5.
Die mit einem roten Anorak und schwarzen Jeans bekleidete Frau war gerade dabei, sich zu verabschieden, als Neundorf das Haus erreichte. Sie schien Mitte Dreißig, hatte ein schmales, jungmädchenhaft wirkendes Gesicht, helle, fast bleiche Haut.
»So, das war es dann«, sagte sie an die Männer gewandt, die den Kopf voran auf dem Boden knieten und sich dort zu schaffen machten, »wenn der untersuchende Kommissar auftaucht – Sie haben meine Handynummer.«
Neundorf blieb unmittelbar vor dem hell erleuchteten Vorraum stehen, starrte auf den toten, im Gesicht, im Brust- und im Unterleibsbereich stark entstellten Körper eines jungen Mannes, fühlte sich von den weit aufgerissenen Augen des Ermordeten seltsam berührt. Obwohl er still und ohne jede Bewegung rücklings auf dem Boden lag, schien er jeden ihrer Schritte unbarmherzig zu taxieren. So viele durch einen natürlichen, vor allem aber auch einen unnatürlichen Tod hingestreckte Menschen sie schon hatte begutachten müssen, die geöffneten Augen der Leiche machten ihr zu schaffen. Ein unangenehmes Kribbeln überzog Schulter und Rücken.
»Da ist ja die Kommissarin«, hörte sie eine bekannte Stimme, »Nun können Sie persönlich mit ihr sprechen.«
Sie riss sich vom Anblick des toten Körpers los, sah Markus Schöfflers freundliches Grüßen. Der Spurensicherer drückte sich vom Boden hoch, robbte zu seinem Kollegen Hutzenlaub, nickte ihr zu.
Sie atmete tief durch, streckte der jungen Frau die Hand entgegen. »Neundorf vom LKA«, stellte sie sich vor, »guten Morgen.«
»Meike Schlögel. Gerichtsmedizin.« Sie hatte eine sanfte, beruhigend wirkende Stimme, die das Grauen der Umgebung eindrucksvoll kontrastierte. »Kein schöner Anblick, wie?«
Neundorf schüttelte den Kopf. »Ist es schon so lange her?«
Die Ärztin verstand sofort, was sie meinte. »Zehn Stunden, mindestens. Ohne Verletzung lassen sie sich nicht mehr schließen.«
So unangenehm es war, sie hatte vollkommen richtig gehandelt. Ein Toter musste in dem Zustand belassen werden, in dem er aufgefunden wurde, jedenfalls, solange die Untersuchung noch nicht abgeschlossen war. Und das war sie ja noch nicht. Sie hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
»Zwei Schüsse aus einer Entfernung von weniger als einem Meter«, fuhr Dr. Schlögel unaufgefordert fort, »beide in die Brust, einer davon ins Herz und sofort tödlich. Beide aus der gleichen Position und direkt nacheinander abgefeuert, da sind wir uns einig.« Sie deutete auf die beiden Spurensicherer.
»Und was ist mit seinem Kinn und seiner Hose geschehen?« Neundorf starrte auf den fast vollständig aufgelösten Stoff um die Hüfte des Mannes. »Säure?«
Die Ärztin signalisierte Zustimmung. »Salzsäure, ja. Ihre Kollegen haben die Spuren schon analysiert.«
»Salzsäure ins Gesicht und auf die Hose?«
»Genau das. Und anschließend zwei Kugeln in die Brust.«
»In dieser Reihenfolge?«
»In dieser Reihenfolge, ja. Der medizinische Befund lässt keine anderen Schlüsse zu.«
Die Kommissarin musste schlucken, als ihr klar wurde, was das bedeutete.
»Es sollte weh tun«, sagte Dr. Schlögel, »er sollte vor seinem Tod noch leiden.«
»Vor seinem Tod noch leiden?«
»Haben Sie eine andere Erklärung?«
Neundorf wusste keine Antwort. Nicht so auf die Schnelle. Der Mann hier war nicht einfach ermordet, sondern vorher noch mit einer besonderen Abart an Gewalt traktiert worden, falls der Befund der Ärztin stimmte. Das war kein normales Verbrechen, so es denn dergleichen überhaupt gab. Das Opfer sollte nicht nur getötet, ihm sollten vor seinem Ableben noch Schmerzen zugefügt werden – eine Tat, die von außergewöhnlich starken Aggressionen und bis zum Sadismus gesteigertem Hass kündete.
»Und alles ist hier an Ort und Stelle geschehen?«, vergewisserte sie sich.
»Ganz genau. Es gibt keine Schleifspuren, null. Verätzte Stellen auf dem Boden finden sich nur hier in der unmittelbaren Umgebung. Ich denke, die Sache ist eindeutig.«
»Der Täter läutet, das Opfer öffnet die Tür?«, fragte Neundorf.
»Vielleicht sprechen sie noch miteinander, vielleicht attackiert er ihn sofort mit der Säure. Entweder, oder …«, ergänzte die Ärztin.
Die Kommissarin stöhnte laut auf. »Der wollte ihm also noch besondere Schmerzen zufügen, bevor er ihn tötete?«
»So stelle ich mir das vor, ja.«
»Dann steckt Hass dahinter, ausgeprägter Hass.« Sie schaute sich um, sah nur ratlose Mienen.
»Das ist Ihre Aufgabe«, antwortete Dr. Schlögel, »das zu beurteilen, übersteigt meine Kompetenz.«
»Was sagen die Angehörigen?«
Schöffler stemmte die Hände in die Hüften, verzog sein Gesicht. »Anscheinend gibt es nur eine. Und mit der ist nicht viel los.«
»Die Ehefrau?«
»Wohl kaum. Ich tippe eher auf Freundin oder so. Noch ziemlich jung, wie mir scheint. Aber die war bis jetzt nicht imstande, ein vernünftiges Wort von sich zu geben. Doktor Schlögel hat sich um sie gekümmert.«
»Sie hat ihn gefunden, war völlig von der Rolle«, erklärte die Ärztin, »das ist verständlich, oder?« Sie traf auf allgemeine Zustimmung, deutete zur Straße. »Ich gab ihr ein Beruhigungsmittel, sie sitzt in ihrem Wagen. Es ist nur schwach dosiert. Ich denke, Sie können bald mit ihr sprechen.«
Neundorf bedankte sich für die Information, erinnerte sich an das Namensschild am Zaun. »Sattler. Es handelt sich um den Hausherrn persönlich?«
Schöffler schaute ratlos zu ihr her. »Keine Ahnung. Vielleicht müssen wir die Nachbarn fragen.« Er deutete zur Gartentür, wo eine Ansammlung neugieriger Gaffer von zwei uniformierten Beamten nur mühsam in Schach gehalten werden konnte. Mehrere aufgeregte Gesichter starrten zu ihnen her.
»Mord? Wirklich Mord?«, kreischte eine laute männliche Stimme.
Neundorf erinnerte sich voller Widerwillen daran, wie schwer es ihr vor wenigen Minuten gefallen war, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. »Nur im Notfall«, erklärte sie deshalb, »vielleicht finden wir einen Ausweis.«
»Nicht in seiner Kleidung.«
»Ihr wart noch nicht im Haus?«
»Nur ich.« Hutzenlaub mischte sich ins Gespräch. »Ich wollte nach Angehörigen schauen.«
»Und?«
»Niemand da.«
»Wie sieht es drinnen aus? Keine Spuren einer fremden Person?«
»Nichts. Ich glaube nicht, dass der Täter das Haus betreten hat.«
»Dann können wir Diebstahl auf jeden Fall ausschließen.«
»Ich denke ja. Es sei denn, der Besitzer tauchte unverhofft auf, als der oder die Verbrecher gerade eindringen wollten.«
»Hier an der Haustür? Und dann schüttet er ihm Salzsäure auf den Leib und erschießt ihn auch noch? Das glaubst du doch selbst nicht!« Neundorf runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf. Nein, dieser Gedanke war absurd. Zu dem, was hier geschehen war, gehörten entweder eine große Portion Kaltblütigkeit oder aber jede Menge völlig aus der Kontrolle geratener Gefühle. Ein eiskalter Killer oder eine dem Getöteten emotional nahestehende Person, die von ihm aus welchem Grund auch immer in eklatanter Weise verletzt worden war. Diebstahl passte nicht in dieses Umfeld, wusste sie aus Erfahrung, es sei denn, es handelte sich um Objekte von außergewöhnlichem Wert. Bilder etwa, Schmuck oder irgendwelche in einem Tresor verwahrten Geldbündel oder Papiere. »Dir sind keine besonders wertvollen Gegenstände aufgefallen?«
Hutzenlaub kratzte sich am Kinn. »Nicht, dass ich wüsste. Dazu hatte ich auch keine Zeit. Ich wollte nur nach Angehörigen schauen.«
Sie wandte sich wieder der Leiche zu, überlegte, weshalb der tote Körper so irritierend auf sie wirkte. Waren es nur die offenen Augen?
Sie zwang sich, den Toten aufmerksam von Kopf bis Fuß zu mustern, stellte fest, dass er dunkle lockige Haare hatte, die ihm, soweit das jetzt in diesem Zustand überhaupt noch korrekt nachzuvollziehen war, bis fast auf die Schulter gereicht haben mussten. Sein Gesicht war im Zustand des Todes grotesk verzerrt; es spiegelte, wie sie vermutete, die Schmerzen infolge des unmittelbar vor seinem Lebensende erlittenen Attentats. Neben den aufgerissenen Augen war es von den von der Säure völlig zerfressenen Hautpartien ums Kinn und von markanten Wangenknochen geprägt, die dem Kopf eine auffallend schmale Form gaben. Ob das auch zu Lebzeiten so deutlich zu Tage getreten oder nur dem derzeitigen Zustand des Körpers zuzuschreiben war, wusste sie nicht – das würde sich erfahrungsgemäß erst beim Betrachten von Fotos des Verstorbenen ermitteln lassen. Nicht weniger schwierig war es, ihn vom Alter her einzuschätzen: Irgendwo zwischen Zwanzig und Vierzig war die einzige Prognose, die sie zu stellen wagte. Bekleidet war der Mann mit einem bunt gemusterten, mit unzähligen verätzten Stellen verdorbenen Hemd, einer weißen, nicht weniger beschädigten Weste und den verwaschenen, um die Hüfte herum vollständig von der Säure zerfressenen Jeans. An den Füßen trug er hinten offene Filzpantoffeln – die gesamte legere Aufmachung war ein Zeichen dafür, dass er es sich zu Hause bequem gemacht hatte, als er von seinem Mörder überrascht worden war.
Sie löste ihren Blick von den Füßen, konzentrierte sich auf seine Wunden. Zwei Schüsse aus einer Entfernung von weniger als einem Meter, wie die Ärztin erklärt hatte, beide in die Brust, gerade einmal drei Zentimeter übereinander platziert. Sie betrachtete die Einschusslöcher in seinem Hemd samt der sie umgebenden längst getrockneten Blutkrusten, wandte sich dann der Hose des Mannes zu, die am oberen Ende nur noch in Fetzen erhalten war und stattdessen den Blick auf die zerfressene Haut seines Schambereichs freigab. Im selben Moment wurde ihr klar, was sie so irritierte. »Weshalb?«, fragte sie laut.
»Die starke Verätzung am Unterleib?« Die Ärztin folgte ihrem Blick, sah ihre Vermutung durch ein Kopfnicken bestätigt. »Vielleicht hat der Täter schlecht gezielt.«
»Er hatte vor, ihm die Säure ins Gesicht zu schütten, traf aber nur sein Kinn und seine Unterleib?«
»Es kann natürlich sein, dass er zu aufgeregt war«, spekulierte Dr. Schlögel.
Neundorf nickte. »Wäre ja kein Wunder bei dem Irrsinn, den er gerade anrichtete.«
»Das ist nachvollziehbar, ja«, bestätigte die Ärztin, »wenn er in dem Moment nicht aufgeregt war, haben wir es mit einer Mordmaschine zu tun.«
Eine Windböe fegte in den Garten, katapultierte ihr ein Blatt ins Gesicht. Sie wischte es zur Seite, betrachtete die in Falten gelegte Miene ihrer Gesprächspartnerin. »Sie glauben aber trotzdem nicht, dass es allein auf seine Aufregung zurückzuführen ist. Er zielte absichtlich so tief, ist es das?«
»Haben Sie gesehen, wie stark seine Hose zerfressen ist? Die hat sich fast vollständig aufgelöst, sein Slip ebenso. Ein großer Teil der Säure landete an dieser Stelle, am Kinn war es viel weniger. Nur weil der Täter so aufgeregt war oder schlecht zielte? Ist das eine Erklärung?«
»Der zielte überhaupt nicht schlecht«, widersprach Schöffler vom Boden her, »jedenfalls nicht mit der Pistole. Es gibt keine weiteren Schussspuren, weder an den Wänden noch im Außenbereich. Wir haben alles abgesucht. Der hat zweimal abgedrückt und zweimal getroffen. Und zwar genau dort, wo es das schlimmste Unheil anrichtete.«
»Demzufolge wäre auch die verätzte Hose Absicht«, meinte Dr. Schlögel, »oder vielmehr der entsprechende Körperteil.«
Neundorf wusste nicht, was sie antworten, wie sie auf den Einwurf der Ärztin reagieren sollte.
»Ich fürchte, es ist noch zu früh, darüber zu spekulieren«, erwiderte sie deshalb, »ich sollte erst einmal meine Hausaufgaben erledigen, bevor ich mich in derlei Überlegungen ergehe. Dafür hat es später noch Zeit.«
Dr. Schlögel nickte, griff nach ihrer Tasche, reichte der Kommissarin die Hand. »Dann will ich nicht länger stören«, sagte sie, »wenn Sie einverstanden sind, lasse ich ihn abholen.« Sie deutete auf die Leiche. »Ihr Kollege hat vorhin schon ausgiebig fotografiert.«
»Ihr seid fertig?«, vergewisserte sich Neundorf, sah die zustimmende Kopfbewegung der Spurensicherer. »Okay. Dann gibt es keinen Grund, die Sache aufzuschieben.« Sie sah der Ärztin nach, wie sie zur Pforte ging und dann im Getümmel der Neugierigen untertauchte.
Augenblicklich wurden die Rufe lauter.
»Wie viele Dote sind’s?«
»Hent se die wirklich erschosse?«
»Zwoi Fraue ond oin Kerl?«
Sie versuchte, nicht auf das Geschrei zu hören, stülpte Schutzüberzüge über Schuhe und Hände, stieg vorsichtig über den Toten hinweg. »Ich sehe mich drinnen um«, erklärte sie.
Das Haus zeugte vom ersten Zentimeter an vom Reichtum seiner Bewohner. Große terrakottafarbene Fliesen auf dem Boden, helle, in einen Hauch von Grün getauchte Tapeten, teures, in einheitlich postmodernem Stil gefertigtes Designer-Mobiliar in allen Räumen. Sie durchquerte die überaus großzügig bemessene, hell ausgeleuchtete Diele, trat in den breiten Gang, wartete ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das gedämpfte Licht zweier Wandlampen gewöhnt hatten. Auf der linken Seite führten die Stufen einer breiten Treppe in die Höhe bzw. den Keller, geradeaus waren mehrere Türen zu erkennen. Sie entschied sich dafür, zuerst das Erdgeschoss in Augenschein zu nehmen, stieß auf eine moderne, im Ausmaß eines großen Wohnzimmers eingerichtete Küche. Die glänzenden Metallic-Fronten, der saubere Boden sowie das Fehlen jeglichen benutzten Geschirrs zeigten deutlich, dass der Raum erst vor Kurzem gereinigt worden war.
Weil der oder die Täter Hinweise auf ihre Identität vernichten wollten?
Neundorf wagte kein Urteil, betrat den nächsten Raum, ein von breiten, hohen Glasfronten geprägtes Domizil, das nur ein rechtwinkliges, mit einem überdimensional langen Seitenschenkel ausgestattetes weißes Ledersofa, einen niedrigen Tisch mit einem aufgeklappten Laptop, einer angebrochenen Bierflasche und ein großes Fernsehgerät mit modernem Flachbildschirm beherbergte. Sowohl die mehrflammige Deckenleuchte als auch drei an den Wänden angebrachte Halogenspots warfen ihre gesamte Leuchtkraft jetzt kaum erkennbar in den von hellem Tageslicht durchfluteten großen Raum. Ihr Blick richtete sich unwillkürlich auf die breiten Fenster, die ein wahrhaft atemberaubendes Panorama der Reutlinger Innenstadt rings um den hoch aufragenden Turm der Marienkirche präsentierten. Neundorf ertappte sich unwillkürlich bei dem Gedanken, wozu die Bewohner dieses Hauses noch ein Fernsehgerät benötigten, wenn ihnen Tag und Nacht dieser Anblick geboten wurde.
Sie trat zum Tisch, sah die im Sportteil aufgeschlagene Ausgabe des Reutlinger General-Anzeigers vom Vortag neben dem Laptop liegen, blätterte sie durch. Nichts Außergewöhnliches zu entdecken, keine weiteren Blätter, kein auffälliger Vermerk. Sie sah das Kabel, das den Laptop aus einer neben der Tür angebrachten Steckdose mit Strom versorgte, drückte die Leertaste, bemerkte, wie sich der Bildschirm des Geräts sofort mit einem Schachbrett und den dazu gehörenden Figuren überzog. Zugleich leuchtete die Aufforderung auf, den nächsten Zug zu tun. Sie musterte die brennenden Lampen, betrachtete die etwa zur Hälfte geleerte Bierflasche, ließ das Gerät eingeschaltet. Der Mann musste sich heute Nacht hier in diesem Raum aufgehalten haben, als er von seinem Mörder zur Tür gerufen wurde. Er hatte sich ein Bier geholt und war dabei, auf seinem Laptop Schach zu spielen, hörte es läuten, begab sich zum Eingang, öffnete. Kurz darauf oder im selben Moment waren die Säure-Attacke erfolgt und die tödlichen Schüsse gefallen. Hatte es sich so etwa abgespielt?
Neundorf verließ das große Wohnzimmer, betrat den gegenüberliegenden, in uneinsehbarer Dunkelheit verborgenen Raum. Sie suchte nach dem Schalter, ließ ein quer über die Decke reichendes Geflecht kleiner gelber, roter und terrakottafarbener Sterne aufleuchten. Ein breites Doppelbett, ein fast die gesamte Stirnwand überziehender Spiegel, schwere dunkelrote Gardinen, bis zum Anschlag heruntergelassene Jalousien, dazu am Fußende ein bis zur Decke reichender schwarzer Schrank – kein gewöhnliches Schlafzimmer, eher ein für romantische Momente gestyltes Refugium. Neundorf wandte sich einem in einen frisch polierten Glasrahmen eingefassten Foto auf einem der winzigen Nachttische zu, das ein verliebt in die Kamera lächelndes Paar zeigte: Ein gut aussehender Mann mit langen, fast bis auf die Schulter reichenden Haaren und eine nicht weniger gefällige, etwa dreißig Jahre junge Frau. Sie betrachtete die Gesichtszüge des Mannes, glaubte, Ähnlichkeit mit dem Toten entdecken zu können, auch wenn das angesichts des Zustands des Ermordeten nur in Ansätzen möglich war: Die schmale, langgezogene Form des Gesichts, seine langen Haare. Sie drehte den Rahmen um, fand keinerlei Kommentar auf der Rückseite, stellte ihn wieder zurück. Um Anhaltspunkte für die Identität des Toten zu finden, bedurfte es weiterer Informationsquellen.
Die Kommissarin öffnete die Schubladen der beiden Nachttische, fand Papiertaschentücher, zwei Tiegel mit Hautcreme, eine Packung Kondome, wandte sich dem Schrank zu. Bettwäsche, Schlafanzüge, Unterwäsche, Hemden und Hosen, fast ausschließlich in männlicher Ausführung. Nur der Inhalt eines einzelnen Flügels zeugte von der Existenz einer Frau in diesem Haus.
Sie löschte das Licht, inspizierte Bad und Toilette, ging dann zurück zur Treppe, stieg die Stufen hoch. Im Obergeschoss eine andere Raumaufteilung als unten, zudem mit leicht geneigten Außenwänden. Ein Zimmer voller Schränke, Truhen und mit einem breiten Sofa, daneben, durch eine Wand voneinander getrennt, Bad und Toilette. Ihnen gegenüber zwei weitere Räume: Ein mit Postern von Schachfiguren und Schachbrettern in allen Variationen über und über dekoriertes Zimmer mit Schrank, Bett, Zweisitzer-Sofa, Fernsehen und Computer, ihm benachbart ein großzügig ausgestatteter, wie die anderen Räume von breiten Dachfenstern geprägter heller Arbeitsbereich mit zwei separaten Computern, Regalen voller Aktenordner und CD-Containern, einem großen, mit Software und anderem Zubehör gefüllten Schrank.
Neundorf griff nach einem der Ordner, die auf dem Arbeitstisch lagen, sah, dass es sich um Aufstellungen von Ausgaben und Einnahmen verschiedener Firmen und Handwerksbetriebe handelte. Zwei Skripte mit Erläuterungen zu erst vor wenigen Monaten beendeten Gerichtsverfahren, neueste Auslegungen des Steuerrechts betreffend, lagen daneben. Der Mann schien sein Geld als Steuerberater verdient zu haben.
Sie kramte in den Schubladen unterhalb der Bildschirme, stieß auf einen aktuellen Tagesplaner, der den dicken, von Hand geschriebenen Lettern auf der Umschlagseite zufolge einem Stefan Sattler gehörte. Sie blätterte die Seiten durch, sah, dass bis auf wenige Intervalle fast alle Tage mit Ausnahme der Wochenenden mit unzähligen Terminen und Erklärungen versehen waren: Dienstag, 7. August: 9 Uhr: Fa. Stöcklin, Pfullingen. 13 Uhr: Fa. Gabler, Metzingen. 16 Uhr: Fa. Weipold, Pliezhausen. Sie schlug das aktuelle Datum auf, hatte nur leere Blätter vor sich: Freitag, 28. September, der Vortag also, kein Eintrag. Auch die ganze restliche Woche vorher kein einziger Vermerk. Letzter eingetragener Termin am Mittwoch, 19. September.
Neundorf überlegte. Hatte der Mann in den letzten Tagen Urlaub und war erst gestern Abend wieder zurückgekehrt?
Sie blätterte weiter, sah, dass der nächste Vermerk erst am Donnerstag, den 18. Oktober, zu finden war. Auch die folgenden Tage hatten verschiedene Termine aufzuweisen. Was war mit den vier Wochen Mitte September bis Mitte Oktober? Urlaub?
Neundorf legte den Tagesplaner auf die Arbeitsplatte, stöberte die übrigen Schubladen durch, fand nichts Persönliches. Sie schob alles wieder an seinen Platz zurück, beschloss, nach der jungen Frau zu schauen, die den Toten entdeckt hatte, anstatt sich noch länger der Durchsicht der Wohnung zu widmen. Sie verließ den Raum, lief die Treppen hinunter. Die Szene vor dem Eingang hatte sich nicht verändert. Schöffler und Hutzenlaub waren immer noch mit der Untersuchung des Bodens unmittelbar vor der Haustür beschäftigt, am Gartenzaun mühten sich die uniformierten Kollegen, die Neugierigen in Zaum zu halten.
»Du hast seine Papiere?« Schöffler schaute aus zusammengekniffenen Augen zu ihr hoch, stützte sich mit der rechten Hand vom Boden ab.
Neundorf schüttelte den Kopf, stakste vorsichtig an ihm vorbei. »Leider nein. Keine Ahnung, wo die verwahrt sind. Ich will nach der jungen Frau sehen.« Sie streifte die Schutzüberzüge von Händen und Schuhen, öffnete das Gartentor.
Unzählige Augenpaare starrten sie an. »Ond?«, kreischte ein dicker, mit einer schmuddeligen Latzhose bekleideter Mann. »Mit was hent se die älle ermordet?« Sein feistes Gesicht war vor Aufregung hochrot angelaufen.
Sie wandte ihren Blick ab, grüßte den uniformierten Beamten, schob sich durch die Öffnung, die er ihr mühsam freikämpfte. Ihr Erscheinen schien die Menge zu stimulieren.
»Sends zwoi Dote oder drei?«
»Des waret garantiert Ausländer. Rumäne oder so a Pack.«
»Sie send aber a ofreundliches Dier, Frau Polizeimeischder! Sie krieget Ihr Maul überhaupt net uff, wie?«
Neundorf ignorierte alle Zurufe, lief zu dem wenige Meter entfernten Kollegen, der sich am Straßenrand vor einem blauen japanischen Kleinwagen postiert hatte und das Auto mit wachsamen Augen vor allen Zudringlichen abschirmte. Sie wies sich aus, blickte ins Innere des Fahrzeugs, sah eine junge Frau auf der Rückbank sitzen.
»Sie hat den Toten gefunden«, erklärte der Beamte. »Die Ärztin hat ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht.«
»Ich würde gerne mit ihr sprechen, falls sie sich dazu imstande sieht.«
»Versuchen Sie es. Sie hat sich vorhin erst bewegt. Ihre Augen sind offen.«
Neundorf nickte, beugte sich zum Fenster der Rückbank nieder, klopfte vorsichtig dagegen. Die junge Frau reagierte nicht. Die Kommissarin verstärkte ihr Klopfen, zog die Türe vorsichtig auf, ging vollends in die Hocke. »Mein Name ist Neundorf. Katrin Neundorf. Dürfte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?«
Es dauerte mehrere Sekunden, bis die Frau reagierte. Sie drehte langsam, wie in Zeitlupe den Kopf, schaute die Fremde aus himmelblauen Augen an. Ihr Atem ging stoßweise, die rechte Hand zitterte. Sie war jung, höchstens Anfang Zwanzig, hatte dünne blonde Haare, ein bleiches Gesicht.
»Ich bin Polizeibeamtin«, fuhr Neundorf fort. »Dürfte ich bitte Ihren Namen wissen?«
Das zarte, bleiche Wesen nickte zaghaft mit dem Kopf. »Julia Gerber«, antwortete sie, »ich bin seine Freundin.« Ihre Augen schwenkten kurz, für den Moment einer Sekunde etwa, in die Richtung des Anwesens, in dessen Eingangsbereich der Tote lag.
»Frau Gerber, darf ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen?«
Die junge Frau rückte ohne jeden Kommentar zur Seite. Neundorf benötigte trotz ihres schlanken, durchtrainierten Körpers mehrere Anläufe, sich auf den schmalen Platz zu zwängen, hatte Schwierigkeiten, ihre Beine unterzubringen. Die hintere Sitzbank war offensichtlich für Kleinstkinder gedacht, schon Zehn- oder Zwölfjährigen war dies nicht mehr zuzumuten. Sie versuchte, irgendwie Platz zu finden, wandte sich Julia Gerber zu. »Sie wohnen in der Nähe?«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »In der Herderstraße nicht weit vom Volkspark.«
»Hier in Reutlingen?«
Die junge Frau nickte.
»Und Sie haben Stefan Sattler heute Morgen gefunden.«
Das heftige Flackern ihrer Augen zeigte deutlich, dass etwas nicht stimmte. »Doch nicht … doch nicht … seinen Vater«, brach es aus ihr heraus, dann ein einziger lauter Schrei: »Andreas!« Sie begann augenblicklich am ganzen Körper zu zittern, schnappte heftig nach Luft.
Neundorf begriff ihren Fehler sofort. Nicht Stefan Sattler, sondern sein Sohn Andreas war Opfer eines Verbrechens geworden. Die fehlenden Einträge im Tagesplaner des Arbeitszimmers … Kein Wunder. Der Mann, dessen Unterlagen sie vor wenigen Minuten durchgeblättert hatte, um die Identität des Toten zu ermitteln, befand sich zur Zeit außer Haus, wahrscheinlich im Urlaub. Und Andreas, sein Sohn, war im Eingangsbereich des elterlichen Anwesens ermordet worden. Hatte er hier gewohnt oder war er nur übers Wochenende zurückgekommen?
Sie streckte ihren Arm aus, legte ihn der jungen Frau auf die Schulter. »Es tut mir sehr leid«, versuchte sie diese zu trösten, »dass ausgerechnet Sie ihn gefunden haben. Wir sollten jemand suchen, der sich um Sie kümmert. Ihre Eltern, leben sie in der Nähe?«
Julia Gerber schluchzte laut auf, starrte mit tränenverschleierten Augen auf den Boden.
Neundorf ließ ihr Zeit, verzichtete darauf, sie mit allzu forschen Fragen zu bedrängen. Den Anblick, dem die junge Frau heute Morgen ausgesetzt gewesen war – ohne jede Vorwarnung, wie die Kommissarin vermutete – würde sie so schnell nicht vergessen können. Nicht in Wochen, nicht in Monaten, wohl ihr gesamtes Leben nicht. Sie hatte ihren Freund besuchen wollen, war plötzlich mit seinen wenige Stunden zuvor brutal aus dem Leben katapultierten sterblichen Überresten konfrontiert worden.
»Unser Wochenende. Wir wollten uns doch ein schönes Wochenende machen.«
Neundorf schaute überrascht auf, sah die fragenden Augen Julia Gerbers auf sich gerichtet.
»Was ist mit Andreas? Was wird jetzt mit uns?«
Sie wusste nicht, was sie antworten, wie sie den Sorgen der jungen Frau begegnen sollte. »Ihre Eltern«, wiederholte sie stattdessen, »wohnen sie in der Nähe?«
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihr Gegenüber begriff. »Herderstraße. Hier in Reutlingen. Wir wohnen im selben Haus.« Julia Gerber verstummte für einen Moment, fuhr dann abrupt fort. »Meine Mutter. Was soll ich ihr erzählen? Sie wird verrückt, ich weiß es genau.«
»Sie kennt Andreas gut?«
Zum ersten Mal, seit sie nebeneinander saßen, entdeckte Neundorf den Anflug eines Lächelns im Gesicht der jungen Frau. »Sie hofft, dass es was wird«, sagte sie dann, »mit Andreas und mir.«
Dann wird sie wirklich verrückt, überlegte die Kommissarin, wenn sie den ermordeten Mann dort vorne als ihren Traum-Schwiegersohn erkoren hat, wird es sie fast genauso aus der Bahn werfen wie ihre Tochter. Sie schaute auf, weil draußen ein dunkler Leichenwagen langsam vorbeifuhr, sah, wie das Auto vor der Menschenansammlung an die Seite steuerte und dann anhielt.
»Wir sind seit acht Monaten zusammen. Seit fast acht Monaten. Der ist der Richtige. Jedes Mal, wenn Andreas bei uns ist, fängt sie damit an. Ihr passt zueinander, ihr …« Julia Gerber starrte auf die Straße, verstummte mitten im Satz. Das Auto stand wenige Meter entfernt, zwei dunkel livrierte Männer traten ins Freie.
Neundorf bemerkte ihre Veränderung, reagierte sofort. »Wir fahren zu Ihrer Mutter«, bestimmte sie, »ist sie zuhause?« Sie zog ihren Arm zurück, stupfte die junge Frau in die Seite, wartete auf ihre Reaktion. »Ihre Mutter ist zuhause?«, wiederholte sie laut.
Julia Gerber zuckte zusammen, schaute überrascht zu ihr her. »Meine Mutter?«
»Ja?«
Sie nickte mit dem Kopf, kramte nach Neundorfs Aufforderung, ihr die Autoschlüssel zu reichen, in ihrer Tasche, drückte der Kommissarin die Schlüssel in die Hand.
»Zeigen Sie mir den Weg, ja?«