8.

Die Wohnung in der Neuffener Straße in Nürtingen zu finden, hatte keinen großen Aufwand erfordert. Es handelte sich um ein etwas schmuddeliges altes Haus am Rand des Zentrums, unmittelbar an einer der meistfrequentierten Verkehrsachsen der Stadt gelegen. Neundorf hatte es angesichts des krassen Kontrasts zu der Villa in Reutlingen zuerst nicht glauben wollen, dass der Freund Andreas Sattlers hier in dieser unappetitlichen Umgebung hausen sollte, hatte sich vom Namensschild an der Haustür dann überzeugen lassen. Sie war ohne telefonische Voranmeldung losgefahren, in der Absicht, Lukas Feiner persönlich mit den Vorwürfen Julia Gerbers zu konfrontieren.

Ein vergebliches Unterfangen, wie sich bald zeigte. Sie hatte am Eingang unten mehrfach geläutet, war erst ins Innere gelangt, als ein kleiner, dem Anschein nach türkischer Junge, einen Ball in der Hand, ins Freie gestürmt war, die fremde Frau überhaupt nicht beachtend. Der strenge Geruch war ihr sofort aufgefallen, noch bevor sie die erste Stufe des Treppenhauses betreten hatte. Irgendein fauliger, modriger Gestank aus einer der dunklen Ecken des Kellers. Sie hatte es sich erspart, darüber nachzudenken, was da wohl vor sich hin moderte, war mit großen Schritten ins erste Stockwerk hoch geeilt, hatte an der Tür, die dem Schild nach zu Feiners Wohnung führte, zuerst geläutet, dann kräftig geklopft.

Eine alte Nachbarin war unverhofft hinter ihr aufgetaucht, zwei prall gefüllte Taschen in der Hand. »Sie kennet an die Tür bollere so viel se wellet, des bringt nix.«

»Herr Feiner ist nicht zuhause?«

»Noi. Der isch fort. Heut mitte in der Nacht. Der hats vielleicht eilig ghett, kann i Ihne sage!«

»Eilig? Woher wollen Sie das wissen?«

»Woher i des woiß? Weil der die Treppe hochgstürmt isch, dass i bald ausem Bett gfloge bin! Und no hat der in seiner Wohnung rumgwerkelt, dass i denkt han, uf dr Alb isch wieder a Erdbebe und aschließend isch er wieder die Treppe nontergsaut wie en Verrückter.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ha, gege Mitternacht so etwa. I ka schlecht schlofe, deswege han i des genau mitkriegt.«

Neundorf war sich sofort darüber im Klaren, welche Brisanz dieser Aussage innewohnte. Hatte die Frau hier mit ihren Beobachtungen Recht, war Feiner nicht lange nach dem Mord an Andreas Sattler in großer Hektik in seine Wohnung gestürmt, hatte das Nötigste zusammengesucht und war dann wieder überstürzt aufgebrochen. Weshalb die Eile? War die Antwort nicht längst klar?

Der Tatort in Reutlingen lag gerade einmal 20 Kilometer entfernt, eine Affäre von weniger als einer halben Stunde. Welcher andere Grund konnte dahinter stecken, als dass er sich der Verfolgung durch die Polizei entziehen wollte? Natürlich waren die Beschreibungen der Nachbarin äußerst vage und großenteils von Vermutungen geprägt. Aber konnte sie die Aussagen der alten Frau deshalb ohne große Überlegungen zur Seite schieben und als bloße Spekulation abtun?

Nein, so einfach durfte sie es sich nicht machen, das wusste sie aus Erfahrung. Ältere, alleinstehende Menschen fanden aus der Not ihrer vereinsamten Situation heraus in der Beobachtung ihrer Nachbarn oft zu einem neuen Lebensmittelpunkt, einer Aufgabe, der sie mit solcher Intensität und Ausdauer nachgingen, dass es bald der Qualität einer polizeilichen Rund-um-die-Uhr-Bewachung nahekam. Inwieweit dabei Realität und Fiktion, das heißt wirkliches Geschehen mit nur vermeintlich wahrgenommenen Sachverhalten vermischt wurden, ließ sich pauschal nicht sagen. Natürlich bestand diese Gefahr, vor allem, wenn es sich nicht um optisch, sondern nur akustisch erfahrene Botschaften handelte wie im vorliegenden Fall. Neundorf war sich dennoch darüber im Klaren, dass sie das Verhalten Feiners überprüfen und seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort identifizieren musste. Zu viel von dem, was sie von verschiedenen Seiten bisher über ihn gehört hatte, rückte ihn in ein höchst verdächtiges Licht.

Sie hatte versucht, der Frau weitere Informationen über ihren Nachbarn zu entlocken, war auf eine Wohnung eine Etage höher verwiesen worden.

»Der Duschle. Fraget se den. Vielleicht woiß der was. Die hocket manchmal zamme und saufet.«

Sie hatte den Rat befolgt, den Mann, einen etwas verlebt wirkenden kräftigen Typ Mitte Dreißig aus dem Bett geläutet. Um 12.30 Uhr am Mittag, wie sie sich durch einen Blick auf ihre Uhr überzeugte. »Ich suche Herrn Feiner. Wie ich hörte, sollen Sie Bescheid wissen, wo er sich aufhält.«

Duschle brauchte eine Weile, zu verstehen. Der immer noch zu kurze Schlaf und die durchzechte Nacht standen ihm ins Gesicht geschrieben. »Der Luke?«

Er bemerkte ihr zustimmendes Nicken, erklärte dann, dass Feiner zu einem Turnier irgendwohin ins Ausland aufgebrochen war.

»Ein Turnier? Was für ein Turnier soll das sein?«

»Ein Schachturnier natürlich. Der hockt fast jedes Wochenende bei einem Turnier. Ob er spielt oder nicht.«

»Und wieso im Ausland? Wie kommen Sie auf die Idee?«

»Weil er es mir heute Nacht erzählte. Er fährt nach … Ich weiß nicht mehr, in welches Land. Ich war schon halb zu.«

Neundorf betrachtete seine blutunterlaufenen Augen, glaubte ihm aufs Wort. »Wann haben Sie sich mit ihm unterhalten? Wissen Sie noch die Uhrzeit?«

Duschle legte seine Stirn in Falten, holte mit dem Arm weit aus. »Der Tag ist kurz, die Nacht sehr lang. Woher soll ich das jetzt wissen?«

»Gegen Mitternacht vielleicht? Könnte das hinkommen?«

»Das könnte hinkommen, gnädige Frau, allerdings. Mitternacht ist Betriebsschluss, wenn ich das so formulieren darf, in meiner Stammkneipe, und von dort sind es fünf bis zehn Minuten hierher. Je nach meiner Verfassung und vorausgesetzt, ich finde überhaupt noch den Weg. Aber den habe ich gefunden, wie Sie sehen. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.«

»Ist Ihnen an Herrn Feiner etwas aufgefallen?«

»Etwas aufgefallen?« Ihr Gegenüber verneinte ihre Frage mit einem kräftigen Kopfschütteln. »Gnädige Frau, das war kurz vor meinem endgültigen Untergang. Anschließend habe ich noch eine halbe Kiste geleert. Allein mit mir und der Glotze. Da kann ich Ihnen die Frage wirklich nicht beantworten, welche Unterhosen Herr Feiner zu dieser Stunde trug.«

»Er war nicht zufällig in großer Eile?«

»In großer Eile? Sie haben sehr viel Humor, Gnädigste. Der rannte mich beinahe über den Haufen, so eilig hatte der es.«

»Und das kam Ihnen nicht seltsam vor, mitten in der Nacht?«

»Seltsam? Seltsam kommt mir nur vor, warum Sie sich so sehr dafür interessieren, was zwei fremde Männer mitten in der Nacht auf der Treppe vor ihren Wohnungen miteinander zu besprechen haben.«

Er starrte mit solch dämlicher Grimasse zu ihr her, dass sie an sich halten musste, das Gespräch nicht auf der Stelle abzubrechen. Stattdessen zog sie ihren Ausweis aus der Tasche und hielt ihn ihm vor die Nase.

Duschle war keine große Verwunderung anzumerken. »Ja, Frau Polizeibeamtin, wir kennen uns gut, Ihre Truppe und ich.« Er lächelte ihr freundlich zu, deutete eine höfliche Verbeugung an.

»Also, wo kann ich den Mann jetzt finden?« Neundorf blieb hartnäckig. Sie hatte keinen Zweifel, was die Polizei-Bekanntschaft des Mannes betraf. Es war kaum ratsam, ihm im voll alkoholisierten Zustand zu begegnen.

»Da muss ich Sie enttäuschen«, beharrte ihr Gesprächspartner. »Ausland. Mehr kann ich Ihnen nicht mitteilen.«

»Wen kann ich dann fragen? Wissen Sie, wo Freunde oder Verwandte von Herrn Feiner wohnen?«

»An jedem Schachbrett«, war Duschles Antwort. »Überall, wo ein Schachbrett steht, finden Sie seine Freunde.«

»Geht es nicht etwas genauer?«

»Er stammt aus Urach. Dort leben auch seine Eltern. Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen, Frau Polizeibeamtin.«

»Urach? Das wissen Sie genau?«

Duschle deutete erneut eine tiefe Verbeugung an, streckte beide Arme weit von sich. »Glauben Sie etwa, ich würde es wagen, Sie anzulügen, Gnädige Frau?«

Neundorf verzichtete auf eine Antwort, hoffte, dass es dem Mann gelingen möge, sich den Rest seines Blutalkohols aus dem Leib zu schlafen, um für das nächste nächtliche Besäufnis fit zu sein, ließ ihn freundlich winkend stehen.