Zweiundfünfzig
Darren Slocum, auf der Straße im Chrysler sitzend, hörte den Schuss.
»O Scheiße«, sagte er laut.
Er griff nach dem Schlüssel, der noch im Zündschloss steckte und stieg aus dem Wagen. In der offenen Beifahrertür stand er da und überlegte, was er tun solle. Es hing vor allem davon ab, auf wen geschossen worden war. Wenn überhaupt. Es hätte auch eine Art Warnschuss sein können. Oder ein Schuss könnte sich versehentlich gelöst haben. Oder jemand könnte danebengeschossen haben.
Eines wusste Slocum jedenfalls: wer vorhin ins Haus gegangen war. Er hatte Rona Wedmore beobachtet, wie sie aus ihrem Wagen gestiegen war, die Straße überquert und an die Haustür gehämmert hatte. Er glaubte, Lärm aus dem Haus gehört zu haben, war sich jedoch nicht sicher. Er hatte gesehen, dass sie ihr Handy herausgeholt und ganz kurz telefoniert hatte, bevor sie mit gezückter Pistole das Haus betrat.
Schlecht.
Sollte Wedmore Sommer erschossen haben, dann war es das Klügste zu verschwinden. Und keinesfalls in Sommers Auto. Dann wäre es am besten, den Schlüssel wieder ins Schloss zu stecken und den Chrysler stehenzulassen, damit alle glaubten, Sommer sei allein zum Haus der Mortons gekommen. Wenn Slocum wegfuhr, und die Polizei keinen Wagen auf der Straße fand, würde sie wissen, dass Sommer einen Komplizen hatte.
Und Darren wollte nicht, dass sie anfingen, nach einem Komplizen zu suchen.
Natürlich war es auch möglich, dass in dem Durcheinander, das wahrscheinlich im Haus entstanden war, Belinda oder George erschossen worden waren. Und dann, zu dieser Erkenntnis kam Darren Slocum schließlich, gab es noch eine Möglichkeit, die allerschlimmste: dass Detective Rona Wedmore getötet worden war.
Von Sommer.
Dann wartete Slocum gerade auf einen Polizistenmörder.
Noch schlechter.
Lass es Sommer sein, dachte Slocum. Das wäre überhaupt das Beste. Wenn Sommer tot war, konnte er nicht mehr viel sagen. Er konnte nichts über seine Geschäfte mit Darren und seiner Frau ausplaudern. Selbst für Darren, der von Berufs wegen mit allerlei Gesocks zu tun hatte, war Sommer ein besonders furchteinflößendes Exemplar dieser Spezies. Einer Sache war er sich ganz sicher: Er würde nachts besser schlafen, wenn er wüsste, dass der Typ tot war.
Grübelnd und unentschlossen stand er neben dem Wagen. Was sollte er tun? Hier bleiben? Zum Haus gehen? Einfach abhauen? Zu Fuß würde er es in zehn Minuten von der Cloverdale Avenue zu sich nach Hause in den Harborside Drive schaffen.
Und dann? Was, wenn seine Kollegen eins und eins zusammenzählten? Wenn sie vor seiner Tür standen, würden sie ihm Handschellen anlegen, auch wenn Sommer tot war und kein Wort gesagt hatte?
Wenn er nach Hause kam, sollte er alles zusammenpacken und mit Emily verschwinden? Und wenn er realistisch war, wie weit glaubte er, kommen zu können? Er war auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet. Er hatte nichts, um eine andere Identität anzunehmen. Die Kreditkarten, die er besaß, waren alle auf seinen Namen ausgestellt. Wie lang würden die Behörden brauchen, um ihn aufzustöbern? Einen Mann auf der Flucht mit einem kleinen Mädchen im Schlepptau?
Einen Tag? Wenn überhaupt.
Was sollte er tun? Er konnte sich nicht entschließen. Zuerst musste er wissen, was sich in dem Haus abgespielt –
Jemand kam heraus.
Es war Sommer. Mit einer Waffe in der Hand.
Er rannte auf den Wagen zu. Slocum lief ihm entgegen. »Was, zum Teufel, ist da drin passiert?«, rief er.
»Rein in den Wagen«, sagte Sommer, nicht sehr laut, aber entschieden. »Ich habe das Geld.«
Slocum blieb, wo er war. »Der Schuss? Was war da los?«
Sommer stand jetzt ganz dicht vor ihm. »Rein in den verdammten Wagen.«
»Ich hab Rona Wedmore da reingehen sehen. Eine Polizistin! Und Sie kommen heraus, allein. Was ist da drin passiert?« Slocum packte Sommer bei den Aufschlägen seines Sakkos. »Was haben Sie getan, verdammt noch mal?«
»Ich habe auf sie geschossen. Steigen Sie ein.«
In der Ferne heulten Sirenen.
Slocums Hände glitten an Sommers Aufschlägen hinunter. Mit hängenden Armen stand er da und schüttelte ein, zwei Mal den Kopf, als sei eine Art Frieden über ihn gekommen.
»Wird’s bald«, sagte Sommer.
Doch Slocum rührte sich nicht. »Es ist vorbei. Das alles. Es ist vorbei.« Er sah zum Haus hinüber. »Ist sie tot?«
»Wen interessiert’s?«
Überrascht hörte Slocum sich sagen: »Mich. Sie ist eine Kollegin. Und viel mehr Polizistin, als ich je war. Eine Kollegin ist verletzt, da muss ich helfen.«
Sommer richtete seine Pistole auf Slocum. »Müssen Sie nicht«, sagte er. Und drückte ab.
Slocum griff sich an die linke Seite, direkt über dem Gürtel, und sah hinunter. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er fiel zuerst auf die Knie, dann kippte er zur Seite, die Hand noch immer auf der Wunde.
Sommer überquerte die Straße, schlug die Beifahrertür zu, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Er streckte die Hand aus, um den Zündschlüssel zu drehen.
»Was zum –«
Der Schlüssel, den er extra hatte stecken lassen, war nicht mehr da. Er öffnete die Tür, damit die Innenraumbeleuchtung anging und er sehen konnte, ob der Schlüssel auf die Bodenmatte gefallen war.
Noch mehr Sirenen.
»Verdammt!«, sagte er. Er stieg wieder aus und war mit wenigen langen Schritten bei Slocum, der sich noch immer den Bauch hielt, als könne er sich dadurch selbst zusammenhalten.
»Der Schlüssel. Her mit dem Schlüssel.«
»Leck mich«, sagte Slocum.
Sommer kniete sich hin und tastete Slocums Taschen ab. Er beschmierte sich die Hände mit Blut. »Wo ist er, verdammt? Wo ist er?«
In diesem Augenblick hob er zufällig den Kopf und sah zum Haus der Mortons.
Jemand taumelte aus dem Haus, in einer Hand eine Waffe, die andere gegen die Schulter gepresst. Rona Wedmore. Sie warf einen Blick ins Haus zurück und rief: »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Sommer dachte, schlimmer könne es nicht mehr kommen.
Da kam ein Pick-up um die Ecke und fuhr auf das Haus zu.