Sechzehn

Nach dem Gespräch mit Darren Slocum war ich sehr beunruhigt. Ich ging ins Haus zurück und rief sofort Kelly an.

»Hi, Dad«, sagte sie.

»Hallo, mein Schatz. Wo bist du?«

»Ich hol mir grad ein Eis im Einkaufszentrum.«

»In welchem?«

»In Stamford.«

»Kannst du mir deine Großmutter mal geben?«

»Sekunde. Sie sitzt da drüben.«

Ich hörte die typischen Hintergrundgeräusche eines Einkaufszentrums – Stimmengewirr, nichtssagende Musik –, dann die Stimme meiner Tochter: »Mein Dad will dich sprechen.«

»Ja, Glen?«

»Fiona, könntest du Kelly über Nacht nehmen?« Ich wusste, dass Kelly eine Zahnbürste, einen Schlafanzug und Anziehsachen für mehrere Tage bei Fiona in Darien hatte.

Kurzes Schweigen, dann Flüstern, als wolle sie verhindern, dass Kelly mithörte. »Ist das nicht ein bisschen früh, Glen?«

»Wie bitte?«

»Dass du dir jemanden einlädst? Ist es diese Frau von nebenan? Diese Mueller? Sheila hat mir von ihr erzählt. Ich hab sie an der Tür rumlungern sehen, als wir wegfuhren. Meine Tochter ist noch nicht einmal drei Wochen tot, ist dir das klar?«

Ich schloss die Augen und zählte bis drei. »Ann Slocums Mann war hier, als ihr schon weg wart. Er war ziemlich durch den Wind.«

»Was?«

»Er war, ich weiß nicht, irgendwie daneben. Er wollte mit Kelly reden, und ich kann mir nicht vorstellen, wozu das gut sein soll. Nur für den Fall, dass er es später noch mal probiert, fände ich es gescheiter, wenn Kelly bei dir bliebe.«

»Was meinst du mit ›irgendwie daneben‹?«

»Das ist eine lange Geschichte, Fiona. Was mir im Moment wirklich helfen würde, wäre, wenn du Kelly bis morgen nehmen könntest. Bis ich sicher bin, dass alles vorbei ist.«

»Was gibt’s denn?«, hörte ich Marcus fragen.

»Gleich«, sagte Fiona zu ihm. Zu mir sagte sie: »Ja, natürlich, dann bleibt sie bei uns. Kein Problem.«

»Danke«, sagte ich und wartete, ob sie vielleicht auf die Idee kam, sich für das zu entschuldigen, was sie mir anfangs unterstellt hatte.

»Kelly will dich sprechen«, sagte sie.

Ich hörte, wie das Handy weitergereicht wurde, und dann: »Dad? Was ist denn los?«

»Du übernachtest heute bei Grandma. Nur diese eine Nacht.«

»Ja, gut«, sagte sie, nicht begeistert, aber auch nicht enttäuscht. »Ist was passiert?«

»Nichts Schlimmes, Mäuschen.«

»Hast du was über die Sache mit Emilys Mom erfahren?«

»Es war ein Unfall, Mäuschen«, sagte ich. »Sie ist verunglückt, als sie aus dem Wagen stieg, weil sie einen platten Reifen hatte.«

Kelly ließ das einen Moment auf sich einwirken. »Jetzt haben Emily und ich also echt was gemeinsam.«


Darren Slocum hatte behauptet, was er von mir gehört habe, genüge ihm, auch wenn es nicht viel war, was Kelly seine verstorbene Frau am Telefon hatte sagen hören. Aber ich traute dem Frieden nicht. Wie ich Fiona gesagt hatte, machte ich mir Sorgen, er könne wiederkommen, und Kelly einen Tag von zu Hause fernzuhalten schien mir eine gute Lösung. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf er angespielt hatte, als er meinte, ich wäre kürzlich zu Geld gekommen. Seit Sheilas tödlichem Unfall waren noch keine drei Wochen vergangen, und er deutete an, ich hätte ein bisschen Glück gehabt?

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, also hakte ich es als das Gefasel eines vom Kummer über den Tod seiner Frau verwirrten Mannes ab.

Nach dem Mittagessen fuhr ich dann wirklich ins Büro. Die Firma lag in einer Seitenstraße der Cherry Street, kurz vor dem Just Inn Time Hotel und etwa einen Kilometer vom Einkaufszentrum Connecticut Post Mall entfernt. Es gelang mir zwar, ein wenig Ordnung zu schaffen, aber beim Abhören des Anrufbeantworters merkte ich, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, diese Leute zurückzurufen, doch im Moment war mir die Vorstellung unerträglich, mit einem Kunden zu sprechen oder bei ihm vorbeizuschauen und mir seine Beschwerden über unerledigte Arbeiten anzuhören. Ich machte mir aber Notizen, damit Sally sich am Montag mit ihnen in Verbindung setzen konnte. Was die Wahl ihrer Männerbekanntschaften anging, hatte Sally kein gutes Händchen, aber bei der Arbeit war sie immer auf Zack. Wir nannten sie unsere »Multitaskerin«, weil sie die Einzelheiten zahlloser Projekte gleichzeitig im Kopf behalten konnte. Ich hatte selbst erlebt, wie sie ein schwieriges Telefonat mit einem Fliesenlieferanten über das Material führte, das wir auf einer Baustelle brauchten, und sich parallel dazu Notizen über Sanitärmaterial für eine andere machte. Sally sagte dann immer, dass in ihrem Kopf mehrere Programme gleichzeitig liefen und dass sie sich damit das Recht auf einen totalen Systemausfall erworben hatte, der bestimmt eines Tages eintreten würde.

Nachdem ich im Büro alles abgeschlossen hatte, fuhr ich zu einem nahe gelegenen Supermarkt. Ich kaufte ein Steak für mich zum Abendessen, Salami, ein paar Dosen Thunfisch und Karottenstäbchen, damit Kelly und ich unter der Woche etwas zum Mittagessen hatten. Ich machte mir nicht viel aus Karotten, aber Sheila hätte sie bestimmt nicht nur in Kellys Lunchbox gern gesehen, sondern auch in meiner. Es war seltsam. Ich hatte zwar eine Stinkwut auf meine verstorbene Frau, wollte aber trotzdem respektieren, was ihr wichtig gewesen war.

Damit es am Morgen nicht zu hektisch zuging, bemühte ich mich, daran zu denken, die Lunchboxen schon am Abend davor herzurichten und mir von Kelly dabei helfen zu lassen.

Als sie fünf war, in die erste Klasse ging und zum ersten Mal jeden Tag etwas zu essen mitnehmen musste, bat sie uns, ihr auch immer einen Beutel Kartoffelchips dazuzustecken. Ihre Freundin Kristen bekäme jeden Tag einen mit, warum dann nicht auch sie? Also wenn Kristens Mutter ihr diesen Müll jeden Tag mitgeben wolle, sei das ihre Sache, sagten wir. Wir tun das jedenfalls nicht.

Kelly fragte daraufhin, ob sie Kekse aus Rice Krispies mitbekommen könne. Da waren zwar geschmolzene Marshmallows drin, aber die Getreideflocken waren doch gesund, oder? Ich half ihr also, welche zu machen. Wir schmolzen Butter und Marshmallows, mischten alles in einer riesigen Schüssel und füllten es in eine Auflaufschale. Glücklich und zufrieden nahm Kelly sich jeden Tag einen Keks mit in die Schule.

Ungefähr einen Monat später war Kristen bei Kelly zum Spielen. Irgendwann fragte sie beiläufig, ob wir auch noch Schokochips in die Kekse tun könnten. So mochte sie sie ganz besonders gern. Kelly hatte jeden Tag ihre Kekse gegen Kristens Kartoffelchips eingetauscht.

Diese Geschichte fiel mir wieder ein, als ich in den Gang mit den Frühstücksflocken kam. Ich musste lächeln. Wie lange das schon her war. Es wäre bestimmt nett, an einem der nächsten Abende mal wieder solche Kekse mit Kelly zu backen. Irgendwann im Lauf der dritten Klasse hatte sie nämlich selbst Geschmack an ihnen gefunden.

Ich streckte die Hand nach einer Packung aus, genau in dem Moment, als jemand anderes – eine Frau Ende dreißig, Anfang vierzig – genau das Gleiche tat. Sie war in Begleitung eines Jungen. Dunkles Haar, Jeans und Jeansjacke, dazu Laufschuhe mit einem Muster aus Streifen und Kringeln. Ich schätzte ihn auf sechzehn, siebzehn.

»Verzeihung«, sagte ich zu der Frau und zog den Arm zurück. »Nach Ihnen.«

Erst jetzt sah ich sie an. Und gleich noch einmal. Ich erkannte sie sofort. Ebenso wie den Jungen bei ihr.

Bonnie Wilkinson. Mutter von Brandon, Ehefrau von Connor.

Die beiden Menschen, die gestorben waren, als sie in Sheilas Wagen rasten.

Dann musste der Junge ihr Sohn Corey sein. Seine Augen wirkten erloschen, als hätten sie alle Tränen seines Lebens bereits vergossen.

Bluse und Hose waren Bonnie Wilkinson viel zu weit, ihr Gesicht war grau und verhärmt. Sie öffnete den Mund und vergaß ihn zu schließen, als ihr klarwurde, wer neben ihr stand.

Ich zog meinen Wagen zurück, um den beiden Platz zu machen. Ich brauchte keine Rice Krispies. Jedenfalls im Moment nicht. »Bin schon weg«, sagte ich.

Da fand sie ihre Sprache wieder, wenn auch mit Müh und Not. »Warten Sie nur ab«, sagte sie.

Ich blieb stehen. »Wie bitte?«

»Sie bekommen auch noch, was Sie verdienen«, sagte sie. »Und nicht zu knapp.« Ihr Sohn durchbohrte mich mit seinem erloschenen Blick.

Ich ließ meinen halbvollen Einkaufswagen stehen und verließ den Laden.


Ich fuhr zu einem anderen Supermarkt und holte mir dort, was ich benötigte. Und statt Rice Krispies kaufte ich, was ich für eine Lasagne zu brauchen glaubte. Ich wusste, so gut wie Sheilas würde meine nicht werden, aber probieren wollte ich es.

Auf der Heimfahrt machte ich einen Umweg, um bei Doug Pinder vorbeizuschauen.

Mein Vater hatte ihn ungefähr zu der Zeit eingestellt, als ich meinen Abschluss in Bates machte. Damals war Doug dreiundzwanzig und damit ein Jahr älter als ich. Wir hatten jahrelang Seite an Seite gearbeitet, doch es war stets klar, dass ich eines Tages der Boss sein würde, auch wenn niemand damit gerechnet hatte, dass es so bald sein würde.

Dad beaufsichtigte damals gerade die Bauarbeiten an einem Einfamilienhaus in Bridgeport. Er hatte soeben einen Pick-up mit über zwanzig großen Sperrholzplatten abgeladen, als er sich an die Brust griff und zu Boden stürzte. Der Sanitäter sagte, Dad war schon tot, ehe sein Kopf das weiche Gras berührte. Ich fuhr mit ihm im Rettungswagen ins Krankenhaus und zupfte ihm die Grashalme aus dem schütteren grauen Haar.

Dad war vierundsechzig geworden. Ich war damals dreißig. Ich ernannte Doug Pinder zum stellvertretenden Betriebsleiter.

Doug war eine gute rechte Hand. Er war Experte für Schreinerarbeiten, doch er verstand auch sonst genug vom Baugewerbe, um Arbeiten überwachen und mit anpacken zu können, wenn Not am Mann war. Und während ich eher zurückhaltend war, war Doug ein extrovertierter und herzlicher Mensch. Er wusste besser als ich, was er sagen und tun musste, um die Leute bei Laune zu halten, wenn es irgendwo brenzlig wurde. Jahrelang hätte ich nicht gewusst, wie ich ohne ihn hätte zurechtkommen sollen.

Doch in den letzten Monaten war Doug nicht mehr der Alte gewesen. Er war nicht mehr der Mittelpunkt einer Party oder wirkte zumindest nicht echt, wenn er versuchte, es zu sein. Ich wusste, dass er zu Hause Probleme hatte, und brauchte nicht lang, um zu erkennen, dass sie finanzieller Art waren. Als Doug und seine Frau Betsy vor vier Jahren ein neues Haus kauften, bekamen sie eine dieser zweitklassigen Hypotheken, bei denen man so gut wie keine Eigenmittel brauchte und die eigentlich zu schön waren, um wahr zu sein. Als im vergangenen Jahr die Verlängerung fällig war, standen sie plötzlich mit doppelt so hohen monatlichen Belastungen da.

Betsy hatte in der Buchhaltung eines GM-Vertragshändlers gearbeitet, bis dieser bankrottgegangen war. Sie hatte zwar eine Teilzeitstelle in einem Möbelhaus in Bridgeport gefunden, brachte aber bestimmt höchstens die Hälfte von dem nach Hause, was sie früher verdient hatte.

Das Gehalt, das Doug von mir bekam, war zwar nicht weniger geworden, aber damit hielten sie sich bestenfalls gerade so über Wasser. Wahrscheinlich waren sie eher am Ertrinken. Die Geschäfte auf dem Bau-und Renovierungssektor liefen zwar schlecht, trotzdem war es mir bis jetzt gelungen, Lohnkürzungen zu vermeiden. Wenigstens bei meinen Angestellten, bei Doug, Sally, Ken Wang und Stewart, unserem Jüngsten von jenseits der Grenze.

Die Pinders wohnten in einer Seitenstraße der Roses Mill Road in einem einstöckigen Haus am Waldrand in der Nähe des Indian Lake. Als ich ankam, standen beide Wagen in der Einfahrt, Dougs uralter Toyota Pick-up mit Ladeflächenabdeckung und Betsys geleaster Infiniti.

Ich wollte gerade an die Haustür klopfen, da hörte ich laute Stimmen. Ich blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Die Atmosphäre in diesem Haus konnte ich mir zwar ausmalen – dicke Luft war das Einzige, was mir dazu einfiel –, aber was tatsächlich gesprochen wurde, konnte ich nicht verstehen.

Ich klopfte laut, sonst – das war mir klar – würde mich bei diesem Tumult kein Mensch hören.

Das Gezeter verstummte fast augenblicklich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Gleich darauf öffnete Doug die Tür. Sein Gesicht war gerötet, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er lächelte und stieß die Insektenschutztür auf.

»Hey! Hoppla! Wen haben wir denn da?«

Ich trat ein.

»Hey, Bets, es ist Glenny!«

Von irgendwo oben kam ein fröhliches »Hi, Glen!«, als wäre nichts geschehen. Als hätten sie sich nicht gerade noch gegenseitig zerfleischt.

»Hi, Betsy«, rief ich nach oben.

»Magst du ein Bier?«, fragte Doug und führte mich in die Küche.

»Nein, mach dir –«

»Komm schon, ein Bier.«

»Na gut«, sagte ich. »Warum nicht?«

Als ich in die Küche kam, fiel mein Blick sofort auf einen Stapel ungeöffneter Briefumschläge neben dem Telefon. Sie sahen alle nach Rechnungen aus. Auf mehreren konnte ich in der linken oberen Ecke die Logos von Banken und Kreditkartenfirmen erkennen.

»Was darf’s denn sein?«, fragte Doug und öffnete den Kühlschrank.

»Egal. Was du da hast.«

Er nahm zwei Dosen Coors, gab mir eine davon und riss seine gleich auf. Er streckte sie mir entgegen, damit wir anstoßen konnten. »Auf das Wochenende«, sagte er. »Wer immer es erfunden hat, ich würde ihm gern die Hand schütteln.«

»Genau«, sagte ich.

»Schön, dass du vorbeischaust. Echt klasse. Wollen wir uns ein Spiel anschauen oder so? Irgendwas läuft bestimmt. Ich hab noch gar nicht geguckt. Wenn schon sonst nichts, dann Golf. Es gibt Leute, die schauen sich kein Golf an, weil sie glauben, da tut sich nix. Aber mir gefällt’s. Hauptsache, es gibt genügend Leute, die spielen, und die Kamera kann von einem Loch zum nächsten schalten, damit man nicht zu viel Zeit verplempert, den Leuten beim Rumlatschen zuzuschauen.«

»Ich muss gleich wieder weiter«, sagte ich. »Ich hab Lebensmittel im Auto. Einiges davon muss in den Kühlschrank.«

»Du könntest es ja so lange in unseren stellen«, bot Doug mir eifrig an. »Soll ich rausgehen und es holen? Kein Problem.«

»Nein. Es gibt da was, über das ich mit dir reden muss.«

»Scheiße, gibt’s ein Problem auf einer von den Baustellen?«

»Nein, nichts dergleichen.«

Dougs Lächeln verschwand, als hätte man es von einer Tafel gelöscht. »Verdammt, Glen, du schmeißt mich doch nicht raus, oder?«

»Aber wo«, sagte ich.

Das Lächeln kehrte zurück. »Da bin ich aber froh. Mensch, jetzt hast du mich aber ganz schön erschreckt.«

Betsy klapperte die Treppe herunter. Sie kam in die Küche und küsste mich auf die Wange.

»Wie geht’s meinem großen, starken Mann?«, sagte sie, aber mit ihren hohen Absätzen war sie beinahe genauso groß wie ich.

»Hi«, sagte ich.

Betsy war eigentlich ein zierliches Persönchen, ein Meter fünfundfünfzig, wenn’s hochkam, trug aber zum Ausgleich oft mörderisch hohe Absätze. Heute hatte sie dazu einen kurzen schwarzen Rock, eine weiße Bluse und einen Blazer an. Über ihrem Arm hing eine Handtasche, auf deren einer Seite die Aufschrift »Prada« prangte. Die hatte sie wahrscheinlich an jenem Abend erstanden, als Ann Slocum bei uns ihre gefälschten Designerhandtaschen verhökerte. An Dougs Stelle würde ich mir Gedanken machen, wenn meine Frau so aus dem Haus ging.

»Wann kommst du wieder?«, fragte Doug sie.

»Wenn ich komme, bin ich da«, antwortete sie.

»Dass du ja nicht …« Doug verstummte. »Halt dich zurück.«

»Mach dir keine Sorgen, ich werd schon nichts anstellen«, sagte sie. Mir lächelte sie zu. »Doug glaubt, ich bin einkaufssüchtig.« Sie schüttelte den Kopf. »Alkoholsüchtig, vielleicht.« Sie lachte. Gleich darauf sah sie mich entsetzt an. »O Gott, Glen, es tut mir so leid, dass ich das gesagt habe.«

»Schon gut.«

»Ich hab einfach nicht nachgedacht.« Sie berührte mich am Arm.

»Das ist überhaupt dein Problem«, sagte Doug.

»Leck mich«, sagte sie so gelassen, als hätte sie ihm Gesundheit gewünscht, nachdem er geniest hatte. Die Hand noch immer auf meinem Arm, fragte sie mich: »Wie kommst du zurecht? Und Kelly? Wie geht’s ihr?«

»Geht so.«

Sie drückte meinen Arm. »Wenn wir einen Dollar bekämen für jedes Mal, dass ich ins Fettnäpfchen trete, würden wir im Hilton wohnen. Ich muss los.«

»Glenny und ich machen’s uns ein bisschen gemütlich«, sagte Doug, obwohl ich dachte, ich hätte ihm klargemacht, dass ich nicht viel Zeit hatte. Ich war froh, dass Betsy ging. Das, was ich Doug zu sagen hatte, wollte ich ihm sowieso nicht vor seiner Frau sagen.

Ich rechnete nicht damit, dass Betsy ihrem Mann einen Abschiedskuss geben würde, und ich hatte recht. Sie drehte sich auf ihren Mörderabsätzen um und verließ das Haus. Als die Haustür zufiel, grinste Doug verlegen und sagte: »Das Gewitter zieht ab.«

»Alles in Ordnung bei euch?«

»Klar doch! Alles im grünen Bereich.«

»Betsy sieht gut aus.«

»Ach, das ist keine, die sich gehenlässt, das ist so sicher wie die Schließfächer in der Bank. Wenn da nur was drin wäre.« Er rang sich ein Lachen ab. »Ich schwör dir, wie diese Frau mit dem Geld um sich schmeißt, könnte man glauben, sie hätte einen Gelddrucker im Keller. Sie muss irgendwo einen Geheimvorrat haben.«

Sein Blick landete auf dem Stapel ungeöffneter Rechnungen neben dem Telefon. Er stellte sich davor, zog eine Schublade auf und fegte sie hinein. Dort lagen bereits mehrere andere.

»Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er.

»Setzen wir uns nach draußen«, schlug ich vor.

Wir nahmen unsere Bierdosen mit hinaus auf die Veranda. Von jenseits der Bäume war der Verkehr auf der Interstate 95 zu hören. Doug hatte eine Packung Zigaretten mitgenommen, klopfte eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Beim Eintritt in die Firma war er ein starker Raucher gewesen, hatte es aber ein paar Jahre später aufgegeben. Im letzten halben Jahr hatte er es sich jedoch wieder angewöhnt. Er zündete sich die Zigarette an, inhalierte den Rauch und stieß ihn durch die Nasenlöcher aus. »Herrlicher Tag«, sagte er.

»Wunderschön.«

»Ganz schön frisch, aber da draußen spielen sie noch immer Golf.«

»Sally war heute bei mir«, sagte ich.

Er sah mich kurz an. »Aha?«

»Mit Theo.«

»O Gott, Theo. Glaubst du, sie wird ihn echt heiraten? Ist ja nicht so, dass ich ihn nicht leiden kann, aber ich glaube, sie hätte was Besseres verdient. Du weißt, was ich meine.«

»Theo wollte wissen, warum ich ihn nicht mehr einsetze.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Die Wahrheit. Dass er nicht gut genug arbeitet und dass der Sicherungskasten, den er eingebaut hat, wahrscheinlich der Grund ist, warum das Wilson-Haus abgebrannt ist.«

»Au weh.« Noch ein Schluck Bier, noch ein Zug an der Zigarette. »War’s das?«

»Sally hat geplaudert, Doug.«

»Häh?«

»Es tut ihr leid, dass sie’s tun musste, aber du hast ihr keine Wahl gelassen.«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Glenny.«

»Stell dich nicht blöd. Dazu kennen wir uns zu lang.«

Er senkte den Blick. »Es tut mir leid.«

»Wenn du einen Vorschuss brauchst, dann fragst du mich.«

»Hab ich getan, und du hast nein gesagt. Beim letzten Mal.«

»Das hätte dir reichen müssen. Wenn ich dir einen geben kann, geb ich dir einen, wenn ich nicht kann, tu ich’s nicht. Die Zeiten sind alles andere als rosig. Die Aufträge werden immer weniger, und wenn die Versicherung für das Wilson-Haus nicht zahlt, sind wir wirklich im Arsch. Also mach nie wieder was hinter meinem Rücken und spann Sally dafür ein.«

»Ich war wirklich in der Klemme«, sagte Doug.

»Ich bin kein Mensch, der den anderen sagt, was sie tun sollen, Doug. Ich glaub nämlich nicht, dass es mich was angeht, wie die Leute ihr Leben leben. Aber bei dir mach ich eine Ausnahme. Ich seh doch, was da läuft. Die Bitten um Vorschuss. Die ungeöffneten Rechnungen. Betsy auf Einkaufstour, wo ihr bis zum Hals in Schulden steckt.«

Er sah mich nicht an. Auf einmal waren seine Schuhe rasend interessant.

»Ihr müsst das in den Griff bekommen, und zwar sofort. Vielleicht müsst ihr das Haus aufgeben, euch von einem Auto verabschieden, ein paar Sachen verkaufen. Vielleicht müsst ihr ganz von vorn anfangen, aber ihr müsst etwas tun. Auf eins kannst du dich aber verlassen: Ich werde dich nicht vor die Tür setzen, zumindest solange du nicht versuchst, mich auszutricksen.«

Er stellte seine Dose ab, warf die Zigarette weg und bedeckte seine Augen mit den Händen. Ich sollte ihn nicht weinen sehen.

»Ich bin so was von im Arsch«, sagte er. »Ich bin so was von total im Arsch. Aber damals haben die uns doch das Blaue vom Himmel herunter versprochen.«

»Wer sie?«

»Alle. Haben gesagt, wir können alles haben. Das Haus, die Autos, den Blue-Ray-Spieler, riesige Flachbildfernseher, alles, was wir wollten. Sogar jetzt, wo wir schon absaufen, schicken sie uns immer noch neue Kreditkarten. Betsy klammert sich dran, als wären es Rettungsringe, aber in Wirklichkeit sind es nur Anker, die uns noch weiter runterziehen.«

Er schniefte, rieb sich die Augen, sah mich an. »Sie hört mir gar nicht zu. Ich sag ihr immer wieder, wir können nicht so weitermachen, aber sie sagt, mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Sie kapiert’s einfach nicht.«

»Du aber auch nicht«, sagte ich. »Denn du tust nichts dagegen.«

»Willst du wissen, was wir tun? Wir haben jetzt um die zwanzig Kreditkarten. Wir nehmen die eine, um den Kontostand auf der anderen auszugleichen. Ich hab schon komplett den Überblick verloren. Ich kann mich nicht mehr überwinden, die Rechnungen aufzumachen. Ich will das alles gar nicht wissen.«

»Du musst das ja nicht allein stemmen«, sagte ich. »Es gibt Leute, die dir dabei helfen.«

»Manchmal glaub ich, es wäre leichter, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen.«

»Doug, denk nicht an so was. Pack den Stier bei den Hörnern. Du wirst eine ganze Weile brauchen, um dich aus diesem Sumpf herauszuziehen, aber wenn du jetzt anfängst, bist du früher draußen.« Ich stand auf. »Danke fürs Bier.«

Er schaffte es nicht, aufzustehen. Sein Blick war wieder auf den Boden geheftet.

»Ja, danke auch«, sagte er, aber es lag keine Aufrichtigkeit in seinem Ton. »Bei manchen hat Dankbarkeit halt ein kurzes Gedächtnis.«

Ich überlegte, ob ich darauf antworten sollte oder einfach gehen. Nach ein paar Sekunden sagte ich: »Ich weiß, ich hab dir mein Leben zu verdanken, Doug. Ohne dich hätte ich vielleicht nie aus diesem verräucherten Keller herausgefunden. Aber du kannst nicht ewig mit diesem Pfund wuchern. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»Aber sicher«, sagte er und sah auf den Garten hinaus. »Und ich … ich nehme an, du willst nicht, dass ich ein paar Leute anrufe.«

Ich blieb stehen. »Leute anrufen? Wozu?«

»Ich kenn dich schon lang, Glenny. Auf jeden Fall lang genug, um zu wissen, dass nicht jeder Auftrag in den Büchern steht. Lang genug, um zu wissen, dass du ein paar kleine Geheimnisse hast.«

Ich starrte ihn an.

»Erzähl mir bloß nicht, dass du nicht irgendwo einen Notgroschen versteckt hast«, sagte er, und seine Stimme klang allmählich wieder fester.

»Tu das nicht, Doug. Das ist unter deiner Würde.«

»Ein anonymer Anruf und du hast das Finanzamt so tief im Arsch, dass sie die Löcher in deinen Zähnen zählen können. Aber du hast es ja nicht nötig, jemandem zu helfen, der gerade ein paar Probleme hat. Denk mal darüber nach.«

Weil Ich Euch Liebte
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