jetzt hat auch ihre beste Freundin die ihre verloren. Ich glaube, dass ich ihr in dieser Situation am besten helfen kann.«
Seine Enttäuschung war nicht zu übersehen.
»Na gut, Glen, dann will ich es kurz machen.«
Ich wartete.
»Was, zum Teufel, ist gestern Abend passiert?«
Ich stieß mit der Zunge gegen die Innenseite meiner Wange. »Wovon reden Sie, Darren?«
»Von Ihrer Kleinen. Warum wollte sie, dass Sie sie abholen?«
»Sie war ein bisschen angeschlagen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, kommen Sie mir nicht wieder damit. Irgendwas ist passiert.«
»Was immer passiert ist, es ist bei Ihnen passiert. Ich könnte Sie genau dasselbe fragen.«
»Sicher. Ich weiß nicht, was da passiert ist. Aber ich glaube, da war was zwischen meiner Frau und Ihrer Kleinen.«
»Darren, worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich muss es wissen. Ich hab meine Gründe.«
»Hat das irgendwas mit dem Unfall zu tun?«
Wieder bewegte sich seine Kinnlade hin und her, doch diesmal ließ er sich Zeit mit der Antwort. Schließlich sagte er: »Ich glaube, jemand hat meine Frau angerufen. Ich glaube, dass dieser Anruf der Grund war, weshalb sie noch mal rausgefahren ist.«
»Verstehe«, sagte ich.
»Ich muss wissen, wer da angerufen hat.«
Resignierend hob ich die Hände. »Verdammt noch mal, Darren, entweder Sie sagen mir jetzt, was Sie wissen wollen, oder Sie fahren wieder nach Hause zu Ihrer Familie. Ich bin sicher, die brauchen Sie jetzt.«
»Die Mädels haben Verstecken gespielt. Ich glaube, Kelly hat sich in unserem Schlafzimmer versteckt, und vielleicht war sie da, als Ann telefoniert hat. Sie kann mir vielleicht sagen, mit wem Ann gesprochen hat.«
»Das ist doch Irrsinn.«
»Keineswegs. Als Sie rüberkamen und ich mich auf die Suche nach Ihrer Kleinen machte, da fand ich sie mitten in unserem Schlafzimmer. Sie sagte, Ann hat ihr befohlen, da zu bleiben als eine Art Strafe.«
Ich sagte nichts.
»Wenn Kelly was kaputtgemacht oder irgendwas getan hätte, was sie nicht hätte tun sollen, hätte Ann mir das bestimmt erzählt. Aber sie hat kein Wort gesagt, und das ist sonderbar. Kurz bevor sie wegfuhr, hat sie so eine Andeutung gemacht. Und sie hat mich angelogen, was das Telefonat angeht. Sie sagte, das muss Kelly gewesen sein, als sie Sie angerufen hat, aber Emily sagte mir später, dass Kelly ein Handy hat. Stimmt das?«
»Ich hab ihr nach dem Tod ihrer Mutter eins gekauft«, bestätigte ich. »Hören Sie, Darren, ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Woher soll Kelly wissen, mit wem Ann telefoniert hat? Und was spielt das eigentlich für eine Rolle? Es ist ja nicht so, dass jemand sie aus dem Haus gelockt hätte. Ich meine, wenn Sie einen Verdacht in diese Richtung hätten, dann würden Sie das doch der Polizei sagen, oder?«
Als er schwieg, fuhr ich fort: »Und sollten Sie diesen Verdacht tatsächlich haben, dann müsste ich wahrscheinlich mit dem Ermittler reden, der den Unfall Ihrer Frau untersucht, denn ich glaube nicht, dass Sie das sind. So läuft das bei der Polizei ja wohl nicht, oder?«
»Ich habe jedes Recht, alles über die näheren Umstände des Todes meiner Frau zu erfahren.«
Das brachte eine Saite zum Klingen.
Dachte ich nicht genau dasselbe, was Sheila anging? Ihr Tod war ein Unfall, aber die näheren Umstände waren mir suspekt. Hatte ich nicht genau dasselbe getan wie Darren Slocum jetzt? Als ich mit den anderen Kursteilnehmern und dem Lehrer sprach, war ich da nicht auch auf der Suche nach der Wahrheit gewesen? Als ich das Haus auf den Kopf stellte, um rauszufinden, ob meine Frau irgendwo Alkohol versteckt hatte, den ich nicht finden sollte, suchte ich da nicht auch nach einer Antwort?
Wenn es etwas gab, von dem Ann nicht wollte, dass er es zu ihren Lebzeiten wusste, war es nicht vielleicht denkbar, dass er ein Recht hatte, es jetzt zu erfahren, da sie tot war?
Trotzdem, ich wollte da nicht hineingezogen werden. Und am allerwenigsten wollte ich, dass Kelly da hineingezogen wurde.
»Hören Sie …«, setzte ich an. Aber noch ehe ich mir zurechtlegen konnte, was genau ich eigentlich sagen wollte, fiel er mir schon ins Wort.
»Warum haben Sie heute Morgen bei uns angerufen?«
»Wie bitte?«
»Sie haben schon verstanden. Sie haben angerufen, und meine Schwägerin war dran. Sie sagten, Sie wollten mit Ann sprechen. Worüber?«
»Nur …« Noch war ich nicht bereit, die Wahrheit zu sagen. »Ich wollte sie nur fragen, ob sie Kellys Plüschhasen gesehen hat. Hoppy. Aber dann hat sie ihn gefunden.«
»Schwachsinn. Glauben Sie, man kann so lange Polizist sein wie ich und nicht erkennen, wenn man angelogen wird? Wieso haben Sie angerufen? Hat Kelly Ihnen erzählt, was passiert ist? Und Sie wollten mit Ann darüber reden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Himmelherrgott, Darren, warum gucken Sie nicht einfach die Anrufliste Ihres Telefons durch?«
Er lächelte. »So schlau war ich auch schon. Und wissen Sie was? Ann hat die Liste gelöscht. Die eingehenden genauso wie die abgehenden Gespräche. Wie finden Sie das? Deswegen will ich mit Kelly reden.«
Ich versuchte, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. »Ich weiß nicht, was für Probleme Sie und Ann miteinander hatten, und es tut mir leid, wenn Sie welche hatten, aber ich habe nicht das geringste Interesse, mich da hineinziehen zu lassen. Meine Tochter hat in den vergangenen Wochen genug durchgemacht. Sie hat ihre Mutter verloren. Die anderen Kinder – Ihre Tochter Gott sei Dank nicht – sind gemein zu ihr, weil Sheila … weil ihretwegen ein Kind aus dieser Schule ums Leben gekommen ist. Jetzt stirbt auch noch die Mutter ihrer Freundin. Sie wird eine Menge Zeit brauchen, um das zu verkraften.«
Slocums Anspannung ließ nach. Eben hatte er noch ausgesehen, als würde er mich gleich schlagen. Jetzt schien er besonnener.
»O Mann, bitte, helfen Sie mir doch«, sagte er.
Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen uns. »Also gut«, erwiderte ich dann. »Kelly und ich haben auf der Heimfahrt miteinander gesprochen.«
»Und?«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich erzähle Ihnen, was sie mir erzählt hat, und damit ist die Sache erledigt. Sie lassen sie damit in Ruhe.« Ich machte eine Pause, dann fügte ich hinzu: »Für immer.«
Slocum brauchte keine Sekunde zum Überlegen. »Einverstanden.«
»Kelly hatte sich im Schrank versteckt und auf Emily gewartet. Da kam Ann zum Telefonieren ins Schlafzimmer.«
Er nickte. »So ungefähr hab ich mir das gedacht.«
»Kelly hat gesagt, die erste Person, mit der Ihre Frau gesprochen hat, war –«
»Moment. Was war das?«
»Die erste Person, mit der Ihre Frau gesprochen hat, muss eine Freundin gewesen sein. Auf jeden Fall jemand, der sich das Handgelenk verletzt hat. Sie erkundigte sich, wie’s diesem Jemand ging.«
»Es gab nicht nur den einen Anruf?«, fragte Slocum.
»Kelly hatte den Eindruck, es waren zwei. Es klopfte wohl in der Leitung, und Ann nahm einen zweiten Anruf entgegen.«
»Das erste Mal hat sie also selbst angerufen«, sagte Slocum mehr zu sich als zu mir. Ich schwieg. Dann fuhr er fort: »Also bei diesem ersten Anruf, da fragte sie jemanden, wie’s ihm geht? Der hatte sich verletzt?«
»So in der Art. Aber dann kam dieser andere Anruf. Kelly sagte, sie hätte zuerst geglaubt, es wäre ein Telefonvermarkter oder so, weil Ann etwas von einem neuen Angebot sagte. Und dann wurde sie böse.«
»Böse? Warum?«
»Ann sagte irgendwas von keinen Blödsinn machen, sonst gibt’s eine Kugel in den Kopf. Irgendwas in der Art.«
Da hatte Slocum was zu knabbern. »Eine Kugel in den Kopf?«
»Genau.«
»Sonst noch was?«
»Das war’s eigentlich.«
»Was ist mit Namen? Ann muss doch einen Namen genannt haben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Namen wurden nicht genannt.«
Damit gab Slocum sich zufrieden. Anscheinend glaubte er mir, dass ich ihm alles gesagt hatte, was ich wusste. Jetzt war ich mit fragen dran.
»Was ist denn los, verdammt noch mal, Darren?«
»Nichts.«
Mir auch recht, dachte ich. Ich hatte meine eigenen Probleme.
»Da ist noch was«, sagte Slocum. Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. »Und weil Sie bereit waren, mir bei dieser Sache hier zu helfen, und mir schließlich doch meine Fragen beantwortet haben, bin ich gewillt, Ihnen bei der anderen Geschichte ein bisschen Spielraum zu lassen.«
»Wie bitte?«
»Irgendwas sagt mir, dass Sie kürzlich zu ein bisschen Geld gekommen sind. In den letzten paar Wochen.«
»Da komme ich nicht mehr mit, Darren.«
Er lächelte. Doch es war kein freundliches Lächeln. »Ich wollte Sie nur warnen. Dieses Geld, das gehört Ihnen nicht. Und es zu behalten ist sehr riskant. Überlegen Sie es sich. Nehmen Sie sich Zeit, einen Tag, von mir aus auch zwei, und tun Sie dann das Richtige. Später könnte dann nämlich zu spät sein.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Sie von mir wollen, und ich werde Ihnen was sagen: Mir zu drohen ist auch sehr riskant. Und es ist mir scheißegal, womit Sie Ihre Brötchen verdienen.«
»Zwei Tage«, wiederholte er. »Danach kann ich Ihnen nicht mehr helfen.«
»Fahren Sie heim, Darren.«
Er machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, blieb noch ein letztes Mal stehen und sah mich nachdenklich an. »Ziemlich verzwickt das Ganze, das muss ich zugeben.«
»Was soll das wieder heißen?«
»Ihre Frau, meine Frau, zwei Freundinnen, beide mit kleinen Mädchen, die miteinander spielen, beide sterben innerhalb von zwei Wochen bei einem Unfall. Ist das alles nur Zufall?«
Der Gedanke war mir auch schon gekommen, diese seltsame Koinzidenz …
Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte erwidern können. Darren Slocum stieg in seinen Wagen und fuhr davon.