4.
Katrin Neundorf hatte es an diesem Samstagmorgen nicht geschafft, pünktlich im Büro im Landeskriminalamt zu erscheinen, Bereitschaftsdienst hin oder her. Kurz nach halb Acht waren sie und ihr Lebensgefährte Thomas Weiss vom Telefon aus dem Schlaf gerissen worden, einer neuen Hiobsbotschaft aus dem Amt gewiss. Sie hatte sich zur Seite gedreht und nach dem Hörer gegriffen, ihren Beruf ob seiner unangenehmen Seiten verwünschend. »Oh nein, wen hat es jetzt wieder erwischt?«
»Frau Neundorf?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ihr unbekannt.
Sie zögerte, gab dann ein unfreundliches »Was ist los?« von sich.
»Ihre Mutter«, erklärte die Frau.
»Meine Mutter?« Sie benötigte ein paar Sekunden, vollends aus dem Halbschlaf aufzutauchen, vergewisserte sich nochmals, richtig verstanden zu haben. »Sie fragen nach meiner Mutter?«
»Ich spreche mit Frau Neundorf, ja?«
»Ja, um was geht es?« Kein Mord, keine Massenkarambolage auf irgendeiner Straße, kein Totschlag?
»Ihre Mutter hatte einen Unfall. Wir mussten den Notarzt rufen. Sie bringen sie gerade ins Krankenhaus.«
Sie glaubte, nicht richtig zu hören, schaute auf den Wecker. 7.35 Uhr. »Heute Morgen im Heim?«
»Vor fünfzehn Minuten etwa. Aber nicht bei uns, nein. Ihre Mutter, na ja, Sie wissen doch, wie sie ist …« Die Frau verstummte, überlegte, wie sie ihre Botschaft formulieren sollte. »Sie war bereits unterwegs. Ihr Morgenspaziergang. Ich denke, Sie kennen die Gepflogenheiten Ihrer Mutter.«
Neundorf seufzte vernehmlich. »Oh ja, die kenne ich, in der Tat.«
Obwohl sie nach ihrem Oberschenkelhalsbruch im vorigen Jahr nur noch eingeschränkt beweglich war, hatte Johanna Neundorf bei einem gemeinsamen Gespräch mit ihrer Tochter und der Leiterin des Seniorenheims in Großheppach ausdrücklich darauf bestanden, über die Gestaltung ihres Alltags selbst zu entscheiden. »Wenn ich Lust auf eine Zigarette oder eine halbe Flasche Wodka verspüre oder mich mal mit einem netten Herrn in mein Zimmer zurückziehen möchte, ist dies allein meine Sache. Und was das Frische-Luft-Schnappen vor dem Frühstück und nach dem Kaffeetrinken betrifft – das ist mir heilig, sobald ich wieder dazu fähig bin«, hatte sie erklärt, »sonst dürfen Sie auf meine Anwesenheit in diesem Haus verzichten.«
Ihre Gesprächspartnerin war die Eigenarten bestimmter älterer Damen und Herren offensichtlich gewohnt, hatte auf die Ausführungen der neuen Bewohnerin mit einem freundlichen Lächeln reagiert.
Sobald sie gesundheitlich wieder dazu fähig war, pflegte Johanna Neundorf nach dem Aufstehen einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, um sich anschließend mit offenkundig zufriedenem Gemüt und hungrigem Magen zum Frühstückstisch zu begeben. Und jetzt war ihr bei einer dieser frühmorgendlichen Exkursionen etwas zugestoßen.
»Was genau ist passiert?«, fragte Neundorf. »Sie wissen Bescheid?«
Die Frau am anderen Ende zögerte nicht lange mit ihrer Antwort. »Ja, ein junges Ehepaar hat alles beobachtet. Ihre Mutter war dabei, die Straße zu überqueren. An der Bushaltestelle, gleich neben unserem Haus. Sie trägt keine Schuld. Ein Auto raste auf sie zu. Der Fahrer bremste viel zu spät, sonst wäre ihr nichts passiert. Die jungen Leute haben es genau verfolgt.«
»Das Auto hat sie erfasst?«
»Zum Glück nur an der Seite. Aber sie wurde auf den Boden geschleudert.«
»Und? Was sagt der Arzt? Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja, das schon. Er wollte sich allerdings noch nicht hundert Prozent festlegen, aber …«
»Aber?«
»Oberschenkelhalsbruch ist nicht auszuschließen.«
»Oh nein!« Sie wickelte sich aus der Decke, richtete sich auf. »Nicht schon wieder!« Ihr war sofort klar, was das bedeutete.
»Aber bitte, warten Sie noch die Untersuchungsergebnisse ab«, versuchte die Frau sie zu trösten, »vielleicht hat Ihre Mutter Glück und es ist doch nicht so schlimm.«
Neundorf ließ ein bitteres Lachen hören, sah die Augen ihres Lebensgefährten auf sich gerichtet. »In welches Krankenhaus wird sie gebracht?«
»Nach Waiblingen«, erklärte die Frau, »sie wollen keine Zeit verlieren.«
»Danke für Ihren Anruf. Ich werde mich darum kümmern.«
Sie hatten sich sofort angezogen, waren keine zwanzig Minuten später aufgebrochen. Neundorf hatte versucht, Thomas Weiss davon abzuhalten, sie zu begleiten, weil sie um seine berufliche Verpflichtung wusste, an diesem Samstag an einem ganztägigen Seminar im Pädagogisch-Theologischen Zentrum im Stuttgarter Vorort Birkach teilzunehmen, das dem Leben der Geschwister Scholl gewidmet war. Weiss arbeitete als Journalist und war damit beschäftigt, eine Serie über außergewöhnliche Schwaben zu erstellen, als deren wichtigste Vertreter er in langen Diskussionen mit Neundorf, Freunden und Kollegen, neben Georg Elser auch Sophie und Hans Scholl erkoren hatte. Weiss hatte dennoch darauf bestanden, sie zu begleiten und das Risiko in Kauf zu nehmen, verspätet zu seinem Seminar zu stoßen. Sie waren aus dem Haus geeilt, hatten versucht, ihre Mutter und die zuständigen Ärzte im Krankenhaus zu erreichen.
»Eine Frau Neundorf wurde bei uns nicht eingeliefert.« Der leicht überfordert wirkende Mann an der Pforte war nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Erst nach mehreren krankenhaus-internen Telefonaten hatten sie erfahren, dass man ihre Mutter angesichts der vermuteten Schwere der Verletzungen direkt nach Stuttgart ins Katharinenhospital gebracht hatte.
Sie dort aufzuspüren war ein fast unmögliches Unterfangen. Fünf Minuten vor neun, sie hatten die halbe Chirurgie durchkämmt und sich von einer betreuenden Schwester zur nächsten weitergefragt, waren sie endlich bei der Ärztin vom Dienst angelangt. Ihr Büro wurde von einem breitschultrigen, mit einem weißen Kittel bekleideten Mann verwaltet.
»Meine Mutter, Johanna Neundorf, wurde heute Morgen bei Ihnen eingeliefert. Sie hatte einen Unfall.«
»Das ist so üblich bei uns«, sagte der Mann. Er schaute mit bleicher Miene zu ihnen auf, wirkte abgearbeitet und erschöpft.
»Wie bitte?«
»Dass Unfallopfer eingeliefert werden. Tote, halbtote und gerade noch lebende. Die Ersten sind uns am liebsten. Da sind die Verhältnisse wenigstens von Anfang an klar, und es gibt auch nicht mehr viel zu tun. Die Arbeit hat sich da sozusagen von selbst erledigt.«
Neundorf starrte den Mann verwundert an, sah seine müden Augen, das bleiche, eingefallene Gesicht. »Na, Sie haben Humor«, sagte sie, »das muss man Ihnen lassen.«
»Humor? Nein.« Der Mann im weißen Kittel schüttelte den Kopf. »Mit Humor hat das nichts zu tun. Das ist unser Alltag hier, nicht mehr und nicht weniger.« Er wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen, griff nach dem Hörer.
»Gleich zwei Schwerstverletzte?«, rief er dann, nachdem er die Meldung angenommen hatte. »Ich verstehe, in jedem Auto einer. Einmal extremer Blutverlust, beim anderen ein abgetrennter Unterschenkel. Ich gebe es durch. In fünf Minuten seid ihr hier, alles klar. Wir freuen uns auf euch.« Er brach das Gespräch ab, zog das Mikrofon zu sich her, informierte die Ärzte. »Und das am Samstagmorgen …«, schimpfte er dann, den Blick vorwurfsvoll auf Neundorf gerichtet, »… Ende September.«
»Ich kann nichts dafür«, verteidigte sie sich.
»Ich weiß. Niemand kann was dafür. Alle sind unschuldig, immer. Das ist ein Naturgesetz. Auf diesem Erdball leben nur Engel.«
»Meine Mutter, Johanna Neundorf«, versuchte sie, abzulenken. »Sie wurde bei Ihnen eingeliefert.«
»Ja ja, Ihre Mutter.« Er wollte etwas hinzufügen, wurde erneut vom Telefon unterbrochen. Die Meldung schien von ähnlichem Inhalt wie die vor wenigen Sekunden, veranlasste ihn zur gleichen Reaktion. »Zwei Opfer«, polterte er, »ja ja, ich verstehe. Schädel-Hirn-Trauma und gebrochene Schulter. Trotz Airbag. Wunderbar. Die Doktores werden sich freuen. In zehn Minuten, alles klar.« Er beendete das Gespräch, gab die Neuigkeit ins Mikrofon weiter, wandte sich dann Neundorf zu. »Ihren Ausweis.«
Sie griff in ihre Tasche, zog die Kennkarte vor.
»Landeskriminalamt Baden-Württemberg.« Der Mann pfiff durch die Lippen. »Und der Herr hier ist der Präsident persönlich.« Er wies auf ihren Begleiter.
»Meine Mutter«, fiel sie ihm ins Wort. »Was ist mit ihr?« Sie hatte genug von seinen hohlen Floskeln, verlangte nach einer Antwort auf ihre Fragen.
Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, nahm sich die Tastatur des Computers vor, gab den Namen ihrer Mutter ein. »Neundorf«, sagte er, »wie die Zahl und das Dorf.«
Sie nickte, verfolgte seine Bemühungen. Namen und Anschriften flimmerten dicht gedrängt über den Monitor. Nach wenigen Sekunden schien er am Ziel angelangt.
»Neundorf«, las er ab, »Johanna.«
»Und?«, fragte sie. Im selben Moment läutete ihr Mobiltelefon.
Der Mann hatte bereits zu einer Antwort angesetzt, verstummte noch vor dem ersten Wort. »Nicht bei uns im Krankenhaus«, schleuderte er ihr stattdessen entgegen.
Neundorf winkte ab, zog ihr Handy aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display, brachte es dann nach einem weiteren Signalton zum Verstummen. »Was fehlt ihr?«, fragte sie in energischem Ton.
Der Krankenpfleger hatte Mühe, an sich zu halten, starrte wieder auf den Bildschirm. »Ohne Befund«, erklärte er dann.
»Ohne Befund? Das heißt, nichts gebrochen?«
»Ohne Befund«, wiederholte er laut, Wut in der Stimme wie im Blick.
»Wo ist sie jetzt?«
»Entlassen«, erwiderte der Mann, »was denn sonst?«
Sie wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihm ab, lief ans andere Ende des Gangs, nahm ihr Handy vor.
»Das Amt?«, fragte Weiss.
Sie nickte, gab die entsprechende Nummer ein, hielt es ans Ohr.
»Frau Neundorf?« Weisshaar bestätigte seinen Anruf. »Wir haben einen Toten.«
»Weshalb geht das an mich? Kollege Braig …«
»Im Einsatz. Seit dem frühen Morgen. Tut mir leid.«
Neundorf seufzte laut auf. »Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Nein. Ein Mann wurde erschossen.«
»Am Samstag Morgen. Der Tag fängt gut an.«
»Nein. Nicht heute Morgen. Irgendwann in der Nacht, genauere Informationen fehlen.«
»Und weshalb erfahre ich dann jetzt erst davon?«
»Ganz einfach. Der Tote wurde jetzt erst entdeckt.«
»Ah, ja.« Schon wieder einer dieser vereinsamten Singles, überlegte sie. »Wo ist es passiert?«
»In Reutlingen.«
»Das liegt ja direkt vor der Haustür.«
»Tut mir leid. Am Rand der Innenstadt, wenn Ihnen das hilft«, setzte Weisshaar tröstend hinzu. Was soll mir das helfen, brodelte es in ihr. Einen getöteten Menschen begutachten zu müssen, war einer der Tiefpunkte ihrer Profession, ob in der Stadt oder draußen in der Natur.
Da gab es keinen Trost, der in irgendeiner Weise weiterhalf.