8.

»Erschosse? Bei os in Könge?«

Die aufgeregte Stimme schallte laut durch die Nacht, als Neundorf auf die ins grelle Licht gleißender Strahler getauchte Gruppe am Rand der Straße zulief. Einer der Männer in den hellen Schutzanzügen sah sie kommen, hob seine Hand zu einem matten Gruß. Sie erkannte Hutzenlaub, wunderte sich über sein blasses Gesicht. Seine Augen wirkten eingefallen, sein Teint bleich, fast wie Papier. Das war sie von dem Spurensicherer nicht gewöhnt. War er krank oder lag es an der späten Stunde? Sie nickte ihm kurz zu, schob sich an ihm vorbei, sah Helmut Rössle, halb auf den Boden gestützt, mit einem jungen, gut aussehenden Mann reden. Beide wandten ihr die Seite zu, waren auf einen von ihren Körpern verdeckten Gegenstand unter ihnen fokussiert.

»Abend zusammen«, sagte sie etwas lauter als bei einem normalen Gespräch üblich, um die Männer auf sich aufmerksam zu machen.

Rössle sah als Erster auf. Er benötigte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wer vor ihm stand. »Abend isch gut«, brummte er schließlich, drückte sich etwas zur Seite, gab den Blick auf das Objekt unter ihm frei. »En guter Morge träfs besser, fascht a Stund nach Mitternacht.«

Neundorf kam zu keiner Antwort, starrte wie gebannt auf den Boden. Der Schock übermannte sie im selben Moment, ergriff innerhalb einer Sekunde von ihrem ganzen Körper Besitz. Sie fühlte sich wie ein angezählter Boxer, spürte buchstäblich die Schläge, die man ihr in den vergangenen Runden angetan hatte. Mindestens zwei Dutzend in den Leib, eine Handvoll mitten ins Gesicht. Was sie hier vor sich sah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.

»Scheiße, was?«, tönte es hinter ihr.

Sie wusste nicht, wie lange sie benötigte, zu begreifen, dass es sich um Hutzenlaubs Stimme handelte. Der schockartige Zustand, der ihren Körper im Griff hatte, war von seltsamer Ambivalenz: Einerseits versetzte er sie in einen Taumel außergewöhnlicher Erregung, andererseits hatte er eine alle vernünftigen Gedanken und Handlungen lähmende Starre zur Folge. Davon hatte man ihr nichts erzählt, als der Notruf nach Köngen erfolgt war. Sie kam erst wieder voll zu sich, als der junge, gerade noch auf dem Boden kniende Mann hoch aufgerichtet vor ihr stand und nach ihrer Hand griff.

»Holger Schäffler«, stellte er sich vor, »ich bin der Gerichtsmediziner.«

Sie ließ sich die Hand schütteln, nahm erst Sekunden später seinen Anblick genauer wahr. Ein großer Mann Mitte Dreißig mit langen dunklen Haaren. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie wusste nicht, woher, fand nicht die Konzentration, darüber nachzudenken. Der tote Mensch vor ihr beanspruchte ihre gesamte Aufmerksamkeit.

»So eine verdammte Scheiße«, schimpfte Hutzenlaub hinter ihr.

Sie benötigte keinerlei Erklärung, zu verstehen, was er meinte. Der leblose Körper am Rand der Fahrbahn offenbarte im grellen Licht der gleißenden Strahler unbarmherzig alle Entstellungen und Verletzungen, die man ihm angetan hatte. So gerne sie sich seine genauere Untersuchung erspart hätte, sie konnte nicht darauf verzichten – das war nun mal ihr Beruf. Eine seiner besonders unangenehmen Seiten.

Sie musterte das Gesicht des Toten, eines mit ursprünglich weißem Hemd, gemusterter Krawatte und dunklem Anzug bekleideten Mannes zwischen Fünfzig und Siebzig, sah die verunstalteten Partien am Kinn, den Wangen, dem Hals. Von Säure zerfressene, verkochte, aufgequollene Haut. Etwas tiefer, zwei von getrocknetem Blut gesäumte Einschusslöcher mitten in der Brust; unterhalb des Nabels Reste aufgelöster Stoffteile der Jacke und der Hose. Ob sie es wollte oder nicht, es gab keinerlei Zweifel, was die Stunde geschlagen hatte.

Wie in Reutlingen, schoss es ihr durch den Kopf. Haargenau dieselben Entstellungen, fast auf den Zentimeter genau die gleichen Wunden. Das gleiche Vorgehen, der gleiche Sadismus – derselbe Täter? Die Parallelität war nicht zu übersehen.

»Säure«, erklärte Rössle, »wahrscheinlich Salzsäure.« Er schaute, immer noch neben der Leiche kniend, zu ihr hoch, kratzte sich heftig am Kinn. »Da war scho wieder dieser Deifel am Werk.«

Sie wandte ihren Blick von dem toten Körper weg, konzentrierte sich auf den Spurensicherer.

»Alle Idiote von Sindelfinge, des isch an schöner Mischt, was?«, brummte der.

Sie nickte nur, ersparte sich jeden Kommentar. Der Schock saß zu tief in ihren Gliedern. Das war das Schlimmste, was hatte geschehen können. Derselbe Täter. Schon wieder ein Mensch auf solch barbarische Weise überfallen und ermordet.

»Wie in Reutlingen. Dieselbe Scheiße.« Hutzenlaub drängte sich vorsichtig an ihr vorbei, ließ sich zu Rössle nieder. Er hatte eine Kamera in der Hand.

»Genau derselbe?«, rutschte es ihr von den Lippen. »Oder vielleicht ein Nachahmer?«

Der Spurensicherer schaute zu ihr auf, hielt sich die Hand vor die Augen, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen. »Ich bin zwar nicht der Ermittler«, sagte er, »aber soweit ich das beurteilen kann, ist die Handschrift eindeutig. Das so zu bewerkstelligen, ist wirklich nicht einfach.«

 

Sie wusste, was er meinte, erinnerte sich ihres ausführlichen Gesprächs nach dem ersten Mord. Was auch immer den Täter veranlasst hatte, seine Opfer vor deren Tod noch mit Säure zu quälen, seine sadistischen Attacken beinhalteten stets ein zusätzliches Risiko für ihn selbst.

»Der Kerl attackiert sein Opfer mit Säure. Wie soll ich mir das vorstellen, wie er die an den Tatort bringt?«, hatte sie gefragt. »Der trägt das Zeug doch nicht in einer Flasche oder einem Glas mit sich herum, oder?«

»Du meinst, er hat das Problem, jede Berührung mit dem Material vermeiden zu müssen, es andererseits aber schnell als Waffe einsetzen zu können?«

»Genau. Er muss doch damit rechnen, sich selbst zu verletzen. Wie kann er das ausschließen?«

»Ausschließen?«, hatte Hutzenlaub erwidert. »Ausschließen kann er das nicht. Dieses Risiko bleibt. Hochprozentige Säuren sind nun mal gefährlich. Aber trotzdem wird er natürlich Vorkehrungen getroffen haben, zu vermeiden, sich selbst Schaden zuzufügen. Schon allein um nicht durch etwaige Hautverätzungen den Verdacht auf sich zu lenken.«

»Und wie hat er das getan? Ein möglichst geringes Risiko einzugehen, meine ich?«

»Er benutzt Spritzen«, hatte sich Markus Schöffler eingemischt, »stabile Spritzen aus bruchfestem Glas und mit einer speziellen Verankerung, so dass sie ihren Inhalt nicht aus Versehen freigeben können. Die findest du in Massen in jedem Krankenhaus. Du steckst sie in deine Jackentasche und wenn dein Opfer kommt, löst du die Sicherheitssperre und bist bereit.«

»Und das Risiko, sich selbst mit dem gefährlichen Inhalt zu verletzen?«

»Du musst dich schon granatenmäßig dämlich anstellen, um das hinzubekommen. Das ist so gut wie unmöglich. Das Material ist absolut bruchfest.«

Schöffler war kurz in seinem Labor verschwunden, hatte ihr eine Spritze mitgebracht und deren spezielle Sicherheitstechnik detailliert erklärt. »Im Prinzip bleibt nur ein einziger gefährlicher Moment«, hatte er ergänzt, »nämlich der, in dem er sein Opfer mit dem Zeug attackiert. Wenn er nicht weit entfernt genug steht oder die Spritze zu schnell entleert, können ein paar Tropfen von der Haut oder der Kleidung des Überfallenen abprallen und ihn selbst treffen.«

»Das heißt, der Täter könnte selbst Spuren von Verätzung aufweisen?«

»Nur wenn du viel Glück hast, sehr viel Glück«, hatten Hutzenlaub und Schöffler übereinstimmend geantwortet. »Wahrscheinlich war der Abstand zwischen Täter und Opfer zu groß. Wir haben keinerlei Schmauchspuren seiner Pistole entdecken können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ausgerechnet bei der Säureattacke näher bei seinem Opfer stand.«

»Was ist mit seiner Hand?«, war ihr eingefallen. »Ist das nicht ein wunder Punkt?«

»Du meinst die Hand, in der er die Spritze hält?«

»Genau. Nehmen wir an, er geht so oder zumindest so ähnlich vor, wie ihr es eben beschrieben habt. Er sieht sein Opfer, greift nach der Spritze, zieht sie aus seiner Tasche, entsichert sie und streckt sie seinem Opfer entgegen. Er hält sie möglichst weit von sich weg, um ja selbst nichts von dem Zeug abzubekommen. Seine Hand aber ist dieser Gefahr weit stärker ausgesetzt.«

»Das ist richtig, ja. Aber dafür gibt es Handschuhe. Gute, säurebeständige Exemplare. Oder zumindest so dick Gepolsterte, dass die Säure, sollten Teile davon tatsächlich auf dem Handschuh landen, zumindest für den Moment davon abgehalten wird, zur Haut durchzudringen. Der Täter benutzte Handschuhe, damit musst du rechnen.«

»Es sei denn …«

»Mit viel Glück für dich trug er Verätzungen auf seiner Hand davon, ja. Aber dann muss es sich schon um einen besonderen Idioten handeln.«

Sie hatten die Verätzungen der Kleidung und der Haut Andreas Sattlers genau überprüft, waren zu dem Ergebnis gekommen, dass der Täter den Spuren nach zu urteilen wohl tatsächlich eine – wenn auch recht großvolumige – Spritze benutzt hatte. Die Spur des Säure-Strahls war trotz der am Kinn und im Schambereich vorhandenen flächenmäßigen Zerstörungen vor allem im Brust- und Bauchbereich des Hemds des Toten in Form einer gewunden verlaufenden Linie nachzuweisen.

»Wir können nur hoffen, uns nie mehr mit so einer abartigen Schweinerei beschäftigen zu müssen«, hatte Hutzenlaub abschließend geäußert.

 

Neundorf erinnerte sich noch gut an seine Bemerkung, starrte auf die Leiche. Die Parallelität der Verbrechen war nicht zu übersehen. Unterhalb des völlig entstellten Halses zog sich die Spur der Säure fast senkrecht hinunter bis zum Nabel, nur dort unterbrochen, wo sich zum Zeitpunkt des Attentats die inzwischen zur Seite gerutschte Krawatte befunden haben musste. »Derselbe also, ja?«, sagte sie leise, wie zu sich selbst.

Hutzenlaub hatte immer noch die Hand über den Augen. »Wenn du mich fragst, ja. Ohne jeden Zweifel.«

Sie atmete tief durch, versuchte, nicht an die Konsequenzen dieses Sachverhalts zu denken: Den Berg an Arbeit, den immensen Druck durch die verschärfte Aufmerksamkeit der Presse und der Öffentlichkeit, die großen Erwartungen auf schnellen Erfolg, die in den nächsten Tagen, Wochen, vielleicht sogar Monaten auf sie als ermittelnde Hauptkommissarin warteten. Dankbar dafür, in ihrem trübsinnigen Gedankengang unterbrochen zu werden, registrierte sie den ungefragt geäußerten Befund des Gerichtsmediziners.

»Ich kenne den Reutlinger Fall nur aus den Aufzeichnungen der Kollegin. Was die hier aufgefundene Leiche anbetrifft, kann ich aber mit Sicherheit sagen: Der Mann wurde mit der Säure attackiert und zwar primär im Gesicht und dem Schambereich und dann unmittelbar danach mit zwei gezielten Schüssen in die Brust getötet. Vor etwa zwei Stunden.«

»Wo war das? Hier?«

»An Ort und Stelle«, mischte sich Rössle vom Boden her ins Gespräch, »mir hent Spure von Säure uf dem Lack von dem Karre do.« Er wies auf das Auto, das direkt vor der Leiche geparkt war. Ein dunkler Opel Astra, wie Neundorf sah.

»Die Schüsse?«, fragte sie. »Aus unmittelbarer Nähe?«

Dr. Schäffler nickte. »Wie die Säure, ja. Ich schätze, derselbe Täter.«

»Wer ist der Tote? Haben wir seine Identität?«

»Grausmüller oder so«, antwortete Rössle, »frag die Fraue dort drübe, die kennet den.«

»Wir haben Zeugen?«, fragte die Kommissarin überrascht.

»Dort drübe in der Bücherei. Bei dene Beamte wartet zwoi Fraue. Die hent den entdeckt.«

Neundorf verabschiedete sich von dem Gerichtsmediziner, lief auf das im Eingangsbereich hell erleuchtete Gebäude auf der anderen Straßenseite zu, wies sich bei dem an der Tür wartenden Kollegen aus. Die Beamten der Schutzpolizei hatten die Straße auf beiden Seiten weiträumig abgesperrt, ebenso den Zugang vom Haupteingang der Zehntscheuer her. Mehrere Uniformierte waren damit beschäftigt, Massen von Neugierigen vom Tatort fern zu halten. Neundorf hörte die aufgeregten Stimmen, wandte sich angewidert ab. War es denn nicht einmal mitten in der Nacht möglich, ihre Arbeit ohne die Belästigung einer aufdringlichen, nach Sensationen lechzenden Meute zu erledigen?

Sie öffnete die Tür, sah sich im hell erleuchteten Eingangsbereich einer Bücherei. Drei Frauen, eine davon eine uniformierte Kollegin, saßen in ein Gespräch vertieft nebeneinander. »Ich kann es nicht verstehen, beim besten Willen nicht«, äußerte gerade die Jüngste. Neundorf schätzte sie auf Ende Zwanzig, bemerkte die Erschöpfung in ihrem Gesicht. Trotz ihres von den Anstrengungen des langen Tages gezeichneten Zustands war nicht zu übersehen, dass es sich um eine bildhübsche junge Frau handelte. Die Nachbarin zu ihrer Linken musste heftig geweint haben, ihre Wangen zeigten Spuren verwischter Schminke, Lidschatten erstreckte sich den rechten Nasenflügel entlang fast bis zu den Lippen.

Neundorf hörte die Tür hinter sich ins Schloss fallen, sah die Augen der drei Frauen auf sich gerichtet. Sie trat näher, stellte sich vor.

»Dann sind Sie endlich die Kommissarin?«, fragte die Frau mit der verwischten Schminke.

»Es tut mir leid, wenn Sie warten mussten«, entschuldigte sie sich, »ich hoffe, Sie haben Verständnis, dass ich Sie heute Nacht noch persönlich sprechen möchte. Wir haben schließlich einen Toten …« Sie hielt inne, weil ihr Gegenüber plötzlich laut losheulte, sah, wie sich die Frau vor Erregung schüttelte.

Neundorf waren solche Reaktionen vertraut, vermutete, dass ihre Gesprächspartnerin den Toten gefunden hatte.

Die Jüngere legte der Weinenden behutsam den Arm um die Schulter, versuchte, sie zu trösten. »Sie hat ihn entdeckt«, sagte sie dann, zu Neundorf gewandt, »das heißt, eigentlich bin ich zuerst auf ihn aufmerksam geworden, aber sie hat vor mir begriffen, wer da am Rand der Straße liegt. Ich habe nur die Umrisse gesehen, zuerst jedenfalls, wenn Sie verstehen …«

Die Kommissarin nickte, bedankte sich bei der uniformierten Kollegin, die aufgestanden war und ihr ihren Stuhl anbot, nahm Platz. »Sie waren zusammen, als Sie ihn fanden?«, fragte sie.

Die junge Frau fuhr ihrer Nachbarin sanft über die Wange, brachte sie langsam zum Verstummen. »Wir, wir liefen aus der Bücherei über die Straße …«

»Wann war das?«

»Gegen Elf. Ich meine 23 Uhr«, verbesserte sie sich.

Neundorf erkundigte sich nach der Identität der beiden Frauen, erfuhr, dass es sich um Tanja Giebert, die junge Leiterin der Gemeindebücherei und ihre Kollegin Marina Hölzle handelte, ließ sich den Grund ihres späten Aufbruchs, den Verlauf des Abends und die genauen Umstände des Auffindens des Toten genau erklären. »Und ich verstehe das richtig: Bei dem Toten, den Sie dort fanden, handelt es sich um Herrn Grauselmaier, den Referenten Ihrer Veranstaltung?«

»Das … ist doch … der Wahnsinn«, rief Marina Hölzle in nur schwer verständlichen, von kurzen Heulkrämpfen unterbrochenen Worten, »der Mann kommt zu uns und hält … seinen Vortrag und diskutiert mit den Leuten und dann, dann …«

»… wird er ermordet«, ergänzte Tanja Giebert mit gedämpfter Stimme. »So ist es doch, oder?« Sie warf der Kommissarin einen fragenden Blick zu.

Neundorf bestätigte ihre Vermutung mit einem wortlosen Kopfnicken.