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ZUM EWIGEN GEDENKEN AN DEN GNÄDIGSTEN VATER DES VATERLANDES KARL HERZOG VON WÜRTTEMBERG DER DIE STREITIGKEITEN UM WALDGEBIETE ZWISCHEN ENDERSBACH UND STRÜMPFELBACH HIERORTS SCHL1ESSLICH FEIERLICH UND GLÜCKLICH SCHLICHTETE.

AM 7. JUNI 1793.

Er wusste nicht mehr, wie lange er schon in die Betrachtung der Inschrift des Karlsteins versunken auf der Bank geruht hatte, schrak auf, als er die lauten Stimmen von Kindern hörte, die voller Begeisterung auf den unmittelbar benachbarten Spielplatz zustürmten. Er erhob sich, folgte dem Weg aus dem Wald Richtung Hirschkopf, sah einen Jungen und ein Mädchen auf die Schaukeln klettern. Die Kinder nahmen auf den schmalen Sitzflächen Platz, stießen sich mit den Füßen vom Boden ab, warfen ihre Körper mit lauten Begeisterungsschreien zurück.

Wie letztes Jahr, schoss es ihm durch den Kopf, sah das Bild wieder vor sich. Er auf der rechten Schaukel, sie auf der linken …

Die Kinder hinter ihm jubelten vor Freude, katapultierten ihre Körper weit in die Luft. Genau wie damals, überlegte er, kurz bevor sie die Hütte erreicht hatten.

Er lief zum Hirschkopf, lehnte sich an den breiten Stein, der das Panorama der Umgebung reliefartig abbildete. Rechts die Höhen des Welzheimer Waldes, im Vordergrund die dicht besiedelten Flächen des Remstals von Grunbach über Beutelsbach, Endersbach und Stetten bis Waiblingen, überragt vom Korber und dem Kleinheppacher Kopf. Im Hintergrund die Silhouette des Schwäbischen Waldes, ihm vorgelagert der kleine, aber markante Rücken des Aspergs und das über und über besiedelte Neckar-Umland mit Ossweil, Remseck und den Stuttgarter Vororten Neugereut und Mühlhausen. Er setzte das Fernglas an die Augen, hatte die Obstwiesen und Weinberge Endersbachs und Strümpfelbachs vor sich. Sanft gewölbte Flächen mit Apfel-, Kirsch- und Birnenplantagen, steil ansteigende Hügel mit nach der Flurbereinigung in kerzengerader Linie gepflanzten Rebstöcken. Fast alle waren abgeerntet, nur wenige Lagen noch voller Trauben. Mit dem Acolon und dem Müller-Thurgau hatte es begonnen, er wusste es noch vom letzten Jahr, der Schwarzriesling und der Portugieser waren gefolgt.

Er überflog die nahen Weinberge, hatte die Hütte plötzlich direkt vor Augen. Drei Meter lang, nicht ganz so breit, gerade mal so hoch, dass man sich aufrecht darin bewegen konnte, die schmale Tür, das kleine Fenster, alles wie im letzten Jahr. Seit Tagen hatte er sie im Visier, achtete er darauf, wer sich in ihrer Nähe bewegte. Wenn der Angriff erfolgte, dann garantiert in ihrer Nähe, weil damit zu rechnen war, dass er sich wieder in ihr einquartiert hatte, so wie im letzten Herbst.

Stimmen schreckten ihn aus seinen Gedanken. Er setzte das Fernglas ab, sah eine Gruppe Wanderer den Weg vom Waldrand her kommen, musterte sie aufmerksam. Eine der Frauen blieb stehen – oder war es ein etwas aus der Fasson geratener Mann? – eine korpulente, sehr gut genährte Person, setzte ihren kleinen Rucksack ab, zog sich den Pullover über den Kopf. Sie wirkte verschwitzt, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, verstaute den Pullover in ihrem Rucksack. Er sah die kahlen Stellen auf dem Kopf der Person, bemerkte seinen Irrtum. Hatte er sie vorher nicht als Frau identifiziert?

Er verfolgte den Mann mit seinem Blick, wie er hinter der Gruppe herlief, ertappte sich plötzlich bei dem Gedanken, dass er sich noch keine Mühe gemacht habe, darüber nachzudenken, in welcher Gestalt ihm die Person, von der die tödliche Gefahr drohte, gegenübertreten würde. Unverblümt, ohne jede Tarnung, so wie im letzten Herbst? Oder in raffinierter Verkleidung, in völlig anderer Aufmachung, geschminkt, verhüllt, als neuer Mensch?

Er spürte, wie das Unbehagen in ihm wuchs, Gänsehaut über seinen Rücken kroch, tastete nach dem Metall in seiner Hosentasche. Es fühlte sich kalt an, massiv und schwer. Doch so fest er es auch umklammerte, die undefinierbare Angst in seinem Inneren wollte nicht weichen.