KAPITEL 24

Kaum saßen Mary und ich im Taxi nach Brooklyn, rief ich in Dathis Schule an und fragte, ob jemand sie nach der Mittagspause gesehen hatte. Die Schule handhabte das ziemlich locker und erlaubte den Kindern, während dieser Zeit das Gelände eine Stunde lang zu verlassen. Zweimal pro Tag – am Morgen und nach dem Mittagessen – wurde durchgezählt. Ich musste kurz warten, bis die Sekretärin meinen Verdacht bestätigte.

»Morgens war sie anwesend, aber am Nachmittag nicht.«

»Und wieso hat mich niemand angerufen und darüber informiert, dass sie nach der Mittagspause dem Unterricht ferngeblieben ist?«

Die Sekretärin hielt kurz inne und seufzte. »Es macht keinen Sinn, die Eltern jedes Mal zu verständigen. Aber wir halten solche Vorfälle schriftlich fest.«

Dass ihre Kollegin, mit der ich vorhin telefoniert hatte, das nicht überprüft hatte, ärgerte mich maßlos. Wieso machten sie sich eigentlich die Mühe, Fehlzeiten zu dokumentieren? Zum Zeitvertreib?

Ich überlegte, Billy anzurufen, hielt das dann aber für keine gute Idee. Stattdessen rief ich seine Schwester an. Die Sache mit der Einkaufstüte wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, und ich brauchte in diesem Punkt einfach Gewissheit.

»Hi, Janine, ich bin’s, Karin«, stellte ich mich vor. »Eine Freundin von Billy.«

»Alles klar. Er spricht oft von Ihnen. Und hat offenbar einen Narren an Ihrem kleinen Sohn gefressen.«

»So ist es.«

»Jungs in dem Alter sind richtige Wonneproppen.«

»Janine, ich wollte mich bei Ihnen für die Sachen für Dathi bedanken. Sie kann Kleidung gut gebrauchen. Wir sind Ihnen wirklich sehr verbunden.«

»Keine Ursache. Schade, dass es nur eine Handvoll Klamotten war. Sie hat doch nichts gegen diese supermodische katholische Schultracht, oder?« Sie lachte kurz auf.

Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon sie da redete.

»Dathi möchte unbedingt wie eine kleine Amerikanerin aussehen«, erwiderte ich, »aber vielleicht nicht unbedingt so amerikanisch.«

»Wollen Sie damit andeuten, sie ist zu verklemmt für einen blauen Faltenrock samt passendem Pulli?«

»Ach, diese Sachen habe ich wohl übersehen.«

»Das Gute an Schuluniformen ist, dass sie den Geldbeutel schonen, weil die Kinder nur am Wochenende Freizeitkleidung tragen. Blöde ist allerdings, dass man die Sachen meistens nicht einfach weiterreichen kann. Schließlich gibt es nicht so viele Mädchen, die eine katholische Schule besuchen. Da sich Rock und Pulli meiner Meinung nach gut kombinieren lassen, kann Dathi vielleicht etwas damit anfangen.«

»Danke. Übrigens ... haben Sie eine Ahnung, wo Billy steckt? Ich muss ihn unbedingt finden.«

»Billy? Nein, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Er erwähnte, dass Sie einen Wasserrohrbruch hatten ... was für ein Albtraum.«

Sie schwieg kurz und sagte dann: »Wir sind heute Morgen aus Jamaika zurückgekommen, und unsere Rohre sind in Ordnung.«

Ich versuchte, mich aus der misslichen Situation herauszureden, und beendete wenig später das Telefonat. Nun gab es nichts mehr zu deuteln: Billy hatte den gestrigen Tag und Abend nicht seiner Schwester geholfen. Auch die Erklärung, die Kleider hätten seiner Nichte gehört, und der Wasserrohrbruch waren erstunken und erlogen.

Ich rief auf dem 84. Revier an und fragte nach La-a.

»Puh, Karin. Was willst du jetzt schon wieder?«

»Dathi könnte in Schwierigkeiten stecken.«

»Meine Liebe, ich habe fünf Kinder, und ich kann dir sagen, bislang ist mir noch kein Teenager über den Weg gelaufen, der keine Schwierigkeiten hatte.«

»Sie ist erst zwölf.«

»Macht keinen Unterschied.«

»Hör mal zu, Dash. Dathi ist heute nach der Mittagspause nicht wieder in der Schule aufgetaucht. Gerade habe ich mich mit Abby unterhalten und -«

»Du hast mit Abby gesprochen?«

»Ja, das kann ich dir alles später erzählen. Jetzt müssen wir erst mal Dathi suchen.«

Und dann berichtete ich doch Punkt für Punkt, was Abby uns geschildert hatte. Was mich am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass neben Reed Dekker und Steve Campbell, die inzwischen tot waren und keinen Schaden mehr anrichten konnten, und Pater X, der hinter Gittern saß, augenscheinlich weitere Männer involviert waren. Wer waren diese Männer?

»Dash, vielleicht erzähle ich dir nichts Neues ... Aber Billy würde ich vorerst nicht einweihen, ja?«

Sie seufzte oder stöhnte ... oder vielleicht war es ja eine Kombination aus beidem. »Ja. Kapiert.«

»Kannst du gleich zum Haus der Dekkers fahren und dort nach dem Rechten sehen?«

»Wird gemacht.«

»Wir treffen uns dort. Ich mache mich auch sofort auf den Weg.«

Das Taxi hielt vor dem verlassen wirkenden Sandsteinhaus. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Da es kürzlich geschneit hatte, war das ganze Haus in Weiß getaucht. Der Schnee auf dem Bürgersteig vor dem Grundstück war nicht gefegt worden, aber dort, wo die Passanten sich einen Weg gebahnt hatten, war eine kleine Schneise entstanden. Seltsam, dass keiner der Nachbarn vor dem Haus der Dekkers Schnee gefegt hatte.

Mary und ich stiegen aus dem Taxi. Auf beiden Seiten der Straße flanierten ein paar Fußgänger, doch ansonsten war es ruhig und friedlich. Der Abend brach an, und die letzten Lichtstrahlen verschwanden rasch.

»Wo stecken sie nur?«, empörte ich mich. La-a hatte versprochen herzukommen, aber so wie es aussah, kümmerte sich niemand um die Sache. Dass schon jemand von der Polizei da gewesen und wieder gegangen war, schien angesichts der unberührten Schneedecke auf den Stufen der Vordertreppe eher unwahrscheinlich.

»Schauen Sie mal.« Mary deutete auf den verschneiten Vorgarten, durch den man zu dem ebenerdigen Eingang gelangte. Dort waren im fahlen Licht kleine Fußabdrücke zu erkennen.

Wir öffneten das Tor und gingen in den Vorgarten, wo ein großer Blumenkübel fast vollständig von Schnee bedeckt war.

»Sieht aus, als hätte jemand etwas hinter dem Kübel gesucht«, meinte Mary.

Wir näherten uns dem großen Blumentopf. An der Rückseite hatte jemand mit der Hand den Schnee entfernt und sich bis zum gefrorenen Erdreich vorgegraben. Neben dem Kübel lagen abgebrochene Zweige der abgestorbenen Topfpflanze.

»Der Pott ist umgekippt worden«, schlussfolgerte ich. »Abby wird ihr verraten haben, wo ein zweiter Schlüssel liegt.«

Ich zog die nicht abgesperrte Gittertür auf; die Eingangstür ließ sich jedoch nicht öffnen. Die einfachen, uralten Schließzylinder der Sandsteinhäuser waren leicht zu knacken. Anstatt sie auszutauschen, verließen sich ihre Besitzer auf die abschreckende Wirkung der schmiedeeisernen Gittertüren. In dem Moment wünschte ich, ich hätte mir Macs Dietrich-Set ausgeliehen.

Mit der Faust, die von einem Lederhandschuh geschützt wurde, schlug ich die Glasscheibe neben dem Türknauf ein. Scherben fielen zu Boden. Vorsichtig entfernte ich die im Rahmen steckenden Glassplitter. Danach griff ich durch die Öffnung und löste von innen die Verriegelung.

»Wann verabschieden die Leute sich endlich von diesen billigen Türknäufen?«, fragte ich Mary.

»Hm, ich habe auch so einen.«

Im Haus herrschte Totenstille. Das Erdgeschoss mit der niedrigen Decke, dem Teppichboden im Flur und den drei Zimmern – Hobbyraum, Gästezimmer und Lagerraum – erweckte den Anschein, als hätten sich die Dekkers hier eher selten aufgehalten.

Dathis noch nasse, schwarze Turnschuhe standen ordentlich abgestellt an der Wand. Dass ich nichts hörte, bereitete mir Kopfzerbrechen. War jemand bei ihr? Und falls ja, hatte der Betreffende uns kommen gehört?

»Pst«, flüsterte ich Mary zu. »Überprüfen Sie die Räume hier unten. Und vergessen Sie nicht: Abby meinte, die Sachen wären unter der Treppe. Ich schaue mich oben um.«

Ich stieg die Treppe hoch und betrat das Wohnzimmer. In dem Augenblick wanderte das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Wagens über die hohe, reich verzierte Stuckdecke. Auf dem runden Glastisch lag eine dicke Staubschicht, auf der Couch ein aufgeschlagenes Kochbuch samt einer Lesebrille. Davon hatte ich bei meinem letzten Besuch keine Notiz genommen. Was hatten die Dekkers wohl an jenem Sonntagabend gemacht, als Tina unerwartet vor ihrer Haustür stand und läutete? Dass ein einziges Klingeln die Macht hatte, ihre Welt vollkommen auf den Kopf zu stellen, musste Marta ziemlich verstört haben. War sie wirklich nur eine unbeteiligte Zuschauerin gewesen? Mir erschien es unbegreiflich, wie man mit so einem Mann zusammenleben konnte, ohne mitzukriegen, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte. Ich schüttelte verständnislos den Kopf. So ein Fall ließ nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder hatte Marta sich gewaltig in die Tasche gelogen, oder sie war seine Komplizin gewesen.

Nichts deutete darauf hin, dass sich jemand im Haus befand. Meine Anspannung ließ etwas nach. Sofort ermahnte ich mich, Vorsicht walten zu lassen.

Unter der Treppe, hatte Abby behauptet.

Ich schaute mich um.

Wie in allen hiesigen Sandsteinhäusern verband eine Treppe – in diesem Gebäude besaß sie ein auf Hochglanz poliertes Holzgeländer – die einzelnen Stockwerke miteinander. Ich stellte mich neben sie und spähte nach oben. Verbarg sich unter einer der Stufen ein Hohlraum? Nein, so ein Versteck war zu klein für das, was diese Männer verbergen mussten. Während ich darauf achtete, mich von der orangeroten Vase fernzuhalten, schritt ich langsam die Wand neben der Treppe ab. Die altmodische Kassettenholzvertäfelung mit ihrem hübschen, aber das Auge verwirrenden Muster aus Quadraten und Kreisen war aufwendig restauriert worden. Wie hypnotisiert blieb ich davor stehen. Jeder Kreis wurde von zwei weiteren Kreisen eingerahmt und hatte in der Mitte eine Vertiefung.

Ich trat einen Schritt näher, fuhr mit der Fingerspitze über den nächsten Kreis und in die dazugehörige Mulde. Wie viele Menschen hatten in den vergangenen Jahrzehnten die Beschaffenheit dieses komplizierten Musters studiert? Je länger ich es betrachtete, desto mehr Details entdeckte ich: Ein Dutzend Kreise zierten jedes einzelne Paneel, das etwa halb so groß wie eine Tür war. Zwischen den Paneelen gab es winzige Fugen, die man mit bloßem Auge kaum erkennen konnte.

Früher als Kinder hatten Jon und ich stundenlang das große, alte viktorianische Haus meiner Großeltern in Montclair erkundet. Und nachdem wir dort eingezogen waren, entdeckten wir scheinbar willkürlich im Haus installierte Geheimfächer, deren Existenz meine Großeltern mit einem Augenzwinkern leugneten. Nach einer Weile kannten wir jedes Fach in- und auswendig, und die Faszination ließ nach. Manche hatten zierliche Griffe, die schon bei einer leichten Berührung aus dem Paneel sprangen, während andere mit einer Spannfeder versehen waren und sich nur auf Druck hin öffneten.

Nach und nach berührte ich jedes Element, bis mir das Glück hold war und sich eine Tafel öffnete.