Elf
Sheilas Mutter, Fiona Kingston, war noch nie ein Fan von mir gewesen. Sheilas Tod trug nur dazu bei, sie in ihrer ablehnenden Haltung zu bestärken.
Von Anfang an war sie der Meinung gewesen, ihre Tochter hätte etwas Besseres verdient. Nicht, dass sie das je so gesagt hätte, wenigstens nicht zu mir, aber ich war mir immer bewusst, dass Sheila, wenn es nach Fiona gegangen wäre, jemanden wie deren eigenen – ersten – Mann hätte heiraten sollen. Jemanden wie den verstorbenen Ronald Albert Gallant, bekannter und erfolgreicher Anwalt, angesehenes Mitglied der Gemeinde. Sheilas Vater.
Als er starb, war Sheila erst elf, doch sein Einfluss war nachhaltig. Er war der Maßstab, an dem alle potenziellen Bewerber um die Hand von Fionas Tochter gemessen wurden. Als sie noch keine zwanzig und es höchst unwahrscheinlich war, dass einer der Jungen, mit denen sie ausging, der Partner fürs Leben werden würde, musste sich Sheila intensiven Verhören durch ihre Mutter unterziehen lassen. Was machten seine Eltern? Welchen Clubs gehörte er an? Wie gut war er in der Schule? Wie viele Punkte hatte er beim Zulassungstest fürs Studium erzielt? Was wollte er im Leben erreichen?
Sheila hatte zwar nur elf Jahre lang einen Vater gehabt, trotzdem gab es für sie eine bleibende Erinnerung an ihn: Sie erinnerte sich, dass es da nicht viel zu erinnern gab. Er war selten zu Hause gewesen. Sein Leben hatte seiner Arbeit gehört, nicht seiner Familie. Wenn er da gewesen war, war er geistig abwesend und unnahbar.
Sheila war sich nicht so sicher, dass das die Art Mann war, die sie sich als Ehemann wünschte. Natürlich liebte sie ihren Vater und war am Boden zerstört, ihn so früh zu verlieren. Aber die Lücke, die er in ihrem Leben hinterließ, war nicht so groß, wie sie vielleicht erwartet hatte.
Nach dem Tod ihres Mannes – Herzinfarkt mit vierzig – mussten für Fiona sämtliche mütterlichen Gefühle – sofern überhaupt vorhanden – zurückstehen hinter der großen Aufgabe, den Haushalt allein zu führen. Robert Albert Gallant hatte seine Frau und seine Tochter wohlversorgt zurückgelassen, doch Fiona hatte sich nie mit den häuslichen Finanzen beschäftigt und brauchte geraume Zeit, um sich, mit Hilfe zahlreicher Anwälte, Steuerberater und Bankfachleute, einen Überblick zu verschaffen. Sobald sie jedoch Blut geleckt hatte, widmete sie sich voll und ganz der Überwachung ihrer geschäftlichen Angelegenheiten. Sie investierte klug und prüfte eingehend ihre Quartalsabrechnungen.
Trotzdem fand sie noch Zeit, das Leben ihrer Tochter zu managen.
Fiona hatte ihre Kleine nach Yale geschickt, damit sie Anwältin oder Topmanagerin wurde und sich mit ein bisschen Glück in einen mächtigen Staatsanwalt in spe verliebte. Nur zähneknirschend fand sie sich damit ab, dass ihre Tochter den Mann ihrer Träume nicht im Hörsaal kennengelernt hatte, bei der Erörterung der Feinheiten des Schadenersatzrechts, sondern in den Gängen der ehrwürdigen, efeuberankten Hallen, wo er, als Mitarbeiter in der Firma seines Vaters, neue Fenster einbaute. Vielleicht hätte Sheila, wenn sie mich nicht getroffen hätte, ihren Abschluss in Yale gemacht, aber da bin ich mir nicht so sicher. Sheila interessierte sich für das, was in der Welt passierte, sie wollte etwas Praktisches tun und nicht in Hörsälen herumsitzen und endlose Vorträge über Dinge anhören, die ihr am Allerwertesten vorbeigingen.
Der Witz an der Sache war, dass von uns beiden ich derjenige mit dem Studienabschluss war. Meine Eltern hatten mich nach Norden geschickt, ans Bates College in Lewiston, Maine, wo ich, aus mir heute unbegreiflichen Gründen, Englisch studierte. Es war auch nicht gerade der Abschluss, der potenzielle Arbeitgeber so vom Hocker reißt, dass sie nach einer Bewerbung lechzen. Als ich mein Diplom in Händen hielt, fiel mir rein gar nichts ein, was ich mit diesem Wisch anfangen sollte. Lehrer wollte ich nicht werden. Und obwohl ich gerne schrieb, ging ich nicht mit dem Großen Amerikanischen Roman schwanger. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich noch einen lesen wollte, zumindest in nächster Zukunft. Whitman und Hemingway und Melville standen mir bis oben hin.
Dieser vergammelte Wal. Ich hab die Schwarte nie zu Ende gelesen.
Aber trotz dieses Wischs gehörte ich zu einer Klasse von Menschen, die für Fiona schlicht unsichtbar war. Ich war eine Ameise, eine Arbeitsbiene, einer von Millionen ohne Gesicht, die die Welt am Laufen hielten, weshalb man sich glücklicherweise nicht groß mit ihnen abgeben musste. Sicherlich war Fiona froh, dass es Leute gab, die Häuser bauten und renovierten. So, wie sie froh war, dass andere den Müll abholten. Für sie gehörte ich in eine Kategorie mit den Leuten, die ihr die Dachrinnen ausräumten und den Rasen mähten – als sie noch das Haus in Connecticut hatte –, ihren Caddy warteten und das Klo reparierten, wenn die Spülung mal wieder nicht zu rinnen aufhören wollte, obwohl man schon ewig am Hebel rumprobiert hatte. Anscheinend zählte für sie überhaupt nicht, dass ich meine eigene Firma hatte – gut: von meinem Vater übernommen – oder dass ich mehrere Leute beschäftigte und als Bauunternehmer einen guten Ruf in Milford und Umgebung hatte. Dass ich erfolgreich war und mir, meiner Frau und meiner Tochter nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten konnte, sondern das verdammte Ding auch noch selbst gebaut hatte. Der Einzige, der Fiona vielleicht mit seiner Hände Arbeit beeindrucken konnte, war der augenblickliche Liebling des Galeriepublikums, eine Art Jackson Pollock des 21. Jahrhunderts, dessen farbverschmierte Hosen Zeugnis für sein Genie und seine Exzentrizität waren und nicht bloß für sein Bemühen, sich den Lebensunterhalt zu verdienen.
Kunden wie Fiona hatte ich immer wieder gehabt. Sie gaben einem nicht die Hand, aus Angst, man könne ihre weichen Händchen mit seinen Schwielen zerkratzen.
Nachdem ich Fiona kennengelernt hatte, wollte es mir einfach nicht in den Kopf, dass Sheila ihre Tochter sein sollte. Es gab zwar eine gewisse äußere Ähnlichkeit, aber in jeder anderen Hinsicht waren sie wie Tag und Nacht. Fiona war es wichtig, den Status quo zu erhalten. In der Praxis hieß das, die Steuererleichterungen für die Reichen zu bewahren, darum zu beten, dass gleichgeschlechtliche Ehen nie legalisiert und Bagatelldiebstähle mit zweimal lebenslänglich bestraft wurden.
Fionas Entsetzen darüber, dass ihre Tochter mich heiratete, ließ sich nur mit einem messen: ihrem Entsetzen darüber, dass Sheila gelegentlich ehrenamtlich in einer Rechtsberatungsstelle tätig war und sich im Präsidentschaftswahlkampf des demokratischen Senators Chris Dodd engagierte.
»Tust du das, weil es dir wirklich am Herzen liegt oder weil du weißt, dass es deine Mutter zur Weißglut bringt?«, habe ich sie einmal gefragt.
»Weil es mir am Herzen liegt«, lautete ihre Antwort. »Dass es Mutter zur Weißglut bringt, ist nur ein Extra.«
Im ersten Jahr unserer Ehe sagte Sheila zu mir: »Sie ist ein Tyrann. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass ich nur eine Chance gegen sie habe: ihr die Stirn zu bieten. Was sie mir alles an den Kopf geworfen hat, als ich ihr sagte, dass ich dich heiraten werde! Aber am kränkendsten war nicht, was sie über dich gesagt hat, sondern über mich. Über die Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe. Also ich bin stolz auf diese Entscheidungen. Und auch auf deine.«
Ich hatte mich entschieden, Dinge zu bauen. Veranden, Garagen, Anbauten, ganze Häuser. Nach dem Diplom bewarb ich mich um eine Stelle in der Firma meines Vaters, wo ich, seit ich sechzehn war, jeden Sommer gearbeitet hatte.
»Und wie sieht’s mit Referenzen aus?«, fragte er mich, als ich 1992 zu ihm ins Büro kam. Da war ich zweiundzwanzig.
Ich liebte meine Arbeit und hatte Mitleid mit den Freunden, die ihre Tage in den Zellen von Großraumbüros absaßen und nach acht Stunden heimgingen, ohne irgendetwas zum Vorzeigen zu haben. Ich errichtete Gebäude. Die konnte man vorzeigen, wenn man an ihnen vorbeifuhr. Und ich baute sie gemeinsam mit meinem Vater, es verging kein Tag, an dem ich nicht etwas von ihm lernte. Einige Jahre später lernte ich bei diesem Fenstereinbau Sheila kennen, und kurz darauf zogen wir zusammen. Meinen Eltern gefiel das genauso wenig wie Fiona. Aber zwei Jahre später war Schluss mit unserem Leben in Sünde, wie meine Mutter es zu nennen beliebte, unter anderem auch deshalb, weil meine Mutter Krebs und nicht mehr lange zu leben hatte. Zu wissen, dass wir rechtsgültig verheiratet waren, schenkte ihr einen gewissen Seelenfrieden.
Vier Jahre später war ein Kind auf dem Weg.
Dad lebte lange genug, um Kelly auf dem Arm zu halten. Als er nicht mehr war, wurde ich Firmenchef. Ich fühlte mich verwaist und überfordert. Die Fußstapfen waren zu groß für mich, aber ich gab mein Bestes. Ohne ihn war es nicht mehr dasselbe, aber ich liebte meine Arbeit noch immer. Ich hatte einen Grund, morgens aufzustehen. Ich hatte eine Aufgabe. Ich hatte nicht das Gefühl, ich müsse mich für meine Taten vor Sheilas Mutter rechtfertigen.
Sheila und ich, wir waren beide überrascht, als Fiona auf einmal einen Freund hatte. Marcus Kingston.
Seine erste Frau lebte noch irgendwo in Kalifornien, aber seine zweite war vor acht Jahren ums Leben gekommen, als so ein Rowdy in einem aufgemotzten Civic eine rote Ampel ignoriert hatte und ihr seitlich in ihren Lincoln gekracht war. Marcus war Importeur für Kleidung und sonstige Waren gewesen, hatte aber sein Geschäft gerade aufgegeben, als Fiona ihn bei einer Galerieeröffnung in Darien kennenlernte. Sein Beruf hatte ihn auf Tuchfühlung mit den Reichen und Einflussreichen gebracht, also genau den Leuten, mit denen Fiona so gerne verkehrte.
Als sie vor vier Jahren zu heiraten beschlossen, verkaufte Marcus sein Haus in Norwalk und Fiona ihres in Darien. Zusammen erstanden sie eine teure Eigentumswohnung mit Blick auf den Long Island Sound.
Sheilas Theorie war, dass Fiona eines Morgens mit dem Gedanken aufgewacht war: Will ich wirklich den Rest meines Lebens alleine verbringen? Ich musste zugeben, dass mir nie in den Sinn gekommen wäre, Fiona könne auch emotionale Bedürfnisse haben. Sie zeigte eine so unterkühlte und unabhängige Fassade, dass man es niemandem verübeln konnte, wenn er dachte, sie sei auf die Gesellschaft anderer nicht angewiesen. Doch unter dieser stahlharten Oberfläche verbarg sich ein sehr einsamer Mensch.
Marcus tauchte gerade zur rechten Zeit auf.
Mehr als einmal hatten Sheila und ich uns gefragt, ob Marcus’ Beweggründe vielleicht etwas komplexer waren als Fionas. Auch er hatte lange allein gelebt, und es war durchaus plausibel, dass er sich ebenso danach sehnte, mit jemandem an seiner Seite aufzuwachen. Allerdings wussten wir auch, dass Marcus sein Unternehmen nicht für den erhofften Preis hatte verkaufen können und dass ein beträchtlicher Teil seines Einkommens noch immer an seine erste Frau in Sacramento ging. Fiona, die jahrelang so vorsichtig – ich wäre geneigt zu sagen: knausrig – mit ihrem Geld umgegangen war, machte es nun offensichtlich nichts aus, es für Marcus auszugeben. Die größte Nachsicht zeigte sie möglicherweise bei dem Segelboot, das er im Hafen von Darien ankern hatte.
Marcus betätigte sich gelegentlich als Berater für Importeure, die seine Erfahrung und seine Beziehungen zu schätzen wussten. Zwei-, dreimal die Woche ging er abends mit diesen Leuten essen und prahlte gerne, die Geschäftswelt gönne ihm einfach seinen Ruhestand nicht. Sheila und ich waren uns einig, dass er manchmal ein ziemlicher Angeber, offen gesagt, ein Arschloch sein konnte. Aber allem Anschein nach liebte Fiona ihn, und insgesamt wirkte sie mit ihm glücklicher als vorher ohne ihn.
Sie kamen oft zu uns, damit Fiona ihre Enkelin sehen konnte. Für mich mochte es jede Menge Gründe geben, Fiona nicht zu mögen, aber eines musste man ihr lassen: Sie liebte Kelly abgöttisch. Sie ging mit ihr einkaufen, ins Kino, nahm sie mit nach Manhattan in Museen und zu Broadway-Aufführungen. Hin und wieder ließ sie sich auch zu Toys R Us am Times Square verschleppen.
»Wo war diese Frau, als ich ein Kind war?«, hatte Sheila mich mehr als einmal gefragt.
In dieser Zeit hielten Fiona und ich eine Art Waffenstillstand. Sie konnte mich nicht leiden, und ich kam gut ohne sie aus, aber wir blieben höflich. Es herrschte kein offener Krieg.
Das änderte sich ziemlich rasch nach Sheilas Unfall.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Sie gab mir die Schuld. Wenn ich gewusst hatte, dass Sheila alkoholgefährdet war, warum hatte ich nichts dagegen unternommen? Warum hatte ich nicht mit ihr, Fiona, darüber gesprochen? Warum hatte ich Sheila nicht gezwungen, eine Therapie zu machen? Was hatte ich mir dabei gedacht, sie durch halb Connecticut fahren zu lassen, wenn ich doch damit rechnen musste, dass sie nicht ganz nüchtern war?
Und wie oft war sie in diesem Zustand mit Kelly – ihrer Enkelin, Herrgott noch mal – herumgefahren?
»Du hast nichts davon gewusst?«, fragte Fiona mich bei der Beerdigung. »Wie gibt es das? Wie, zum Teufel, konntest du die Anzeichen übersehen?«
»Es gab keine Anzeichen«, sagte ich. »Keine richtigen.«
»Ja, das würde ich an deiner Stelle auch sagen«, keifte sie. »Daran musst du ja auch glauben. Dann bist du nämlich aus dem Schneider. Aber glaub mir, es muss Anzeichen gegeben haben. Du warst nur zu sehr mit deinen eigenen Blähungen beschäftigt, um es zu bemerken.«
»Fiona«, sagte Marcus und wollte sie wegziehen.
»Glaubst du vielleicht, sie hat sich eines Abends gesagt: Hey, ich werd jetzt Alkoholikerin, lass mich volllaufen und schlaf irgendwo mitten auf einer Autobahnabfahrt ein? Glaubst du, jemand tut so was? Einfach so, aus heiterem Himmel?«
»Ich nehme an, du hast etwas bemerkt«, sagte ich. »Dir entgeht ja rein gar nichts.«
Sie klapperte mit den Augendeckeln. »Wie hätte ich denn etwas bemerken sollen? Ich habe nicht mit ihr unter einem Dach gelebt. Ich war nicht sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr mit ihr zusammen. Du schon. Dir hätte etwas auffallen müssen, und du hättest etwas dagegen unternehmen können. Du hast versagt! Du hast uns im Stich gelassen. Du hast Kelly im Stich gelassen. Aber vor allem hast du Sheila im Stich gelassen.«
Hätte Marcus mir diese Dinge an den Kopf geworfen, er hätte meine Faust zu spüren bekommen. Bei Fiona ging das natürlich nicht. Aber ich konnte mich nur mit Mühe zurückhalten. Kam das vielleicht daher, dass ich fürchtete, es könnte etwas dran sein an dem, was sie sagte?
Aber ich hätte doch bestimmt etwas bemerkt, wenn Sheila alkoholgefährdet gewesen wäre. Wie hätte mir das verborgen bleiben können? Hatte es Anzeichen gegeben? Warnsignale, die ich ignoriert hatte, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass Sheila Probleme hatte? Klar, Sheila trank gern mal was, wie viele andere auch. Zu besonderen Anlässen. Wenn sie mit ihren Freundinnen essen ging. Bei Familientreffen. Wenn Kelly bei Fiona und Marcus in Darien übernachtete, machten wir zu zweit schon mal ein, zwei Flaschen Wein leer. Einmal habe ich sie aufgefangen, als sie nach so einem Gelage beim Treppehochgehen auf dem Teppich ausgerutscht war.
Aber das waren doch keine Hinweise auf etwas Ernsteres. Oder machte ich mir da was vor? Wollte ich nur der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen?
Fiona hatte recht: Keine Frau beschloss einfach, sich sinnlos zu betrinken und mit ihrem Subaru rumzufahren.
Eines Abends, als Kelly schon im Bett war, stellte ich in aller Stille das Haus auf den Kopf. Sollte Sheila wirklich heimlich getrunken haben, dann musste sie irgendwo geheime Alkoholvorräte angelegt haben. Wenn nicht im Haus, dann in der Garage oder im Gartenschuppen, wo der Rasenmäher und rostige alte Gartenstühle standen.
Ich suchte alles ab. Und fand nichts.
Dann unterhielt ich mich mit ihren Freundinnen. Mit allen, die sie kannten. Als Erstes mit Belinda.
»Ja, einmal, beim Mittagessen«, erinnerte sie sich. »Sie hatte anderthalb Cosmopolitans getrunken und war ein bisschen angesäuselt. Und einmal, und ich schwöre Ihnen, ich bringe Sie um, wenn Sie es George erzählen, weil der kann sich bei so was so zickig anstellen, da haben wir was geraucht. Wir hatten unseren Damenabend, und ich hatte ein paar Joints dabei, mit denen haben wir uns ein bisschen entspannt. Nichts Ernstes. Aber sie hatte sich immer unter Kontrolle, und wenn sie mehr als ein Glas Alkohol getrunken hat, hat sie sich immer ein Taxi gerufen. Sie hatte ihren gesunden Menschenverstand. Sie war gescheit. Mir will das auch nicht in den Kopf, was da passiert ist, aber wahrscheinlich weiß man nie genau, was in einem anderen Menschen vorgeht.«
Sally Diehl aus dem Büro wollte es auch nicht einleuchten. »Aber ich hatte mal eine Cousine – also ich hab sie noch –, und die war voll auf Koks, das kann man sich gar nicht vorstellen, aber das Unglaublichste dabei war, wie lang sie es vor der ganzen Welt verbergen konnte, bis ihr eines Tages die Polizei das Haus auseinandernahm. Kein Mensch wusste was. Manchmal, und ich will damit nicht sagen, dass das bei Sheila so war, aber manchmal, da, na ja, da weiß man einfach nichts über die Leute, mit denen man täglich zu tun hat.«
Wie’s aussah, gab es also zwei Möglichkeiten. Entweder war Sheila alkoholgefährdet gewesen und hatte es meisterhaft kaschiert, oder Sheila war alkoholgefährdet gewesen und ich nur zu blöd, um die Anzeichen zu erkennen.
Doch vielleicht gab es noch eine dritte Möglichkeit: Sheila war nicht alkoholkrank gewesen und hatte sich nicht betrunken ans Steuer gesetzt. Wenn dies zutreffen sollte, dann müssten sämtliche toxikologischen Berichte falsch sein.
Dafür gab es keinerlei Anhaltspunkte.
In den Tagen nach Sheilas Tod, als ich mich bemühte, etwas zu begreifen, das nicht zu begreifen war, stöberte ich einige Leute aus ihrem Kurs auf. Es stellte sich heraus, dass Sheila an dem Abend gar nicht im Unterricht gewesen war, obwohl sie davor noch nie einen Kursabend verpasst hatte. Ihr Lehrer, Allan Butterfield, sagte, Sheila sei im Erwachsenenkurs mit Abstand die Beste gewesen.
»Sie hatte eine echte Motivation, diesen Kurs zu machen«, erzählte er mir bei einem Bier in einer Kneipe nicht weit von der Schule. »Sie hat gesagt: ›Ich mache das für meine Familie, für meinen Mann und meine Tochter, um unsere Firma voranzubringen.‹«
»Wann hat sie das zu Ihnen gesagt?«
Er dachte einen Moment nach. »Vor einem Monat?« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. »Genau hier. Bei ein paar Bier.«
»Sheila hat hier ein paar Bier mit Ihnen getrunken?«, fragte ich.
»Also, ich hatte ein paar, drei vielleicht«, sagte Allan und wurde rot. »Aber Sheila? Ich glaube, sie hatte auch eins. Aber nur ein einziges Glas.«
»Haben Sie und Sheila das öfter gemacht?«
»Nein, nur dieses eine Mal«, sagte er. »Sie wollte rechtzeitig zu Hause sein, um ihrer Tochter einen Gutenachtkuss zu geben.«
Die Polizei ging davon aus, dass sie ihren Kurs geschwänzt und sich dafür irgendwo die Kante gegeben hatte. Wo das gewesen sein könnte, fanden sie nicht heraus. Nachfragen in sämtlichen Bars der Umgebung ergaben nichts. Niemand hatte sie gesehen, und auch in keinem der Spirituosenläden konnte sich jemand erinnern, ihr an diesem Abend Alkohol verkauft zu haben. Was natürlich alles nichts heißen musste.
Sie konnte stundenlang im Wagen gesessen und Zeug getrunken haben, das sie sich irgendwann und irgendwoanders besorgt hatte.
Ich hatte mehrmals bei der Polizei nachgefragt, ob vielleicht ein Versehen vorliegen könnte, und man hatte mir erklärt, die toxikologischen Berichte lögen nicht. Sie zeigten mir Kopien. Sheila hatte einen Blutalkoholspiegel von 2,2 Promille. Bei Sheilas Gewicht – knapp über sechzig Kilo – entsprach das etwa acht Gläsern Alkohol.
»Ich werfe dir nicht nur vor, dass du die Zeichen nicht erkannt hast«, hatte Fiona bei der Beerdigung gesagt. »Ich gebe dir die Schuld, dass sie überhaupt zu trinken begonnen hat. Ohne Zweifel hast du sie mit deiner Volkstümlichkeit im Sturm erobert, aber all die Jahre hindurch musste sie immer wieder daran denken, was für ein Leben sie hätte haben können. Ein besseres, erfüllteres Leben, als du es ihr je hättest bieten können. Und das hat sie kaputtgemacht.«
»Und das hat sie dir gesagt«, sagte ich.
»Das musste sie mir nicht sagen. Das wusste ich auch so.«
»Fiona, also wirklich«, sagte Marcus. »Jetzt mach mal halblang.« In diesem Moment war mir der Typ beinahe sympathisch.
»Jemand muss ihm das sagen, Marcus. Und später habe ich vielleicht nicht mehr die Kraft dazu.«
»Das bezweifle ich«, sagte ich.
»Hättest du ihr das Leben bieten können, das sie verdiente, hätte sie ihren Kummer nicht in Alkohol ertränken müssen.«
»Ich bringe Kelly nach Hause«, sagte ich. »Wiedersehen, Fiona.«
Aber, wie gesagt, sie liebte ihre Enkelin.
Und Kelly liebte sie. Und, bis zu einem gewissen Grad, auch Marcus. Wenn Kelly bei ihnen war, lagen die beiden ihr zu Füßen. Um Kellys willen bemühte ich mich, meine Aversion gegen Fiona nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Vor Sheilas Tod hatte Kelly ungefähr alle sechs Wochen das Wochenende bei ihnen verbracht.
Mir schwirrte noch immer der Kopf von der Nachricht, dass Ann Slocum – anscheinend – tot war, da hörte ich einen Wagen in der Einfahrt. Ich zog den Vorhang zur Seite und sah Marcus am Steuer seines Cadillac sitzen, Fiona neben ihm.
»Scheiße«, sagte ich. Wenn sie mir gesagt hatten, dass dies eines ihrer Wochenenden war, dann musste ich es vergessen haben. Ich war perplex. Weder Kelly noch ich hatten Fiona oder Marcus seit der Beerdigung gesehen. Ich hatte ein paar Mal am Telefon mit Fiona gesprochen, doch nur so lange, bis Kelly an der Nebenstelle abhob.
Ich stürmte die Treppe hoch, steckte den Kopf in Kellys Zimmer. Sie schlief.
»Hey, du«, sagte ich.
Sie wälzte sich herum, öffnete zuerst ein Auge, dann das andere. »Was ist denn?«
»Großmutter-Alarm. Fiona und Marcus sind da.«
Jetzt saß sie kerzengerade im Bett. »Echt?«
»Wusstest du, dass sie heute kommen?«
»Ähhh …«
»Ich nämlich nicht. Jetzt aber dalli.«
»Ich hab’s komplett vergessen.«
»Hast du’s denn gewusst?«
»Na ja, vielleicht schon.«
Ich sah sie an. »Also?«
»Kann sein, dass Grandma und ich darüber geskypt haben«, sagte sie. »Vielleicht hab ich da gesagt, dass sie mich ruhig besuchen kommen können, aber ich hab keinen bestimmten Tag ausgemacht. Glaub ich wenigstens.«
»Wie ich schon sagte: Jetzt aber dalli.«
Kelly schlüpfte gerade unter der Decke hervor, als es an der Tür klingelte. Ich ließ sie allein, damit sie sich anziehen konnte, und ging hinunter, um aufzumachen.
Vor mir stand Fiona, stocksteif und mit steinerner Miene. Direkt hinter ihr Marcus, dem das Ganze offensichtlich unangenehm war.
»Glen«, sagte sie.
»Hey, Glen«, sagte Marcus. »Wie geht’s?«
»Das ist jetzt aber eine Überraschung«, sagte ich.
»Wir wollten Kelly besuchen«, sagte Fiona. »Sehen, wie sie zurechtkommt.«
»Ist das eines dieser Wochenenden?«
Fiona wurde rot. »Muss ich auf eines dieser Wochenenden warten, damit ich meine Enkelin sehen kann?«
»Es hätte sein können, dass wir unterwegs sind, und es hätte mir sehr leidgetan, wenn ihr umsonst gekommen wärt.«
Marcus räusperte sich. »Wir dachten, wir probieren’s einfach.«
Ich war einen Schritt zurückgetreten, um sie hereinzulassen. »Du hast dich mit Kelly online unterhalten?«, fragte ich Fiona.
»Wir haben ein paarmal gechattet. Ich mache mir Sorgen um sie. Ich kann mir gut vorstellen, was in ihr vorgeht. Es muss so sein wie damals, als Sheila ihren Vater verlor. Sie war zwar älter als Kelly, es hat sie aber trotzdem schwer getroffen.«
»Auf der Autobahn war die Hölle los.« Marcus versuchte, die dicke Luft in der Diele zu verdünnen. »Anscheinend reißen die jetzt überall die Straßen auf.«
»Ja«, sagte ich. »Tun sie.«
»Hör mal«, fuhr er fort, »ich habe Fiona gesagt, dass das vielleicht keine so gute Idee ist, einfach vorbeizukommen, ohne anzurufen oder –«
»Marcus, du brauchst dich nicht für mich zu entschuldigen. Ich wollte etwas mit dir besprechen, Glen«, sagte Fiona förmlich.
»Und zwar?«
»Kelly hat mir via Skype erzählt, dass es ihr in der Schule momentan nicht so gutgeht.«
»Alles läuft bestens. Ihre Noten sind sogar ein bisschen besser als im Vorjahr.«
»Das meine ich nicht. Ich meine ihre Situation in der Gruppe.«
»Was ist damit?«
»Wie ich höre, sind die anderen Kinder grässlich zu ihr.«
Ich zögerte, ehe ich antwortete. »Es war nicht leicht für sie.«
»Das glaube ich auch, wenn man bedenkt, dass der Junge, der bei dem Unfall ums Leben gekommen ist, an Kellys Schule war. Sie wird gequält. Das ist keine gute Umgebung für ein Kind.«
»Sie hat dir erzählt, dass die Kinder ihr ›Säuferkind‹ hinterherrufen?«
»Ja, das hat sie. Dann weißt du also Bescheid?«
»Natürlich weiß ich Bescheid.«
»Ach so. Ich dachte mir nämlich, wenn du’s wüsstest, würdest du sicher etwas unternehmen.«
Ich spürte wieder dieses Kribbeln im Nacken. Ich wollte mich zwar nicht auf diese Diskussion einlassen, wollte ihr das aber auch nicht einfach durchgehen lassen. »Ich unternehme was, Fiona. Mach dir keine Sorgen.«
»Suchst du eine andere Schule für sie?«
»Fiona, sie hat’s mir erst gestern Abend erzählt. Ich weiß ja nicht, wie’s da war, wo du zur Schule gegangen bist, aber in Milford sind die Schulen am Wochenende geschlossen. Ich werde aber gleich Montag früh mit dem Direktor reden.«
Einen Augenblick lang funkelte Fiona mich an, dann schaute sie weg. Als sie mich wieder ansah, schien es, als bemühe sie sich um einen etwas freundlicheren Gesichtsausdruck.
»Ich hätte da eine Idee, wie du dir das ersparen könntest, Glen.«
»Und die wäre?«
»Marcus und ich haben über die Möglichkeit gesprochen, dass Kelly in Darien zur Schule geht.«
Wieder sah Marcus mich unbehaglich an. Ganz offensichtlich war diese Idee nicht auf seinem Mist gewachsen.
»Eher nicht«, sagte ich.
Sie nickte, als habe sie meine Reaktion vorhergesehen. »Ich kann deine Skepsis ja verstehen. Aber betrachten wir die Situation mal objektiv. Der ganze Druck, der momentan auf Kelly lastet, kann ihren schulischen Leistungen nicht förderlich sein. Wenn sie auf einer anderen Schule wäre, wo die anderen Kinder weder über sie noch über diese Jungen Bescheid wissen, könnte sie ganz neu anfangen.«
»Das vergeht schon wieder.«
»Und«, fuhr sie fort, »es gibt mehrere Schulen gar nicht weit weg von uns, die einen sehr guten Ruf haben. Die Schüler dort schneiden bei den Tests immer wesentlich besser ab als die in öffentlichen Schulen. Selbst wenn Kelly nicht so eine Tragödie erlebt und in ihrer Schule nicht so einen schweren Stand hätte, wären das Alternativen, über die man nachdenken sollte. Das sind gute, solide Institutionen mit tadellosen Referenzen. Viele der bekannteren Familien in Fairfaild County schicken ihre Kinder in diese Schulen.«
»Die können sich das bestimmt auch leisten.«
Fiona schüttelte den Kopf. »Das ist kein Problem, Glen. Um Schulgebühren kümmere ich mich.«
Ich glaubte, eine Regung in Marcus’ Miene zu sehen. Ich sagte: »Ich denke, das wäre ein bisschen viel für Kelly, jeden Tag von hier nach Darien zur Schule zu fahren.«
Sie lächelte mich listig an, durchschaute mein Spiel. »Kelly würde unter der Woche natürlich bei uns wohnen, am Wochenende wäre sie bei dir. Wir haben schon mit einem Innenarchitekten gesprochen, einem Bekannten von Marcus, wie man das Zimmer, in dem Kelly jetzt schläft, wenn sie bei uns ist, für sie herrichten könnte. Sie bekäme einen Platz für ihren Computer, einen Schreibtisch, wo sie ihre Hausaufgaben machen könnte, und –«
»Du wirst sie mir nicht wegnehmen«, sagte ich.
»Aber woher denn!« Fiona tat gekränkt. »Dass du mir so etwas zutraust! Ich versuche, dir zu helfen, Glen. Dir und Kelly. Ich weiß, wie schwierig es ist, ein Kind allein aufzuziehen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich kann mir denken, wie das für dich ist, Arbeit und Vatersein unter einen Hut zu bringen. Im Moment seid ihr wahrscheinlich noch in einer Art Ausnahmezustand, aber wart nur ab. Du bist auf einer Baustelle, irgendwo außerhalb von Milford, du wartest auf eine Lieferung oder eine Inspektion oder einen Kunden – keine Ahnung, ich will gar nicht so tun, als verstünde ich was von deinem Beruf –, und plötzlich fällt dir ein, dass du Kelly von der Schule abholen musst.«
»Da werd ich mich halt arrangieren müssen«, sagte ich.
Fiona streckte die Hand aus und berührte einen meiner verschränkten Arme. Welche Überwindung sie das gekostet haben musste! »Ich weiß, du und ich, wir waren nicht immer einer Meinung. Aber was ich dir hier vorschlage, ist nur zu Kellys Bestem. Ich möchte ihr jede sich bietende Möglichkeit geben.«
Gar so abwegig war dieser Vorschlag nicht, wenn ich meinen Stolz überwinden könnte, was das Zahlen der Schulgebühren betraf – Kelly auf eine Privatschule zu schicken konnte ich mir unmöglich leisten, weder hier noch sonstwo. Und hätte ich Fiona ihre uneigennützigen Motive abgenommen, wäre ich vielleicht auch bereit gewesen, über ihr Angebot nachzudenken. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass das Ganze nur ein Versuch von ihr war, einen Keil zwischen meine Tochter und mich zu treiben. Jetzt, da Sheila nicht mehr war, wollte Fiona die Kontrolle über ihre Enkelin.
»Hab ich’s dir nicht gesagt?«, meldete sich Marcus jetzt zu Wort. »Ich hab dir gesagt, dass das viel zu bedrängend wirkt.«
»Dich betrifft das ja wohl am wenigsten, Marcus«, sagte Fiona. »Kelly ist meine Enkelin, nicht deine. Zwischen euch beiden gibt es keine Blutsbande.«
Er sah in meine Richtung, als wolle er sagen, ich weiß, wie’s dir geht, Kumpel.
»Und wie mich das betrifft«, gab Marcus zurück. »Kelly würde nämlich bei uns wohnen.« Noch ein Blick in meine Richtung. »Unter der Woche«, stellte er klar. »Und ich habe auch gar nichts dagegen, aber sag verdammt noch mal nicht, dass mich das nicht betrifft. Sag das ja nicht noch mal.«
»Kelly bleibt bei mir«, sagte ich.
»Verstehe«, sagte Fiona, die sich keineswegs geschlagen gab. »Du brauchst natürlich Zeit, dir das zu überlegen. Und wir wollen auch hören, was Kelly dazu zu sagen hat. Gut möglich, dass sie von der Idee begeistert ist.«
»Es ist und bleibt meine Entscheidung«, sagte ich.
»Aber sicher«, antwortete Fiona und tätschelte wieder meinen Arm. »Wo ist denn die kleine Prinzessin überhaupt? Ich dachte, wir könnten sie wenigstens zu einem kleinen Nachmittagsausflug abholen. Wir könnten ins Einkaufszentrum nach Stamford fahren und ihr vielleicht einen neuen Wintermantel oder so was kaufen.«
»Das Problem ist«, sagte ich, »dass etwas passiert ist, und ich noch gar keine Gelegenheit hatte, es Kelly zu erzählen. Keine Ahnung, wie sie’s aufnehmen wird, aber wahrscheinlich wird es ihr ziemlich nahegehen.«
»Was denn?«, fragte Marcus.
»Ihr kennt doch Sheilas Freundin Ann. Sie hat eine Tochter, Emily. Sie und Kelly sind Freundinnen.«
Fiona nickte. Zu Marcus sagte sie: »Du erinnerst dich bestimmt an sie. Sie hat ihre Taschenparty hier veranstaltet.«
Marcus sah sie verständnislos an.
»Du musst dich doch an sie erinnern. Sie war ein richtiger Hingucker«, sagte Fiona. Die Missbilligung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Zu mir sagte sie: »Was ist denn mit ihr?«
»Gestern Abend haben wir sie noch gesehen. Kelly war zum Übernachten –«
»Was sagst du da?«, fragte Marcus. »Kelly hat bei dieser Frau – dieser Ann – übernachtet?«
»Genau. Aber Kelly rief mich an. Sie wollte nicht bleiben, und ich sollte sie wieder abholen. Und kurze Zeit später –«
»Daddy!«
Alle drei wandten wir uns der Treppe zu. Aus dieser Richtung war Kellys Schrei gekommen.
»Daddy, komm her! Schnell!«
Ich nahm zwei Stufen auf einmal und war gute zehn Sekunden vor Fiona und Marcus in ihrem Zimmer. Kelly war noch im Schlafanzug. Sie war an ihrem Schreibtisch, saß ganz weit vorn auf der Stuhlkante. Eine Hand lag auf der Maus, die andere zeigte auf den Computerbildschirm. Es war eine der Seiten, auf denen sie mit ihren Freundinnen chattete.
»Emilys Mom«, sagte sie. »Da steht was über Emilys Mom.«
Hinter mir sagte Marcus: »O Gott.«
»Ich wollte es dir gerade sagen.« Ich legte einen Arm um Kelly und warf Marcus und Fiona einen Blick zu. Raus hier. »Ich hab’s selbst gerade erfahren, als die beiden klingelten.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Kelly. »Ist sie einfach so gestorben?«
»Ich weiß es nicht. Ich meine, wahrscheinlich. Als ich heute Morgen bei ihr anrief –«
Kelly wollte meinen Arm abschütteln. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht anrufen.«
»Schon gut. Es spielt keine Rolle mehr. Ich dachte, Emilys Mutter sei am Apparat, aber es war ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter. Sie hatte keine Zeit zum Reden, weil Mrs. Slocum gestorben ist.«
»Aber ich hab sie doch gesehen.«
»Ich weiß. Das ist ein Schock für dich.«
Kelly überlegte einen Augenblick. »Was soll ich tun? Soll ich Emily anrufen?«
»Ich glaub nicht. Sie und ihre Familie brauchen jetzt Zeit für sich.«
»Ich fühl mich ganz komisch.«
»Ich weiß.«
Wir saßen da, und es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ich hielt sie fest und streichelte ihren Arm, während sie weinte.
»Meine Mom und jetzt Emilys Mom«, sagte sie leise. »Vielleicht bin ich … vielleicht bin ich ja ein Unglücksbringer.«
»Sag doch so was nicht. Das darfst du nicht mal denken.«
Wir saßen noch eine Weile da, ohne zu sprechen, dann hatte ich das Gefühl, ich müsse mit ihr über unseren Besuch reden. »Deine Großmutter und Marcus wollten dich abholen. Nur für heute Nachmittag.«
Kelly schniefte. »Ach.«
»Und ich glaube, sie will dir ein paar Schulen in Darien zeigen. Hast du eine Ahnung, warum?«
Sie nickte. Sie schien nicht besonders überrascht. »Wahrscheinlich, weil ich ihr gesagt habe, dass ich meine Schule hasse.«
»Online«, sage ich.
»Mhm.«
»Tja, jetzt will sie, dass du unter der Woche bei ihnen wohnst und in Darien zur Schule gehst. Am Wochenende wärst du wieder bei mir.«
Sie schlang ihre Arme fest um mich. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte.« Pause. »Aber dann wüssten die anderen Kinder wenigstens nichts über mich. Und auch nicht, was Mom getan hat.«
Eine Minute blieben wir so, eng umschlungen, ich tätschelte ihr den Hinterkopf.
»Wenn Emilys Mom eine Krankheit hatte, Vogelkrippe zum Beispiel, bekomm ich sie dann auch? Weil ich in ihrem Schlafzimmer war?«
»Es heißt Vogelgrippe, und ich glaube nicht, dass man in ein paar Stunden daran sterben kann. An einem Herzinfarkt vielleicht. Irgendwas in der Art. Aber nichts, womit du dich anstecken könntest.«
»Ein Herzinfarkt ist nicht ansteckend?«
»Nein.« Ich sah ihr in die Augen.
»Auf dem Video sieht sie überhaupt nicht krank aus.«
Ich stutzte. »Was?«
»Auf meinem Handy. Sie sieht ganz gesund aus.«
»Wovon redest du?«
»Da im Schrank, da hatte ich das Handy bereit, damit ich Emily filmen kann, wenn sie die Tür aufmacht. Das hab dir doch erzählt!«
»Du hast mir aber nicht erzählt, dass du ihre Mutter gefilmt hast. Ich dachte, du hast dein Handy weggesteckt, als Mrs. Slocum hereinkam.«
»Na ja, nicht sofort.«
»Hast du das Video noch?«
Kelly nickte.
»Zeig’s mir.«