9.

Stuttgart 21. Der Abend war länger geworden als Braig es sich vorgestellt hatte. Zuerst ein bunter, die Zukunft in den prächtigsten Farben ausmalender Werbefilm der Befürworter, dann die Statements von Vertretern der Landesregierung, der Stadt, der Bahn sowie von mehreren Umwelt- und Verkehrsverbänden, anschließend die lange, unüberhörbar von Betroffenheit über bisher offensichtlich verschwiegene, verheimlichte oder bewusst verlogene Behauptungen geprägte Diskussion. Gemeinsam mit Theresa Räuber, Katrin Neundorf und Thomas Weiss hatten sie die Veranstaltung im völlig überfüllten Hospitalhof in der Stuttgarter Innenstadt verfolgt. Theresa Räubers ursprünglicher Plan, die Veranstaltung in ihrer eigenen Gemeinde abzuhalten, war durch die zunehmend in den Blickpunkt der öffentlichen Diskussion geratene Problematik obsolet geworden; Vertreter des Gesamtkirchengemeinderats hatten sie davon überzeugt, dass der von der Landeskirche getragene Hospitalhof der geeignetere Vortragsort sei. Die große Anzahl der abendlichen Besucher hatte diese Entscheidung im Nachhinein bestätigt.

»Mir fällt es schwer, meine Meinung zu dem Projekt Stuttgart 21 zu äußern«, hatte Theresa Räuber als Moderatorin zu Beginn der Veranstaltung bekannt. »Fünfzehn Jahre lang habe ich von den politisch Verantwortlichen und den meisten Medien unisono nur Lobeshymnen und überschwängliche Begeisterungsstürme zu der Sache gehört und erst jetzt, wo das Vorhaben durchgepaukt scheint, lässt man auch Kritiker zu Wort kommen.« Sie konnte, wie viele andere Teilnehmer des Abends, nicht ahnen, wie fundamental sich ihre Stellung zu dem Projekt in den nächsten Stunden ändern sollte.

Die Vertreter der Landesregierung, der Stadt und der Bahn schienen sich einig: Stuttgart 21 war der einzig richtige Weg in eine gloriose Zukunft des ganzen Landes. Der alte Stuttgarter Kopfbahnhof solle samt der großen zentrumsnahen Flächen des bereits brachliegenden Güterbahnhofs sowie des Wagen- und Lokabstellbahnhofs zugunsten eines unter die Erde verlegten hypermodernen Durchgangsbahnhofs aufgegeben, dazu mit einem etwa dreißig Kilometer langen Tunnel mit dem zweihundertfünfzig Meter höher gelegenen Stuttgarter Flughafen und der daran anschließenden, parallel zur Autobahn verlaufenden Schnellfahrstrecke nach Ulm verbunden werden. Bahnreisenden böten sich dadurch große Vorteile: Die Reisezeiten verkürzten sich deutlich, von Stuttgart nach Ulm etwa um fast dreißig Minuten, die internationale Verbindung Paris – Budapest werde um eine halbe Stunde beschleunigt. Auch der Stadt Stuttgart eröffneten sich völlig neue Perspektiven, würden doch nahe dem Zentrum große Rächen für Siedlungs- und Grünareale frei, dazu erhalte die Stadt einen neuen Bahnhof. Stuttgart 21 also ein Symbol für Dynamik, Fortschritt, Tempo, Exklusivität, Einzigartigkeit, Future, Vitalität … Die Lobeshymnen wollten kein Ende nehmen.

All diese rosigen Visionen einer traumhaft zum Paradies verwandelten Welt inmitten des Ländles hatte Braig in den letzten Jahren tausendfach vernommen, die Korrektur dieser Behauptungen führte jedoch zu einem völlig anderen Bild. Mit Erstaunen nahm er wahr, dass sich unzählige bundesweit bekannte Verkehrswissenschaftler und Stadtplaner von Rang und Namen vehement gegen dieses Projekt wehrten. Nicht dem neuen, mehrere Milliarden Euro teuren Bahnhof ist die Zeitersparnis von fast dreißig Minuten Richtung Ulm zu verdanken, belegten die Vertreter der Umweltverbände, von Pro Bahn und Verkehrsclub Deutschland mit detaillierten Berechnungen, sondern der Neubaustrecke von Wendlingen im Neckartal entlang der Autobahn über die Alb. Diese Strecke hat jedoch mit dem Bahnhofsneubau überhaupt nichts zu tun. Sie ist dem Votum der meisten Bahnexperten nach notwendig und sollte trotz ihrer ca. 3,5 Milliarden Euro Kosten gebaut werden.

Der neue Bahnhof dagegen wird die Reisezeit der meisten Bahnreisenden, die den Raum Stuttgart tangieren, nicht verkürzen, sondern verlängern. Die Mehrheit der Reisenden ist nämlich nicht von Paris nach Budapest unterwegs, sondern z. B. aus dem Raum Heilbronn in Richtung Tübingen oder aus der Region Schwäbisch Gmünd in Richtung Rottweil. Weil die neue Station jedoch nur über acht Gleise verfügen wird, können die zum Umsteigen nötigen Anschlusszüge nur nacheinander ein- und ausfahren, was die Umsteigezeiten deutlich verlängert – besonders schlimm wird dies im Fall von Verspätungen. In Stuttgart soll genau das Gegenteil dessen realisiert werden, was überall sonst auf der Welt angestrebt wird: Prinzipiell legt man bei Bahnhofsumbauten Wert auf viele Gleise, damit gleichzeitige Anschlüsse gewährleistet werden können.

Sogar die Hochgeschwindigkeitszüge Paris – Budapest werden durch den neuen Bahnhof nur um eine einzige Minute schneller, korrigierten die Umweltverbände, die ICEs hielten heute schon nur drei Minuten. Soviel Zeit aber werde benötigt, um die Reisenden aus- und einsteigen zu lassen. Im Gegenteil: Der geplante Halt am Flughafen wird die Züge nach München inklusive Abbremsen und Beschleunigen acht Minuten kosten, sodass ein Teil des Zeitgewinns der teuren Neubaustrecke dadurch aufgezehrt wird.

Ein weiterer großer Nachteil, wurde ausgeführt, wird sein, dass alle Reisenden Treppen, Rolltreppen oder Aufzüge benützen müssen, um zu den Zügen zu gelangen. Kann man heute noch vom Nordeingang her ebenerdig in den Bahnhof und zu allen Gleisen gelangen, was besonders für ältere und gehbehinderte Menschen ein unschätzbarer Vorteil ist, fällt dies flach. Wie oft Rolltreppen und Aufzüge jedoch defekt sind, kann man heute schon täglich an den Zugängen zur S-Bahn erleben.

Vollends am Rand der Legalität verläuft die Finanzierung des Projekts, belegten die Verbände mit genauen Zahlen. Wichtigstes Fundament des Bauvorhabens sind die Gelder des Nahverkehrs: 700 Millionen Euro, die dem Land in den nächsten Jahren von der Bundesregierung überwiesen werden, um damit den öffentlichen Nahverkehr in ganz Baden-Württemberg zu betreiben, sollen in den Bau der Tunnel fließen. Dies stellt nicht nur einen Verstoß gegen geltende Vorschriften dar, sondern bedeutet den Ausfall tausender Züge, ja die Stilllegung ganzer Strecken im Land. Damit nicht genug: Um die Deutsche Bahn für das Projekt einzunehmen, übergab die Landesregierung den Nahverkehr fast aller Bahnstrecken im Land für die nächsten fünfzehn Jahre an diesen Konzern, obwohl Konkurrenzunternehmen den Betrieb bei gleicher Qualität um 40 Millionen Euro pro Jahr billiger durchgeführt hätten. Auf diese Weise werden dem Nahverkehr zusätzliche 600 Millionen Euro entzogen.

Wer jedoch glaubt, nach der Fertigstellung des Projekts würde alles besser, täusche sich gewaltig: Der Bau der kilometerlangen Tunnel werde das Bahnfahren drastisch verteuern. Allein die Unterhaltung der komplizierten unterirdischen Bauwerke verschlinge gewaltige Summen. Der vielen Trinkwasser-Quellen im Stuttgarter Gebiet wegen müsse ständig mit Verwerfungen gerechnet werden. Werde aber ein einziger Tunnelabschnitt gesperrt, sei der gesamte Bahnverkehr von und nach Stuttgart lahmgelegt.

Braig wusste, wie problematisch dies war. Alle paar Wochen kam es heute schon zu Vorfällen im S-Bahn-Tunnel, die den Betrieb oft über Stunden hinweg blockierten. Noch konnte man in diesen Situationen einen Teil des Zugverkehrs in den Kopfbahnhof verlegen, doch genau der sollte ja beseitigt werden. Er erinnerte sich zudem an einen Besuch Barcelonas vor wenigen Jahren. In einem Papierkorb des unterirdischen Hauptbahnhofs Sants war unter starker Rauchentwicklung ein Feuer ausgebrochen und hatte zur Sperrung des gesamten Bahnverkehrs geführt. Wenige Tage später waren wieder unzählige Züge ausgefallen: Unbekannte hatten mit der Zündung einer Bombe in einem der Tunnel gedroht. Wie naiv musste man sein, sich freiwillig solchen Risiken auszusetzen – noch dazu in einer Zeit ständiger Bedrohung durch Terroristen?

Die nächste Hiobsbotschaft riss ihn aus seinen Gedanken: Weil die Landesregierung die unterirdische Strecke vom Stuttgarter Hauptbahnhof unbedingt über den Flughafen bauen wollte, benötigten die Züge nach Ulm der starken Steigung wegen in Zukunft vierzig Prozent mehr Energie als heute. Und das in einer Zeit, in der man sich der Notwendigkeit, Energie zu sparen, mehr und mehr bewusst wurde.

Wir brauchen keinen unterirdischen Durchgangsbahnhof, um zentrumsnahe freie Flächen zu schaffen, erläuterten die Sprecher der Umweltverbände anhand fertig ausgearbeiteter Pläne, eine Renovierung des Kopfbahnhofs bewirkt fast das gleiche Ergebnis: Nahezu siebzig Prozent des projektierten Areals – vom ehemaligen Güterbahnhof über den Wagen- bis zum Lokabstellbahnhof – lässt sich auch mit einer weit preiswerteren Überholung der bisherigen Station von Gleisen befreien, zu Kosten von etwa 1,3 Milliarden im Vergleich zu den heute gerechneten weit über 3 Milliarden für das von der Landesregierung avisierte Projekt.

»In Frankfurt und München trug man sich angesichts der dort vorhandenen Kopfbahnhöfe jahrelang mit den gleichen Ideen und verwarf sie jetzt endgültig. Warum wohl? Sind die Leute dort dämlicher als wir? Zwölf Jahre Großbaustelle in Stuttgart erwarten uns«, schloss der Vertreter der Umweltverbände, »wenn es Sie aber gelüstet, die einzigartige Atmosphäre und das wunderbare Feeling des geplanten Stadtteils zu erkunden, dann gehen Sie zum Nordeingang des Hauptbahnhofs und geben sich dem Reiz und der städtebaulichen Erotik des bereits verwirklichten ersten Bauabschnitts hin.«

Braig benötigte nicht das tosende Gelächter, das die Worte des Mannes begleitete, um zu verstehen, was er meinte. Ein abstoßend inhumanes Revier aus sterilen Beton- und Glasfassaden war dort entstanden, das jeder Atmosphäre entbehrte; ein Areal, wie es – zum Glück – in der ganzen Stadt kein zweites Mal anzutreffen war.

 

Was waren die Beweggründe, allen sachlichen Argumenten zum Trotz dieses Projekt zu verwirklichen, überlegte Braig, als sie lange nach Abschluss der Veranstaltung gemeinsam in Sophies Brauhaus im Zentrum Stuttgarts saßen. »Ist es allein die Bau-Mafia?«

Theresa Räuber wollte ihm nicht bedingungslos zustimmen. »Natürlich stehen unzählige Abgeordnete in den Diensten der mächtigsten Banken und Bau-Löwen und wissen um ihre primäre Verpflichtung, ihren eigentlichen Herren ein großes Stück vom Kuchen zu besorgen. Zudem geht es eher um vier Milliarden als nur um drei, weil alle Großprojekte der letzten Jahre sich am Ende als weit teurer als projektiert erwiesen. Vier Milliarden Steuergeld – eine irre Ausbeute für eine Hand voll Profiteure. Und dennoch glaube ich, dass noch ein ganz anderer Punkt eine wichtige Rolle spielt.«

»Was meinst du?«

»Ein völlig irrationales Phänomen«, sagte Theresa Räuber. »Abseits jedes logischen Gedankengangs. Kein Außenstehender kann es begreifen. Der schwäbische Komplex, wenn ich es so nennen darf.«

»Schwäbischer Komplex?«, fragte ihre Schwester.

»Schau dir das Auftreten schwäbischer Politiker in der Öffentlichkeit an, den Ministerpräsidenten und den Stuttgarter Oberbürgermeister, und was siehst du? Zwei von der Last und der Verantwortung ihres Amtes fast erdrückte durch das Bild huschende Gestalten, ängstlich, linkisch, verstohlen, Schatten ihrer selbst. Und dann Politiker aus anderen Regionen wie etwa den Regierenden Bürgermeister von Berlin: Klaffen da nicht Welten im Auftreten dieser Leute? Hier die verkniffenen, gramgebeugten Gesichter der Schwaben, dort die vor Lebenslust und Selbstbewusstsein geradezu überbordenden Genussmenschen aus nördlichen Gefilden. Ihr Minderwertigkeitskomplex ist ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Die grauen Mäuse der Republik – wo anders als in Schwaben sollen sie zu Hause sein? Und weil es immer noch Regionen gibt, wo man genau so über die Schwaben und ihr Provinz-Stuttgärtle denkt, wollen sie endlich raus aus dieser Versenkung, wollen Anerkennung, geachtet werden, dabei sein im Spiel der Großen: Stuttgart – der Nabel der Welt. Rio de Janeiro, Shanghai, Stuttgart – in dieser Gesellschaft wollen sie stehen, im Rampenlicht des Weltgeschehens und nicht dort im Südwesten der Republik.

Anstatt stolz zu sein auf ihre landschaftlich so schöne, wirtschaftlich prosperierende, kulturell vielschichtige, städtebaulich mit vielen kleinen Höhepunkten ausgestattete Provinz, grämen sie sich wie pubertierende, verpickelte Jünglinge, dass sie nicht mitmischen dürfen im gelangweilt-lustlosen Spiel der Lebemänner, dass ihr Stuttgärtle außerhalb des Ländles nicht als globale Metropole registriert wird, sondern als das, was es wirklich ist: eine landschaftlich reizvoll gelegene Stadt mit lebens- und liebenswerten Stadtteilen und interessantem Umland – etwas abseits vom Weltgeschehen zwar, aber mit hoher Lebensqualität, selten niedriger Kriminalitätsrate und freundlichen, na ja, meist freundlichen Menschen. Weil den Großkopfeten aus Politik, Wirtschaft und den Medien dies aber nicht genügt, versuchen sie sich an den eigenen Haaren aus dem selbst verursachten Sumpf zu ziehen. Ihr Minderwertigkeitskomplex bohrt und nagt an ihnen und es fuchst und wurmt sie, dass sie nicht ganz oben mitspielen dürfen und deshalb tun sie auf Teufel komm raus alles, um endlich überall in der Welt als hypermodern, kultig-trendig, future-styled anerkannt zu werden. München hat seinen Flughafen – wir auch! Frankfurt hat seine Messe – wir auch! Berlin hat seinen Durchgangsbahnhof – wir auch! Pubertäres Verhalten verpickelter Jünglinge, fernab jeden rationalen Gedankens – der Versuch, die wohl aus der pietistischen Tradition resultierenden Minderwertigkeitsgefühle zu bewältigen. Ich fürchte, dieser schwäbische Komplex spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für dieses Projekt.«

»Der schwäbische Komplex …« Braig wurde vom Läuten seines Handy überrascht. Er verstummte mitten im Satz, schielte auf Ann-Katrins Uhr, sah die beiden Zeiger nah beieinander stehen. Der Große nur wenige Millimeter rechts vom Kleinen. Fünf nach Zwölf. Kurz nach Mitternacht. Früher Samstag Morgen, wenn man so wollte. Wer konnte das sein, außer …

Der Signalton ertönte zum dritten Mal.

»Worauf wartest du noch?«, seufzte Ann-Katrin laut.

Braig griff in seine Tasche, zog das Gerät vor, warf einen Blick aufs Display. »Das Amt«, sagte er.

»Wer sonst?«, antwortete sie.

Er nahm das Gespräch an, drückte das Handy an sein Ohr.

»Weisshaar hier, ich weiß, wie spät es ist, aber es handelt sich um …«

Das laute Gelächter einer Gruppe Männer am Nachbartisch übertönte alle anderen Geräusche. Braig hatte Mühe zu verstehen, verstärkte den Druck auf sein Ohr.

»… in Esslingen«, hörte er die Stimme des Kollegen.

»Was ist in Esslingen?«

»Eine Frau wurde überfallen. Angeblich von einem mit einer Militärjacke bekleideten Mann. Sie verstehen?«

Braig fuhr es siedendheiß durch sein Inneres. Und ob er verstand! Freitagabend, Wochenende. War es wieder geschehen? Hatte der Kerl wieder zugeschlagen? Überall im gesamten Großraum Stuttgart waren die Kollegen der Schutzpolizei mit besonderer Aufmerksamkeit unterwegs, aber das war natürlich viel zu wenig. Ein Tropfen auf den heißen Stein, überlegte er. »Was ist mit der Frau?«, fragte er. »Sie lebt?« Er bemerkte den erstaunten Blick der jungen Bedienung, die gerade vorbei kam, konzentrierte sich auf die Antwort des Kollegen.

»Mir liegen keine Informationen darüber vor, tut mir leid. Es gibt aber einen Zeugen. Die Kollegen sprechen gerade mit dem Mann. Du kümmerst dich um die Sache?«

Braig sagte zu, ließ sich die Handy-Nummer der Schutzpolizei-Streife in Esslingen geben.

 

Wenige Minuten später war er unterwegs zur S-Bahn-Station Stadtmitte, nahm einen der letzten Züge nach Esslingen und suchte den Kollegen der Schutzpolizei, der dort vor dem Bahnhof auf ihn wartete.

»Eine seltsame Sache ist das«, erklärte der Beamte, als er neben ihm im Dienstwagen Platz genommen hatte.

»Was für eine seltsame Sache?«

»Die Frau ist offensichtlich verschwunden.«

»Welche Frau?«

»Hano, die Frau, die überfallen wurde.«

Braig glaubte nicht richtig zu hören. »Was heißt verschwunden?« Er starrte zur Seite, warf dem Kollegen einen überraschten Blick zu.

»Sie ist weg«, antwortete der Mann, »spurlos verschwunden. Wir haben nach ihr gesucht, die gesamte Umgebung überprüft, nichts. Sie ist nicht mehr da.«

Braig versuchte sich zu konzentrieren. Es fiel ihm nicht leicht, die späte Stunde forderte ihren Tribut. »Verstehe ich das richtig: Die Frau, die hier heute Nacht überfallen wurde, ist nicht mehr aufzufinden?«

Der Beamte bog in eine andere Straße ein, die nur mäßig beleuchtet war, bestätigte die Worte seines Gesprächspartners. »Ja, sie ist weg. Und so seltsam es klingt: Wir wissen nicht, wieso und auch nicht, wohin.«

Er schüttelte den Kopf, massierte seine Schläfen, versuchte zu verstehen. »Wie konnte das passieren?«

»Tut mir leid. Wir wissen es nicht.«

»Sie sind detailliert über das Geschehen informiert?«

»Nur teilweise. Sie müssen die Kollegen fragen. Wir sind gleich da.«

Braig sah die beiden Blaulichter von weitem. Ihre grellen Blitze stachen ihm schmerzend in die Augen. Er blickte zur Seite, wartete, bis der Wagen zum Stillstand gekommen war, bemerkte jetzt erst die große Gruppe aufgeregter Neugieriger, die von zwei uniformierten Kollegen in Schach gehalten wurden. Nachts kurz nach Eins. Was wollten die hier? Benötigten die keinen Schlaf?

Er stieg aus dem Auto, schaute sich um. Vor ihm im fahlen Licht der Lampen die Otto-Bayer-Straße, auf der linken Seite von mehrstöckigen Wohnhäusern gesäumt, zur Rechten die Gebäude verschiedener Betriebe. Zwei Polizeifahrzeuge waren quer über den Gehweg geparkt, offensichtlich in der Absicht, einen kurzen Abschnitt des Fußgängerbereichs von den Schaulustigen freizuhalten. Einen großen Teil der Neugierigen hinderte das nicht daran, sich auf der Straße zu postieren, mühsam von den beiden Schutzpolizeibeamten am Betreten des Gehwegs gehindert.

Braig drängte sich durch die Meute der Gaffer, zog seinen Ausweis, streckte ihn einem der uniformierten Kollegen entgegen. Der Mann nickte ihm zu, ließ ihn passieren. Er lief weiter, erreichte den abgesperrten Teil des Gehwegs unmittelbar vor dem Areal einer Firma. Drei Beamte der Schutzpolizei, zwei Männer und eine Frau waren in ein intensives Gespräch mit einem jungen, mit einem hellem Anzug und gemusterter Krawatte bekleideten Mann vertieft.

»… so wahr ich hier stehe!«, hörte Braig die aufgeregte Stimme des Mannes. »Wie oft soll ich es noch wiederholen?«

Er räusperte sich laut, sah die erstaunten Gesichter, stellte sich vor. »Braig vom LKA. Guten Abend.«

Die einzige Frau in der Gruppe reagierte als erste. Sie nahm ihre Mütze vom Kopf, ließ einen Seufzer der Erleichterung hören. »Endlich! Mein Gott, bin ich froh, dass Sie die Sache übernehmen!«

Braig sah, wie sie sich zur Seite drehte, eine Zigarette aus ihrer Jacke fischte und ansteckte. Ihre langen blonden zu einem Zopf geflochtenen Haare lagen kreisrund um ihren Kopf.

»Eine Frau wurde überfallen?«, fragte er, um nicht lange um den heißen Brei herumzureden.

»Ja, angeblich …«, äußerte einer der Beamten.

Der Mann in dem hellen Anzug fiel ihm mitten ins Wort. »Nicht angeblich! Ich verbitte mir diese Kritik. Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen! Das war kein Spiel!«, rief er so laut, dass es bis auf die Straße schallte.

»Was hot der gsehe?«, kreischte es aus der Gruppe der Neugierigen.

Braig versuchte, seinen Gesprächspartner zu beruhigen. »Moment. Darf ich zuerst um Ihre Personalien bitten?« Er zog sein Notizbuch aus der Tasche, wartete auf eine Antwort.

Der Mann im Anzug holte tief Luft. Er hatte ein schmales, bleiches Gesicht, trug einen dünnen Oberlippenbart. »Mein Gott, ist das umständlich hier«, schimpfte er. »Sie sollen nach der Frau suchen, das ist viel wichtiger. Nicht, dass die sich noch was antut nach dem Schock. Die muss völlig fertig sein. Meinen Namen und meine Adresse habe ich doch denen da schon längst mitgeteilt.« Er zeigte auf die uniformierten Beamten.

»Ihre Personalien, bitte«, wiederholte Braig unbeirrt.

Der Mann hatte Mühe, sich zu beruhigen. »Bareiss, Bernhard.«

»Sie wohnen hier?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Dort vorne in der Katharinenstraße.« Er deutete auf die andere Seite der Fahrbahn. »Ich war in Deizisau bei meinem Chef. Er hat gekocht, mit Hilfe seiner Frau allerdings. Deshalb.« Er griff nach seiner Krawatte, hielt sie vor sich hin. »Sonst wäre ich nicht so angezogen.«

»Und? Was haben Sie gesehen?«

Bareiss atmete tief durch. »Also, jetzt wiederhole ich alles zum zehnten Mal!«

»Ich bitte darum.«

»Ich war bei meinem Chef in Deizisau«, begann er erneut, »bis kurz vor Mitternacht. Zehn, fünfzehn Minuten vor Zwölf etwa. Wir haben uns vorhin schon ausführlich über die Uhrzeit unterhalten, genauer bekomme ich es nicht mehr auf die Reihe. Vielleicht erinnern sich Herr Ellinger, mein Chef, und seine Frau noch daran, ich habe sie seither nicht mehr gesprochen. Weil es so spät ist. Ich wollte sie nicht wecken, die schlafen bestimmt. Auf jeden Fall«, er holte mit seiner rechten Hand weit aus, zeigte in die andere Richtung, »kam ich von dort die Otto-Bayer-Straße entlang.« Er betrachtete Braig mit aufgeregter Miene, vergewisserte sich, dass der Kommissar seinen Ausführungen mit voller Aufmerksamkeit folgte.

»Und dann?«

»Und dann?«, wiederholte Bareiss entgeistert über so viel sachliche Nüchternheit. »Dann sah ich den Kerl, hier, genau an dieser Stelle, wie er auf die Frau einschlug. Brutal, wie im schlimmsten Film. Hier, mit diesem Eisen oder was immer das ist.« Er deutete auf einen schmalen, etwa dreißig Zentimeter langen Stab, der keinen Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag. »Ihre Kollegen haben darum gebeten, ihn liegen zu lassen, für Ihre Untersuchungen, also wegen der Abdrücke.«

Braig betrachtete den Gegenstand, sah, dass es sich um ein schmales Metallrohr handelte, das wohl von Handwerkern benutzt wurde. Wenn der Täter tatsächlich mit diesem Stück auf die Frau eingeschlagen hatte, musste sie schwer verletzt sein.

»Sie haben es nicht berührt?«

»Ich?« Bareiss wehrte Braigs Frage entsetzt ab. »Um Gottes Willen. Ich habe doch selbst gesehen, wie der Kerl es benutzt hat, um …« Er brach seinen Satz ab, überlegte, kam dann auf einen anderen Punkt zu sprechen. »Ich wusste am Anfang natürlich nicht, dass es sich um einen Eisen- oder Metallstab handelt. Das ging alles viel zu schnell. Sie dürfen nicht vergessen, ich fuhr die Straße entlang, als ich den Kerl plötzlich auf die Frau einschlagen sah.«

»Ich verstehe. Und dann?«

»Und dann? Ich stieg voll auf die Bremse, hielt mitten auf der Straße an und sprang aus meinem Golf.«

»Sie hatten keine Angst?«

»Mein Gott, haben Sie sonst keine Sorgen?« Bareiss schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ob ich Angst hatte? Was weiß ich. Ich bin nicht besonders mutig, das sicher nicht. Aber das ging alles so schnell. Ich komme die Straße entlang, sehe den Kerl auf die Frau einschlagen und springe auf die beiden zu. Das war eben so. Glauben Sie, ich hatte lange Zeit, zu überlegen, was ich jetzt tun soll? Gesehen und raus, fertig.«

»Sie haben auf jeden Fall vorbildlich gehandelt«, attestierte Braig. »Wie reagierte der Kerl?«

»Wie der reagierte?« Bareiss holte tief Luft. »Der bemerkte mich überhaupt nicht, zuerst jedenfalls, meine ich. Der drosch weiter auf die Frau ein, wie im Rausch. Erst als ich schon fast bei ihnen angelangt war und ihn direkt vor mir hatte, nahm er mich wahr.«

»Er griff Sie nicht an?«

»Der rannte davon, von einer Sekunde auf die andere. Er starrte mich an, total perplex, drehte sich zur Seite, sprang den Gehweg entlang, dann auf die Straße. Wie ein Karnickel, dachte ich in dem Moment. Er schlug Haken, lief nicht gerade über die Fahrbahn. Das Eisen ließ er sofort, gleich am Anfang, fallen. Ich höre jetzt noch den metallischen Ton des Aufpralls auf dem Boden.«

»Was war mit der Frau?«

»Mit der Frau? Sie kniete auf dem Boden, schrie vor Schmerzen. Ich bückte mich nieder, versuchte ihr zu helfen. Sie stieß mich weg. Ich dachte, die steht unter Schock, die begreift überhaupt nicht, dass ich nicht der Angreifer bin. Deshalb ließ ich sie in Ruhe, drehte mich um, schaute nach dem Kerl. Der rannte an meinem Golf vorbei, sprang zu einem Daimler, der dort drüben auf der anderen Seite geparkt war, riss die Tür auf und startete den Motor.«

»Sofort? Er startete sofort?«

»Auf der Stelle. Es muss sein eigenes Fahrzeug gewesen sein. Er hatte es offensichtlich dort abgestellt.«

»Ein Daimler?«

»E- oder S-Klasse. Genau kann ich es nicht sagen.«

Braig starrte sein Gegenüber überrascht an. »Keine A-Klasse?«

Bareiss schüttelte energisch seinen Kopf. »Nein. E oder S. Ein dicker Schlitten. Ich sah es genau, als ich hinter ihm her raste.«

»Sie haben ihn verfolgt?«

»Sie haben ihn verfolgt?« Der Mann stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Was glauben denn Sie? Natürlich habe ich ihn verfolgt. Ich wollte das Schwein doch zur Rechenschaft ziehen.«

»Und weiter?«

»Weiter? Ich habe ihn verloren, irgendwo bei der Auffahrt auf die Adenauerbrücke.«

Braig kannte die innenstadtnahen Bereiche Esslingens, wusste in etwa, was der Mann andeutete. »Sie haben sein Kenzeichen?«

Bareiss wirkte mit einem Mal völlig niedergeschlagen. »Tut mir leid«, sagte er dann in gedämpftem Ton, »es war mitten in der Nacht, total dunkel, dazu die Hektik. Ich war überhaupt nicht auf so etwas vorbereitet und dann fuhr der Kerl auch noch ohne Licht, und der Abstand war einfach zu groß …«

Wäre auch zu schön gewesen, überlegte Braig, zu einfach, zu nah an der Lösung des Falles.

»Ein S«, fuhr Bareiss fort, »auf jeden Fall ein Stuttgarter Wagen, da bin ich mir sicher. Aber das nützt Ihnen nichts, ich weiß. Davon gibt es einfach zu viele.« Er verstummte, wirkte frustriert, hatte allen Elan verloren. »Und ich kann ihn nicht einmal richtig beschreiben, den Kerl«, setzte er dann von Neuem an. »Es ging einfach alles viel zu schnell. Aber er ist nicht allzu groß und kräftig, ja, und er hat ein breites Gesicht. Und auf seinem linken Backen einen Pickel oder eine Warze, irgend so etwas.«

»Das haben Sie so genau gesehen?«, fragte Braig überrascht.

»Ich würde es Ihnen sonst nicht erzählen«, antwortete der Mann in beleidigtem Ton. »Mein Gedächtnis ist gut.« Er hustete, hielt sich die Hand vor den Mund. »Und er roch nach Rasierwasser. Ekelhaft penetrant …«, setzte er hinzu. »Aber das nützt Ihnen nichts.«

»Nach Rasierwasser?« Braig fühlte sich elektrisiert, wagte kaum zu atmen. Handelte es sich tatsächlich um denselben Täter?

Bareiss nickte. »Hier stank alles danach. Als ich ihn beinahe erwischt hätte, meine ich. Und dort, wo er über die Straße rannte.«

»Was ist mit der Frau?«

»Mit der Frau?« Bareiss fand zu seiner alten Lebendigkeit zurück. »Das ist es ja. Die ist weg. Verschwunden.«

»Seit wann?«

»Seit wann?« Der Mann schüttelte energisch den Kopf. »Was wollen Sie? Ich fuhr dem Kerl hinterher, von einer Straße in die andere, verlor ihn irgendwann aus den Augen, ich erwähnte es ja schon, kam nach einer Weile hierher zurück. Nach fünf oder vielleicht auch zehn Minuten, ich weiß es nicht. Sie war weg, spurlos verschwunden.«

»Sie haben sich nicht gewundert?«

»Gewundert?« Bareiss holte tief Luft. »Gewundert, Sie sind gut. Ich rannte hier in der Gegend rum, fuhr dann die Straßen in der Umgebung ab und suchte nach ihr. Nichts. Überhaupt nichts. Keine Spur von ihr. Sie war weg.«

»War sie noch fähig, zu laufen? Ich meine, konnte sie aus eigener Kraft von hier verschwinden?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe nur gesehen, wie der auf sie einschlug. Und als ich vor ihr stand? Sie kniete auf dem Boden und schrie. Vor Schmerzen, denke ich. Ich bückte mich, versuchte ihr zu helfen. Sie stieß mich weg. Was soll ich sagen? Ich weiß es nicht.«

»Und der Täter?«, fragte Braig. »Kann er hierher zurück gekommen sein und sie in seinen Wagen gezerrt haben, um seine Spuren zu verwischen? In der Zeit, als Sie ihn aus den Augen verloren hatten?«

»Der Täter?« Bernhard Bareiss schien die Sprache verloren zu haben. Diese Möglichkeit hatte er offensichtlich noch nicht bedacht. »Das kann nicht sein«, sagte er dann nach einigem Zögern. »Das ist unmöglich.«

Braig betrachtete sein Gegenüber mit nachdenklicher Miene. »Er kann nicht hierher zurückgekehrt sein?«

Der Mann im hellen Anzug schluckte heftig. »Warum soll der noch mal hierher kommen? Weshalb?«

Der Kommissar blieb ruhig, dachte über die seltsame Situation nach, in die er hier geraten war. Ein Überfall – ganz nach dem Muster der vergangenen Wochenenden, diesmal aber ohne Opfer. Wo war die Frau? Wieso war sie verschwunden? Bareiss behauptete, unmittelbar nach seiner Rückkehr die Umgebung nach ihr abgesucht zu haben. Wieso hatte er sie – eine seinem Bericht nach erheblich verletzte Frau – nach den wenigen Minuten, die er sich von hier entfernt hatte, nicht mehr gefunden? Weil sie hier in der Nähe wohnte?

Braig schaute auf die andere Seite der Straße, sah die Häuser. Das war natürlich möglich, erklärte auch, weshalb sie hier so spät noch unterwegs gewesen war. Weshalb aber hatte sie diese Straßenseite benutzt, mitten in der Nacht, allein, wo nur die leeren Gebäude verschiedener Firmen standen, warum war sie nicht auf den Gehweg auf der anderen Seite der Fahrbahn gewechselt, unmittelbar an den Häusern, wo ein Echo auf etwaige Hilferufe viel schneller zu erwarten war als hier? Mitten in der Nacht, allein, als Frau? Ob er wollte oder nicht, eine Antwort drängte sich ihm immer stärker auf: Weil es diese Frau gar nicht gab, sie nur in der Fantasie des aufgeregten Mannes im hellen Anzug existierte?

Er wandte sich Bareiss zu, betrachtete ihn stillschweigend. Ein Zeuge, der es auffallend wichtig hatte. Sehr wichtig sogar. Fährt kurz nach Mitternacht zufällig hier vorbei und sieht, wie die Frau attackiert wird. Von einem Mann mit einem Metallstab. In der Nacht von Freitag auf Samstag, so wie an mehreren Wochenenden zuvor auch schon. Er sieht den Überfall, stoppt seinen Wagen und eilt der Frau zu Hilfe. Sofort. Ohne jede Überlegung. Er, der nicht gerade muskulös wirkende Mann im feinen hellen Anzug. Wie mutig! Welch heldenhafter Einsatz!

Er treibt den Täter in die Flucht, jagt ihn weg, verfolgt ihn. Das Fluchtfahrzeug – ein dicker Daimler. Er verliert ihn aus den Augen, erkennt nur das S, kehrt an den angeblichen Tatort zurück. Nach wenigen Minuten. Doch die Frau ist nicht mehr da. Das angebliche Opfer spurlos verschwunden.

Weil sie nur in seiner Fantasie existierte? Weil er sich – wenigstens einmal im Leben – wichtig machen, als bedeutende Persönlichkeit vorstellen wollte? Warum war der Mann so aufgeregt, was wollte er mit seinen großen Worten? Die Aufmerksamkeit der Ermittler, der Journalisten, der Öffentlichkeit erregen? Band er ihm deshalb einen Bären auf, eine spannende, allein seinem Gehirn entsprungene Geschichte?

»Dort vorne ist Blut.«

Braig hörte die Stimme der uniformierten Beamtin, schaute auf. Sie stand wenige Meter von ihm entfernt, wies auf den Boden, winkte ihn zu sich her. »Blut«, fuhr sie ungefragt fort, »wir glauben es zumindest.«

»Es sieht wirklich danach aus«, ergänzte ihr Kollege, »wir haben die Stelle vorhin mit Taschenlampen untersucht.«

Hatten sie seine Zweifel bemerkt? Er folgte ihrem Hinweis, kniete sich nieder, leuchtete das Pflaster mit der Lampe der Kollegin aus. Zwei rotbraune Flecken mitten auf dem Weg. Auch wenn das Licht nicht optimal war, musste er nicht lange überlegen. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, wie Blutflecken aussahen. Dann handelte es sich also doch nicht um die Fantasie eines gelangweilten Mannes?

»Ich kenne die Frau«, meldete sich Bareiss plötzlich wieder zu Wort.

Braig sprang hoch, starrte dem Mann ins Gesicht.

»Wie – Sie kennen die Frau?«

Bareiss holte tief Luft. »Also, ich kann Ihnen jetzt nicht ihren Namen und ihre Anschrift mitteilen, aber ich habe sie schon gesehen. Ein-, zweimal, vielleicht auch öfter. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Menschen, ob Sie es mir glauben oder nicht. Die Frau wohnt wahrscheinlich irgendwo in der Nähe, deshalb. Ich kenne sie. Garantiert.«

»Die Frau, die hier«, angeblich hatte er sagen wollen, das Wort dann gerade noch unterdrückt, »überfallen wurde? Und Sie haben keinen Zweifel?«

Bareiss zog seine Krawatte zurecht, wischte sich über seine Jacke. Er schien trotz des kalten Windes, der Schmutz und Blätter durch die Luft wirbelte, nicht zu frieren. »Ich habe einen Blick für Gesichter«, sagte er, »ob Sie es mir glauben oder nicht. Und ich habe die Frau schon gesehen. Mehrmals.«

Braig nickte, zog sein Handy aus der Tasche. Auch wenn er immer noch skeptisch war, durfte er sich den notwendigen Untersuchungen nicht länger verschließen. »Sie fühlen sich imstande, ein Phantombild der Frau zu erstellen? Und – wenigstens in Ansätzen – auch das des Täters? Unsere Fachleute werden Ihnen helfen. Die wissen genau, worauf es ankommt.«

Bareiss zögerte keine Sekunde. »Das ist kein Problem. Ich kann Ihnen die Frau beschreiben. Aber den Täter? Wir können es versuchen. Aber versprechen Sie sich davon nicht zuviel!«