15.

Das Haus lag unweit des Bahnhofs von Hechingen. Es handelte sich um ein gepflegtes, von einem kleinen Nutz- und Ziergarten umgebenes Gebäude im landschaftstypischen Stil mit rotem Ziegeldach, hellen Wänden, großen rechteckigen Fenstern. Neundorf lief auf die niedrige Gartentür zu, las die Namen auf einer fein ziselierten Keramiktafel, die in eine niedrige Steinsäule eingelassen war. Gerlinde, Heiko, Michael, Julia Gerwald.

Noch ehe sie sich nach dem Klingelknopf bücken konnte, wurde die Haustür geöffnet. Ein mit einer dicken dunkelbraunen Weste und schwarzen Jeans bekleideter Mann stand leicht vornüber gebeugt mit hängenden Schultern auf der Schwelle. Er schien um die Fünfzig, hatte ein bleiches, von schmalen hohen Wangen geprägtes Gesicht.

Sie schob die niedrige Pforte auf, ging wenige Meter auf ihn zu, blieb dann stehen. »Neundorf vom LKA«, stellte sie sich vor, »wir haben miteinander telefoniert.«

Der Mann nickte, bat sie ins Haus. Sie hatte ihn am frühen Morgen, noch von ihrer Wohnung aus, angerufen und um einen Gesprächstermin gebeten.

»Sie können kommen, wann immer Sie wollen«, hatte Gerwald geantwortet, »ich bin immer da.«

Verwundert hatte sie sich für sein Angebot bedankt und ihren Besuch gleich für den Vormittag angekündigt.

Gerwald führte sie in ein relativ kleines, gerade mal vier auf fünf Meter messendes Zimmer, bat sie, sich auf einem der Stühle niederzulassen. Ein Tisch, sechs Stühle, ein großes Fenster, mehr gab der Platz nicht her. Sie setzte sich auf einen der Stühle, sah die Umrisse der Burg Hohenzollern in den Himmel ragen, wurde sich plötzlich der absurden Situation bewusst, in der sie sich hier befand. Draußen dieses einzigartige, von Touristen aus aller Welt Tag für Tag besuchte pittoreske Bauwerk auf der Spitze eines dicht bewaldeten Zeugenbergs am Rand der Alb, drinnen eine vom Schicksal schwer heimgesuchte Familie, deren Vater vor wenigen Tagen vielleicht zum Mörder geworden war.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Gerwald.

Neundorf benötigte einen Moment, zu ihrem Gastgeber zurückzufinden, sah sich mit seinem Angebot konfrontiert.

»Kaffee vielleicht? Er ist schon fertig in der Thermoskanne. Noch ganz frisch.«

Sie nickte, sah ihn mit hängenden Schultern aus dem Zimmer verschwinden, hörte ihn nebenan etwas herrichten. Kurz darauf kehrte er mit einem kleinen Tablett mit einer dunkelblauen Thermoskanne, zwei Tassen samt Untertellern, einem Kännchen Milch und einer Schale mit Zucker zurück. Er verteilte alles auf dem Tisch, schob ein paar Papiere zur Seite, die dort lagen, schenkte zuerst ihr, dann sich selbst ein.

»Bedienen Sie sich bitte«, sagte er, auf die Milch und den Zucker deutend.

Sie nahm sich ein wenig Milch, bedankte sich und probierte den Kaffee. Er schmeckte kräftig, war ausreichend heiß, verbreitete einen würzigen Duft.

»Sehr gut«, sagte sie.

Gerwald nippte an seiner Tasse, schaute abwartend zu ihr hin.

»Sie sind den ganzen Tag zuhause?«

Der Mann nickte. »Julia kann nicht allein bleiben. Und sie will nicht länger in einer Klinik dahinvegetieren. Sie können ihr eh nicht helfen.«

»Sie haben sich von der Arbeit befreien lassen?«

»Befreien?« Gerwald lachte bitter. »Die wollten nicht mitziehen. Ich musste kündigen.«

»Und Ihre Frau?«

»Sie arbeitet halbtags. Es reicht, um über die Runden zu kommen. Julia ist uns wichtiger.«

»Würden Sie mir erzählen, was passiert ist? Wenn Sie es nicht zu sehr belastet.«

Heiko Gerwald spielte mit der Tasse, schob sie mit zitternden Fingern auf dem Tisch hin und her. »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete er, »Julia wurde vergewaltigt.«

»Von zwei jungen Männern?«

»Junge Männer? Sie waren sechzehn und siebzehn. Milchgesichter.«

»Sie hatte sie gekannt?«

Gerwald schüttelte den Kopf. »Vielleicht mal von weitem gesehen. Mehr nicht.«

»Und sie hat immer noch nicht zu einem einigermaßen normalen Leben zurückgefunden?«

»Sie liegt den ganzen Tag im Bett. Wir haben unser Wohnzimmer umgebaut, damit sie wenigstens ein paar Schritte auf die Terrasse machen kann.« Er deutete auf den Nachbarraum. »Aber ein Kontakt zu Fremden ist völlig ausgeschlossen.«

Neundorf trank den Rest ihres Kaffees, hatte keinen Blick mehr für die landschaftliche Idylle draußen. Das Grauen hatte diese Familie heimgesucht und es schien, als gebe es keinen Weg, es zu überwinden. »Sie haben es mit verschiedenen Therapien versucht?«

Der Mann setzte die Tasse ab, die er gerade zu seinem Mund führen wollte, hob seine Hände in die Höhe. »Wir haben nichts ausgelassen. Aber es gibt keine Zaubermeister, die die Vergangenheit mit Hokuspokus aus dem Gedächtnis radieren können.«

Sie wusste um die Problematik, hatte sich oft genug damit beschäftigt. Viele Frauen schleppten das erlittene Trauma ein halbes, manche ein ganzes Leben mit sich, ohne es jemals verarbeiten zu können.

Sie sah, wie die Hände des Mannes zitterten, wollte das Gespräch nicht ins Endlose dehnen. Er litt genug, das war nicht zu übersehen. »Bei all dem Leid hat Sie das Urteil des Gerichts dann auch nicht versöhnen können«, sagte sie deshalb. »Obwohl die Täter einen strengen Richter fanden.«

Gerwald sah auf, musterte ihr Gesicht. Er schien zu überlegen, worauf sie mit ihren Worten zielte. »Die Täter«, sagte er dann, »die Täter.«

»Die Hintermänner wurden nicht verurteilt«, ergänzte sie.

Er betrachtete sie stillschweigend, griff dann wieder nach seiner Tasse und nahm sie in beide Hände, als suche er nach einem Gegenstand, der ihm Halt bieten könnte. »Die Jungs stammen aus guten Familien. Sie haben uns besucht, verstehen Sie? Die Eltern, alle vier, sogar ein Onkel, eine Tante und ein älterer Bruder. Sie wollten sich entschuldigen, sind selbst vollkommen fertig. Sie waren mehrfach hier, haben uns um Verzeihung gebeten und ihre Hilfe angeboten. Sie haben alles versucht, es wieder gutzumachen, obwohl das nicht geht, verstehen Sie?«

Neundorf nickte, ließ den Mann reden.

»Sie waren bei einem Freund, vertrieben sich den Abend. Der Film hatte sie verhext. Sie schauten ihn zu Dritt, tranken dazu, juxten, johlten. So haben sie es erzählt, mehreren Leuten. Warum soll ich es ihnen nicht glauben? Auch Ihre Kollegen, die sie wochenlang vernommen haben, kamen zu diesem Ergebnis. Und das Gericht, nach allen Verhandlungen. Ich habe sie inzwischen persönlich kennengelernt. Auch wenn sie jetzt fünf Jahre weggesperrt wurden, die wahren Täter sitzen nicht hinter Gittern.«

»Diese Sender, die solche Filme tagein, tagaus auf uns loslassen.«

Gerwald blieb ruhig.

»Grauselmaier. Woher kennen Sie ihn?«, fragte Neundorf.

Der Mann sah überrascht zu ihr her. »Er wurde ermordet, habe ich gelesen.«

Sie nickte.

»Mit Säure.«

»Mit Säure attackiert, dann erschossen. Sie kannten ihn persönlich?«

»Persönlich? Nein. Ich habe nur immer wieder von seinem unermüdlichen Einsatz für die Freigabe immer neuer privater Sender gelesen. Er saß seit Jahrzehnten als Abgeordneter in verschiedenen Parlamenten und war gleichzeitig Beauftragter dieser Konzerne.«

Neundorf nickte, erinnerte sich an die Übersicht, die ihr der Kollege Stefan Herb am Vorabend überreicht hatte. »Hier, damit du siehst, für wen der Herr tätig war. Leider nur eine unvollständige Liste.«

Sie hatte die Blätter, es waren mehrere, nur kurz überflogen, hatte die Sender, in deren Aufsichtsrat Grauselmaier saß oder von denen er offen als Lobbyist bezahlt wurde, gar nicht alle gekannt.

»So viel zur Unabhängigkeit unserer Abgeordneten und zum Zustand unserer Demokratie«, hatte Herb sich verabschiedet.

»Und dann habe ich mir eine seiner Wahlreden angehört«, fuhr Heiko Gerwald fort.

»Wann war das?«

»Im Sommer, so im Juni oder Juli, ich weiß es nicht mehr genau. In Tübingen. Eine Veranstaltung seiner Partei. Lesen statt glotzen. Damit tingelte er durchs Land. Lesen statt glotzen. Ausgerechnet der.«

»Waren Sie auch am letzten Freitag bei seinem Vortrag in Köngen?«

»Wo?«

»In Köngen. Bei Nürtingen.«

»Nein. Letzte Woche waren wir mit Julia in Karlsruhe. Bis einschließlich Samstag. Eine neue Therapie. Leider hat sie ihr überhaupt nichts gebracht. Bis jetzt jedenfalls nicht.« Er griff nach den Papieren, die auf dem Tisch lagen, schob sie ihr zu. »Hier sind noch die Unterlagen dazu. Viele schöne Worte und hohle Versprechungen. Und die Krankenkasse wird es wohl auch nicht bezahlen.«

Neundorf sah seine zitternden Hände, betrachtete die bleiche Haut seiner Wangen, seine schlaffe, nach vorne gebeugte Körperhaltung. Dieser Mann sollte fähig sein, einen anderen zu überfallen, ihm Säure ins Gesicht und auf den Unterleib zu spritzen und ihn dann noch zu erschießen? Sie las die Bestätigung einer auf psychotherapeutische Verfahren spezialisierten Klinik in Karlsruhe, dass Julia Gerwald im Beisein ihrer Eltern vom 4. bis zum 6. Oktober als potenzielle Patientin überprüft und als solche akzeptiert worden war, verzichtete auf jede weitere Nachforschung. Draußen schien die Hohenzollern-Burg einem Märchenschloss gleich vom Boden abzuheben und in den Himmel aufzuragen, auf ihrem dicht bewaldeten, teilweise schon herbstlich gefärbten Bergkegel in der Höhe residierend. Wahrscheinlich waren wieder Hunderte von Neugierigen ausgelassen damit beschäftigt, sich von Preußens Glanz und Gloria am Albrand überwältigen zu lassen. Hier drinnen gab es keinen Anlass für Glanz, auch keinen für Gloria, dieses Haus schien ganz und gar von jedem Glück verlassen.