Achtundfünfzig
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte Marcus und nahm Kelly ihr Telefon aus der Hand.
Er spielte das Video vom Anfang bis zum Ende ab.
»Hast du das gehört?«, fragte Kelly. »Sie sagt so was wie ›Marcus, Geschäft ist Geschäft‹. Hast du’s gehört?«
»Ja«, sagte er. »Ich glaube schon.«
Das Festnetztelefon klingelte. Als Marcus keine Anstalten machte abzuheben, fragte Kelly: »Soll ich rangehen?«
»Nein, lass es einfach klingeln. Wenn es wichtig ist, werden sie schon eine Nachricht hinterlassen.«
Sekunden später machte Fionas Handy auf dem Tisch in der Diele Radau.
»Und jetzt?«, fragte Kelly.
»Kümmer dich nicht drum«, sagte Marcus, Kellys Handy noch immer in der Hand. Als auch das plötzlich klingelte, erschrak Kelly.
»Das ist meins!«, sagte sie. »Da muss ich rangehen.«
Marcus hob das Handy so hoch, dass Kelly es nicht erreichen konnte. »Aber nicht jetzt. Wir unterhalten uns gerade.«
»Kann ich sehen, wer’s ist?«
Marcus schüttelte den Kopf. »Du kannst später nachsehen.«
»Das ist gemein« protestierte Kelly. »Das ist mein Handy.«
Als das Klingeln aufgehört hatte, steckte Marcus das Handy in die Hosentasche. Völlig verdutzt sah Kelly ihm dabei zu.
»Kelly«, sagte Marcus, »hast du das auf dem Video heute zum allerersten Mal gehört?«
»Häh?« Sie rang noch immer um Fassung. Wie kam der Mann ihrer Großmutter dazu, einfach ihr Handy zu stehlen? »Ja, schon.«
»Hat irgendjemand anderes das je bemerkt?«
»Ich glaube nicht. Der Einzige, der das Video außer mir gesehen hat, ist mein Dad. Ich hab’s ihm gemailt.«
»Aha«, sagte Marcus. »Nur ihr zwei.«
»Warum hast du an dem Abend Emilys Mom angerufen?«
»Sei bitte still.«
»Gib mir mein Handy zurück.«
»Gleich, Kind. Ich muss nachdenken.«
»Worüber musst du nachdenken?«, fragte sie. »Bitte gib’s mir wieder. Ich hab doch gar nichts gemacht. Ich räume immer meine Sachen weg und tu, was du und Grandma mir sagt.«
»Wir haben doch vorhin überlegt, ob wir spazieren gehen sollen. Das könnten wir doch jetzt tun, meinst du nicht?«
Kelly mochte nicht, wie Marcus gerade dreinsah. Nicht einmal sein gekünsteltes Lächeln brachte er zustande. Sie wollte nach Hause. Und zwar sofort. »Gib mir mein Handy, damit ich meinen Dad anrufen kann.«
»Ich gebe dir dein Handy, wenn es mir passt«, sagte er.
Kelly drehte sich jäh um und verließ die Küche. Sie ging zum nächsten Festnetztelefon und begann, die Handynummer ihres Vaters einzutippen.
Marcus riss ihr den Hörer aus der Hand und knallte ihn auf die Gabel.
»Jetzt wird nicht telefoniert, du kleines Luder«, sagte er.
Kellys Lippe zitterte. So hatte Fionas Mann noch nie mit ihr gesprochen. Marcus packte sie am Handgelenk und drückte fest zu. »Fang jetzt bloß nicht an zu plärren!«
»Du tust mir weh«, sagte Kelly. »Lass mich los! Lass los!«
»Setz dich hin«, sagt er und zwang sie auf das Sofa hinter dem Couchtisch. Er stellte sich so hin, dass sie nicht aufstehen konnte. Die Kleine wimmerte.
»Das geht mir auf die Nerven«, sagte er zu ihr. »Hör sofort auf, oder ich dreh dir den Hals um.«
Kelly bemühte sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Seltsame Geräusche drangen aus ihrer Kehle. Sie wischte sich mit dem Zeigefinger die Nase ab und versuchte auch, sich die Tränen von den Wangen zu wischen.
Minutenlang stand Marcus nur da und führte Selbstgespräche. »… muss was tun«, sagte er. Unvermittelt packte er Kelly am Handgelenk. »Ein Spaziergang. Wir machen jetzt einen Spaziergang.«
»Ich will aber nicht«, protestierte Kelly.
»Das ist doch prima. Die frische Luft wird uns guttun.«
»Nein!«, schrie Kelly. »Ich will nicht!«
In diesem Augenblick ging die Eingangstür auf, und Fiona kam herein. »Jetzt hab ich doch tatsächlich mein –«
Was für ein Anblick. Marcus, knallrot und bebend, hielt Kelly fest. Die Kleine weinte, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
»Grandma!«, rief sie und versuchte, sich loszureißen. Aber Marcus ließ nicht locker.
»Was ist denn hier los?«, fragte Fiona streng. »Marcus, lass das Kind los!«
Aber er ließ nicht los. Kelly schrie weiter.
»Marcus!«, rief Fiona. »Ich habe gesagt, du –«
»Halt die Klappe, Fiona«, sagte er. »Halt deine verdammte Klappe.«
»Bist du übergeschnappt? Was machst du denn da?«
»Was hab ich gesagt?«, brüllte er sie an. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt hab? Du sollst die Klappe halten, oder ich dreh ihr den Hals um. Ich schwöre bei Gott, ich tu’s.«
Fiona machte zwei zaghafte Schritte auf ihn zu. »Marcus, so sag mir doch –«
»Wo ist dein Schlüssel?«
»Was?«
»Dein Autoschlüssel. Wo ist der?«
»Marcus, was du auch vorhast, es ist Wahnsinn.«
Marcus legte Kelly einen Arm um den Hals.
»Er ist im Wagen. Ich hab ihn stecken lassen.«
»Geh mir aus dem Weg. Kelly und ich fahren weg.«
»Bitte Marcus, sag mir doch, was eigentlich los ist.«
»Es ist wegen Emilys Mom«, platzte Kelly heraus.
»Was?«
»Hör gar nicht hin«, sagte Marcus. »Das ist nur dummes –«
Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen.