16.

Weshalb hatte die Frau gelogen? Warum wollte sie nicht zugeben, überfallen worden zu sein?

Bareiss war sich absolut sicher gewesen. »Sie ist es. Ich weiß es genau. Diese Frau habe ich Freitagnacht aus den Händen dieses Irren befreit, der wie verrückt auf sie einprügelte. Ich verstehe nicht, weshalb sie uns anlügt. Ich habe sie erkannt. Ohne jeden Zweifel«, hatte er am späten Abend immer wieder erklärt, nachdem ihnen Ulrike Maier entwischt war. »Sie müssen mir glauben.«

»Ich glaube Ihnen.« Braig war es nicht gelungen, den Mann zu beruhigen. »Ich habe die Verletzungen in ihrem Gesicht gesehen.«

»Können Sie sie nicht verhaften? Ich meine, einfach aus der Wohnung holen?«

»Mit welchem Recht? Sie ist das Opfer, nicht der Täter.«

»Aber es ist doch möglich, dass sie den Täter genauer beschreiben kann, dass sie irgendetwas an dem Kerl bemerkt hat, das hilft, ihn zu identifizieren. Deshalb waren Sie doch hinter der Frau her, oder?«

Das war der Punkt, wusste Braig. Deshalb hatte er so große Hoffnungen darauf gesetzt, die Frau doch noch zu finden. Irgendein noch so kleiner Hinweis auf das Aussehen des Mannes, seine Kleidung, die Stimme, sein Auto, das war es, was er sich vom Kontakt mit ihr versprochen hatte. Die wenigen Anrufe, die auf das allzu vage Phantombild des Täters bisher eingegangen waren, entbehrten jeder realistischen Grundlage, zu ungenau war die Skizze, die er auf Bareiss’ Andeutungen hin hatte veröffentlichen lassen. Sie zu verbessern, die Konturen des Täters wenigstens um einige wenige Momente genauer zu fassen, hatte er sich von Ulrike Maier erhofft, eine Bemerkung vielleicht zu der angeblichen Warze, einen Hinweis zur Farbe oder Form seiner Augen – mehr nicht.

»Wahrscheinlich ist sie noch traumatisiert«, hatte er Bareiss erklärt, auch mit dem Hintergedanken, sich selbst eine Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der Frau zu geben.

»Benötigt sie dann nicht Hilfe? Sie haben doch Fachleute, die sich um Verbrechensopfer kümmern, oder bin ich da falsch informiert?«

Er hatte sich nach einigem Hin und Her von dem Mann verabschiedet, ihn gebeten, keinen Kontakt zu Ulrike Maier zu suchen, sondern die Angelegenheit voll und ganz ihm zu überlassen. »Ich werde Sie in den nächsten Tagen persönlich über die weitere Entwicklung informieren«, hatte er ihm als Dank für seinen Einsatz versprochen, war dann müde und erschöpft von den Anstrengungen des Tages nach Hause gefahren.

Seine Partnerin hatte Bareiss’ Gedanken sofort aufgegriffen.

»Du solltest dich wirklich um eine Psychologin kümmern«, hatte Ann-Katrin Räuber erklärt, als er ihr am nächsten Morgen den Vorfall ausführlich schilderte. Sie war gerade erst zu sich gekommen, hatte einige Zeit benötigt, das Gehörte zu verarbeiten. »Die Frau steckt offensichtlich in der Klemme«, hatte sie überlegt. »Sie hat den Vorfall verdrängt. Sonst würde sie doch nicht leugnen, zum Opfer geworden zu sein.«

Er hatte ihr versprochen, sich um eine Therapeutin für Ulrike Maier zu kümmern, war sich aber darüber im Klaren, dass ihm die Frau aufgrund ihrer psychischen Verfassung in nächster Zeit wohl kaum für Auskünfte zum Täter zur Verfügung stehen würde.

»Du darfst auf keinen Fall versuchen, sie nach dem Überfall oder gar dem Monster, das über sie herfiel, zu befragen«, hatte Ann-Katrin gedrängt. »Wer weiß, welche Ängste das bei ihr erneut auslöst.«

Mit Schrecken hatte er zugeben müssen, nichts über die Frau zu wissen.

»Du hast keine Ahnung, ob sie Familie hat oder allein lebt? Ob sie jemanden in ihrer Nähe hat, der ihr hilft, das Verbrechen zu verarbeiten?«

»Woher denn?«, hatte er erwidert. »Ihre Identität war uns bisher doch vollkommen unbekannt.«

Den halben Dienstag war er deshalb unterwegs, Informationen über Ulrike Maier zu sammeln. Er erkundigte sich beim Einwohnermeldeamt, erfuhr, dass sie erst seit sechs Monaten in Esslingen lebte und aus Tübingen zugezogen war, allein, ohne Familienangehörige. Vierundzwanzig Jahre alt – um einiges jünger, als er sie von der Begegnung gestern Abend her einschätzte, was aber wohl eindeutig der Situation zuzuordnen war; Studentin an der Universität Tübingen. Er ließ ihre frühere Adresse in der Universitätsstadt überprüfen, erhielt die Mitteilung, dass dort nur zwei Wohngemeinschaften gemeldet waren, Telefonnummern anbei. Braig gab die erste Ziffernfolge ein, hatte auf Anhieb Glück.

»Uli? Ja, die wohnte bei uns«, erklärte die junge Frau am anderen Ende der Leitung, die sich ihm als Maike Brandl vorstellte. »Bis im März.«

»Weshalb zog sie weg?«

»Na ja«, die junge Frau zögerte mit ihrer Antwort, »ich glaube, da sprechen Sie besser mal mit Achim, ihrem Ex.«

»Wo erreiche ich ihn?«

»Hier, bei uns. Aber im Moment ist er in der Uni. Der schreibt an seiner Arbeit.«

»Dieser Achim war Frau Maiers Freund?«

»Ja«, erklärte Maike Brandl, »wie ich hörte, lernten die sich hier in unserer WG kennen und waren immer ganz dick miteinander.«

»Aber im Frühling ging es auseinander.«

»Endgültig, ja.«

»Wie heißt dieser Achim mit Nachnamen, und wann ist er zu erreichen?«

»Achim Klein. Ich würde sagen, ab etwa 17 Uhr. Wenn Sie es dann noch mal probieren?«

»Kennen Sie die Familie von Frau Maier? Ihre Eltern und Geschwister?«

Maike Brandl schien zu überlegen. »Tut mir leid, so dick haben wir es nicht miteinander. Ich wohne erst seit einem Jahr hier und Uli ist ja auch schon im März weg … Fragen Sie Achim, okay?«

Braig bedankte sich für die Auskunft, beendete das Gespräch. Als der Hörer auf dem Telefon lag, fiel ihm ein, dass er nicht einmal danach gefragt hatte, welches Fach Frau Maier studierte und im wievielten Semester sie war. Er ärgerte sich, hatte keine Lust, die Unterredung mit dem Exfreund der Frau am Abend abzuwarten, überlegte, ob er nicht doch einen Besuch in Esslingen riskieren sollte. Wenn die Frau wirklich von dem Überfall traumatisiert war, hielt sie sich wohl die meiste Zeit zu Hause auf und verließ die Wohnung nur zu dringenden Anlässen wie etwa zum Einkaufen. Er musste den Kontakt mit ihr suchen, weil er vorläufig wohl nur über sie zu weiteren Informationen über das Aussehen des Täters kam. Ihre kleinste Beobachtung konnte helfen, dessen Bild zu verfeinern. Mit der Graphik, mit der sie bisher auf die vagen Andeutungen Bareiss’ hin an die Medien herangetreten waren, gab es kaum eine Chance, den Kerl aufzufinden, das zeigten die allzu spärlich eingehenden Hinweise zur Genüge. Traf er sie tatsächlich an, konnte er ihr auch den Kontakt mit einer erfahrenen Therapeutin vermitteln, die sich auf die Anordnung des Amts hin noch heute um sie bemühen würde. Er sah, dass es kurz vor 14 Uhr war, und beschloss, es zu riskieren.

 

Fünfunddreißig Minuten später stand er wieder vor demselben Haus in der Plochinger Straße in Esslingen wie am Abend zuvor. Der Verkehr tobte wie gewohnt in beide Richtungen, machte den Weg zur Haustür zur nervenaufreibenden Qual. Braig hatte Glück. In dem Moment, in dem er das Gebäude erreicht hatte, wurde die Tür geöffnet, und ein älterer Mann trat, einen Hund an der Leine, auf den Gehweg. Der Kommissar murmelte einen kurzen Dank, drückte sich hinter dem ihn misstrauisch beobachtenden Tierfreund ins Innere, stieg die Treppen hoch ins erste Obergeschoss. Der handgeschriebene Name Maier neben der Klingel war kaum zu lesen. Braig drückte auf den Knopf, hörte das melodische Summen. Nichts regte sich. Er läutete ein zweites Mal, wieder vergeblich. Im gleichen Moment trat einen Stock höher jemand ins Treppenhaus.

Braig machte einen Schritt zur Seite, sah eine ältere, sehr füllige Frau die Stufen herunterkommen. Sie war mit einem dicken, langen Rock und einem Wintermantel bekleidet, trug einen leeren Korb in der Hand. Als sie ihn bemerkte, blieb die Frau mitten auf der Treppe stehen und gaffte ihn mit großen Augen an. »Zu wem wellet Sie?«, rief sie so laut, dass jeder im Haus es gehört haben musste, gleichgültig in welchem Zimmer er sich gerade aufgehalten hatte.

Braig gab keine Antwort, deutete auf die Tür vor sich.

»Zum Fräulein Maier«, schallte es durchs Treppenhaus, »macht sie net auf?«

Er schüttelte den Kopf, ließ die Frau passieren, hatte mehr Glück, als er sich erträumt hatte. Die kräftige Person ließ es dreimal hintereinander läuten, begleitet von einem wahren Trommelwirbel ihrer Fäuste gegen die Wohnungstür Ulrike Maiers und ihrem heftigen Rufen nach der Nachbarin. Keine dreißig Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

Braig sah die Frau vom Vorabend vor sich, mit einem dunklen Hausanzug bekleidet, den Kopf wie nach der Haarwäsche üblich bis auf wenige Gesichtspartien in ein großes Badetuch gehüllt. Die verletzten Hautpartien waren allesamt gut versteckt.

»Ach, Fräulein Maier, Sie hent Ihr Hoor gwäsche«, tönte die füllige Nachbarin. »Der Mann do will Sie besuche. Kennet Sie den?«

Braig griff nach seinem Ausweis, wollte sich vorstellen, sah das heftige Abwinken Ulrike Maiers.

»Ich kenne ihn, ja. Danke.« Sie drückte ihn in ihre Diele, ließ die Tür hinter ihm ins Schloss fallen. »Sie benutzen jeden Trick, sich aufzudrängen, wie?« Ihre Stimme war deutlich von Ärger gezeichnet, der rauchige Unterton nur dezent vorhanden. Sie führte ihn in ihre kleine, unaufgeräumte Küche, wies ihm einen Stuhl an. Teller, Tassen, Tupperschüsseln lagen über die Anrichte verteilt.

Braig blieb stehen, versuchte, sich zu entschuldigen. »Ich komme als Bittsteller«, sagte er, »ohne Ihre Hilfe finden wir den Kerl nicht, der Sie überfallen hat. Darum geht es, sonst nichts.« Er sah, wie sie ihm widersprechen wollte, fügte schnell hinzu: »Er hat schon mehrere Frauen überfallen. Davon müssen wir jedenfalls ausgehen. Und er wird weitermachen. Bald.«

Ulrike Maier wich seinem Blick aus, lehnte sich an den Schrank. »Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte sie dann laut seufzend, »nicht eine einzige Sekunde. Der kam von hinten, war plötzlich über mir und riss an meinen Kleidern … Bitte, ersparen Sie es mir … Ich möchte nicht mehr darüber …« Ihre Stimme erstarb in einer Flut von Tränen. Sie wandte sich um, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

Braig wartete, war sich der problematischen Situation bewusst. »Das tut mir leid«, sagte er dann, »wirklich, ich kann mir vorstellen, wie belastend das für Sie ist. Aber Sie sind im Moment meine einzige Hoffnung. Wenn Sie ihn wirklich nicht gesehen haben, weder sein Gesicht noch einen anderen Teil seines Körpers oder wenigstens seine Kleidung, kann ich nichts machen. Dann ist mein Besuch umsonst, das muss ich akzeptieren. Aber vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein. Sein Auto vielleicht, ein Teil des Kennzeichens …« Er sah ihre Angst, brach ab. Es hatte wohl tatsächlich keinen Sinn, es weiter zu versuchen.

Er schwieg einen Moment, griff in seine Tasche, zog seine Visitenkarte hervor. »Wenn Ihnen doch noch irgendetwas einfällt …« Er streckte ihr das Kärtchen entgegen, wartete, bis sie es zögernd entgegennahm und einen Blick darauf warf. »Ich würde Ihnen gerne helfen«, fügte er hinzu. »Wir haben sehr gut ausgebildete, einfühlsame Therapeutinnen, die Ihnen zur Hand gehen könnten. Wenn Sie wollen …«

»Bitte«, antwortete Ulrike Maier, »bitte, lassen Sie mich doch allein. Ich brauche Zeit, viel Zeit, können Sie das nicht begreifen?«

Braig nickte, wünschte ihr alles Gute, verließ die Wohnung.