KAPITEL 19

Sasha Mendelsohn rief mich an, um mir mitzuteilen, dass Abby ein Bild von sich und Dathi gemalt hatte. »Das halte ich für ein gutes Zeichen«, sagte Sasha. »Inzwischen geht es ihr beträchtlich besser – zumindest physisch. Heute wird ihr Gips abgenommen, und wir haben bereits darüber gesprochen, sie nächste Woche zu entlassen und in die Obhut der Campbells zu geben ... Doch wir haben immer noch Probleme mit der genauen Einschätzung ihrer neurologischen Funktionen. Des Weiteren ist problematisch, dass sie bislang weder mit den Erwachsenen, also den Schwestern und Ärzten, noch mit den Kindern auf der Station gesprochen hat. Vor diesem Hintergrund ist es höchst bemerkenswert, dass sie sich mit Ihrer Tochter austauscht.«

»Sollen Dathi und ich sie heute nach der Schule besuchen?«

»Gern, falls Ihnen das keine Umstände macht.«

»Ich werde Dathi fragen, was sie davon hält, aber ich kann Ihnen jetzt schon versichern, dass sie zustimmen wird.«

Und so kam es, dass wir am Nachmittag zusammen ins Krankenhaus fuhren. Kaum hatten wir ihr Zimmer betreten, richtete Abby sich in ihrem Bett auf. Dathi schnappte sich den Besucherstuhl, und ehe ich mich’s versah, steckten die beiden Mädchen die Köpfe zusammen. Abby fiel es deutlich leichter, sich zu bewegen, und im Unterschied zu ihrer Seele erholte sich ihr Körper von den Verletzungen. Da der Gips bald abgenommen wurde, begannen die Mädchen, jeden freien Quadratzentimeter mit Stiften zu bemalen. Danach borgte Dathi sich mein Handy, machte Fotos und mailte sie an ihr eigenes Postfach. Innerhalb weniger Stunden würde man die Aufnahmen auf ihrer Facebook-Seite bestaunen können.

Nach dem Unterricht am Freitag und am Samstagnachmittag schauten wir wieder bei Abby vorbei, und jedes Mal verlief das Beisammensein gleich: Die Mädchen tauchten in ihre eigene Welt ab, malten und knüpften Freundschaftsbänder; und während Dathi vorlas oder redete, hörte Abby ihr aufmerksam zu. Ich schlenderte derweil durch die Flure, stattete der Cafeteria und dem Geschenkartikelladen Besuche ab und saß gelegentlich im Warteraum, damit die Mädchen unter sich sein konnten.

Nach einem für mein Empfinden sehr langen Besuch war Dathi gerade dabei, ihre Jacke zu schließen und sich abermals von ihrer neuen besten Freundin, aber verrate das ja nicht Oja, zu verabschieden, als Pater X und Steve Campbell auftauchten. Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre im Zimmer. Man merkte, dass sich Abby augenblicklich unwohl fühlte, sie starrte an die Decke und rührte sich nicht mehr.

»Hallo!« Steve reichte mir die Hand zum Gruß. »Wie ich hörte, sind Sie in letzter Zeit häufiger da gewesen. Schade, dass wir uns immer verpasst haben.«

»Die Mädels verstehen sich prima«, sagte ich. »Diese Woche haben wir Abby schon dreimal besucht. Doch wir bleiben hier nicht mehr lange.«

»Wäre schön, wenn die Mädchen sich auch in Zukunft träfen. Am Dienstag können wir Abby mit nach Hause nehmen«, verkündete Steve. »Habe die gute Nachricht eben erfahren. Ist das nicht toll, Abby? Linda ist daheimgeblieben und richtet gerade dein neues Zimmer ein.«

Abby klammerte sich an ihr Schweigen wie an einen Rettungsring.

»Na, ich muss noch eine ganze Reihe Papiere unterschreiben. Bin gleich wieder da.« Steve bedachte mich mit einem Lächeln, bevor er hinausging. »Wir sehen uns hoffentlich bald wieder.«

Ich mochte Pater X nicht mit Abby allein lassen, doch ehe mir eine Ausrede einfiel, noch nicht aufzubrechen, kam Dathi mir zuvor und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

»Wir wollten uns nicht sofort verabschieden«, stellte sie klar und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch. »Mir ist nur kalt.«

»Ich finde es hier ziemlich warm«, entgegnete Pater X. »Aber du bist ja ein anderes Klima gewöhnt, nicht wahr?«

Dathi und Abby schwiegen beharrlich und würdigten ihn keines Blickes, während ich ihn keine Sekunde aus den Augen ließ. Ich konnte den Mann auf den Tod nicht ausstehen, hasste alles an ihm: die geröteten Wangen, aus denen langsam die Farbe wich, seine feuchten Augen, seine tiefgefurchte Stirn.

Ich lehnte mich an die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, es mir dort bequem zu machen. Dathi, ansonsten die Höflichkeit in Person, bot Pater X nicht ihren Stuhl an, sondern schnappte sich das Buch und las laut aus Hüter der Erinnerung vor. Pater X gähnte in einem fort und rührte sich nicht von der Stelle. Kaum kehrte Steve mit einem großen Umschlag in der Hand zurück, streifte Pater X seinen Mantel über. Dass der Priester den Besuch beenden wollte, versetzte Steve in Erstaunen.

»Jetzt schon?«, fragte er.

»Sie ist müde.« Pater X bedachte Abby mit einem dezenten Lächeln, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. »Wir kommen morgen wieder, Schätzchen.«

»Dann wird Linda uns begleiten, okay?«, versprach Steve. »Sie hat mich gebeten, dir von ihr einen Kuss zu geben.« Er wagte es jedoch nicht, die Bitte seiner Frau in die Tat umzusetzen.

Sobald die beiden Männer weg waren, zog Dathi ihre Jacke aus, in der sie so geschwitzt hatte, dass ihre Hemdbluse ganz feucht war.

»Abby, Liebling.« Ich machte ein paar Schritte und stellte mich vor ihr Bett. »Hast du Angst vor Pater X? Kannst du Steve und Linda nicht leiden?«

Sie schaute mich kurz an, und für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, sie würde etwas sagen. Doch dann schaute sie in eine andere Richtung und fixierte die Wand gegenüber von ihrem Bett, wo inzwischen mehrere Zeichnungen hingen.

»Ist schon gut.« Gut war hier gar nichts, aber was konnte ich tun? »Komm«, forderte ich Dathi auf. »Wir müssen jetzt wirklich gehen.«

Dathi flüsterte ihrer Freundin zum Abschied etwas ins Ohr, woraufhin Abby nur nickte.

Während wir im Lift nach unten fuhren, konnte Dathi sich nicht mehr beherrschen. »Abby hat keine Angst vor Pater X. Sie mag ihn sogar. Sie fürchtet sich vor dem anderen Priester.«

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. »Welcher andere Priester?«

»Sie möchte nur, dass du Bescheid weißt.«

»Na schön. Und woher weißt du davon?«

»Sie hat es mir erzählt.« Dathi grinste vor lauter Stolz und Selbstzufriedenheit.

Mich fröstelte. »Sie hat es dir erzählt?«

»Ja, sicher. Immerhin ist sie meine beste Freundin.«

»Willst du behaupten, sie hat tatsächlich mit dir gesprochen? Nicht geschrieben oder ein Bild gemalt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Jedes Mal, wenn ich sie besuche. Sie hat viel zu erzählen. Zum Beispiel, dass sie nicht bei diesen Leuten leben möchte.«

Sprach Dathi die Wahrheit? Das Mädchen besaß eine lebhafte Phantasie, aber hieß das gleich, dass meine Zweifel begründet waren? Ich gab mir innerlich einen Ruck und beschloss, mich ausnahmsweise mal in Geduld zu üben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Abby wieder sprechen würde. Dass sie sich vor etwas fürchtete und es nicht wagte, darüber zu reden, war nicht von der Hand zu weisen.

»Warum nicht?«

»Ihre Mutter kommt sie holen. Und wie soll sie ihre Tochter finden, wenn Abby umzieht?«

»Dathi, ihre Mutter kommt sie nicht holen.«

»O doch.«

»Und wie soll das gehen?«

Die Fahrstuhltür ging auf, und Menschen strömten in die Kabine. Als wir durch die Lobby gingen, sahen wir, dass draußen vor dem Haupteingang zahlreiche Menschen standen oder aufgeregt umherliefen.

»Dathi, wen meinte sie mit dem anderen Priester? Wer soll das denn sein?«

Wir gingen durch die Drehtür, kamen dann aber zunächst nicht mehr weiter. Nach vorn drängende Reporter und Schaulustige, die neugierig die Köpfe reckten, versperrten uns den Weg.

Uniformierte Polizisten hielten Pater X in Schach, der ihnen etwas sagen wollte, was sie augenscheinlich nicht interessierte. Einer der Polizisten drehte Pater X um und drängte ihn zu der offenstehenden Tür eines Streifenwagens. Man hatte Pater X Handschellen angelegt. Ich hielt Ausschau nach Steve Campbell, konnte ihn jedoch nirgendwo finden.

»Sie machen einen Fehler«, flehte Pater X. »Bitte, hören Sie mich an!«

Der Polizist schob ihn ungerührt in den Wagen; dann schloss einer seiner Kollegen die Tür. Die Worte des Paters kümmerten sie nicht. Ihre Aufgabe war es, ihn zu verhaften und aufs Revier zu bringen.

Ich trat zu einem der Polizisten und fragte: »Was geht hier vor?«

Seine Miene fror ein – eine mir durchaus vertraute Reaktion: Er sah keine Veranlassung, die Fragen einer neugierigen Schaulustigen zu beantworten. Wortlos ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen, und im nächsten Augenblick fuhr der Streifenwagen davon.

»Du Scheißkerl!«, rief ich dem Polizisten hinterher und bereute mein Verhalten sofort. Verschämt sah ich zu Dathi, die bis über beide Ohren grinste.

»Langsam lerne ich dich besser kennen, Karin.« Dathi nahm meine Hand und drückte sie. »Und ich mag dich am liebsten, wenn du dich von deiner schlechtesten Seite zeigst. Verstehst du, was ich meine?«

»Willst du damit sagen, du hättest schon Bekanntschaft mit meiner schlechtesten Seite gemacht?«

»Kann sein, dass ich nicht den richtigen Begriff gewählt habe. Vielleicht meinte ich eher ›unüberlegt‹.«

Nun drückte ich ihre Hand. Auf dem Weg zur U-Bahn rief ich Mac an und berichtete, was sich zugetragen hatte.

»Ich weiß«, meinte er. »Sie bringen es schon in den Nachrichten.«

»Was will die Polizei von Pater X?«

»Karin, du warst vor Ort. Weißt du denn nicht Bescheid?«

»Mir hat keiner was gesagt.«

»Offiziell heißt es, er soll in Verbindung mit den Prostituiertenmorden befragt werden.«

»Und deshalb führen sie ihn in Handschellen ab?« Ich erwartete keine Antwort auf meine Frage. Im Normalfall verhaftete die Polizei nur Personen, wenn sie den Betreffenden eine direkte Beteiligung nachweisen konnten. Die Polizeiaktion untermauerte meinen langgehegten Verdacht, dass Pater X Dreck am Stecken hatte. Nur wollte ich ganz genau wissen, was diesem scheinheiligen Typen vorgeworfen wurde.

Deshalb rief ich Billy auf dem Handy an und hinterließ ihm eine Nachricht: »Aus welchem Grund habt ihr Pater X verhaftet?«

Bedauerlicherweise meldete er sich nicht sofort zurück, und als wir uns kurz darauf in den unterirdischen U-Bahnhof begaben, hatte ich keinen Empfang mehr.