KAPITEL 12

Dathis Mail war bei weitem nicht so höflich und entgegenkommend formuliert wie die, die sie mir zuletzt geschickt hatte. Vermutlich hatte sie momentan für solche Feinheiten keine Zeit.

Onkel hat mich für 10000 Rupien an einen Agenten verkauft, der mich als Zimmermädchen nach Bombay vermitteln will. Nur hat Oma mich vor solchen Agenten gewarnt, und so bin ich weggelaufen.

In der Hoffnung, dass sie noch am Computer saß, antwortete ich ihr umgehend:

Dathi, was soll das heißen? Bist du in Sicherheit?

Wie gebannt starrte ich auf das Display und wartete. Vergeblich.

Wieder und wieder überflog ich ihre Mail und versuchte, mehr aus dem Text herauszulesen, als darin stand. Da ich bereits mit dem eiskalten Onkel Ishat gesprochen hatte, wunderte es mich nicht, dass er seine Nichte loswerden wollte. Aber die Kleine verkaufen?

Für zehntausend Rupien – wie viel Geld war das überhaupt?

Ich ging in das Wohnzimmer, wo Mac und ich auf dem Schlafsofa übernachteten – Ben hatte es sich hocherfreut im Schlafsack neben Davids Bett gemütlich gemacht. Aus meinem Rucksack zog ich mein Notebook hervor, setzte mich damit im Schneidersitz auf den Boden, fuhr den Rechner hoch und begann zu googeln.

Zuerst ging ich bei meiner Recherche ganz banal vor und tippte Mädchen an indischen Agenten verkauft ein. Der erste Eintrag lieferte einen Link zur Times of India: Junge Mädchen für Rs. 2 Lakh verschachert. Allein die Vorstellung, dass kleine Mädchen tatsächlich verkauft wurden, schnürte mir die Kehle zu. Was »Rs. 2 Lakh« bedeutete, war mir allerdings ein Rätsel.

Ich klickte den Artikel an, in dem über den Heiratsmarkt für junge Mädchen und Frauen berichtet wurde. Der Preis war abhängig vom Alter, von der Jungfräulichkeit und von früheren Eheschließungen. Eine kurze Recherche ergab, dass »Rs. 2 Lakh« ungefähr fünftausend Dollar entsprach.

Mir wurde schlecht, und plötzlich hatte ich das Gefühl, unter Seekrankheit zu leiden und das Gleichgewicht zu verlieren. Mir war schwindelig, und ich sah doppelt. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und recherchierte weiter.

Ein Lakh entsprach hunderttausend Rupien. Onkel Ishat hatte Dathi für zehntausend Rupien verkauft. Somit waren zehntausend Rupien zweihundert Dollar. War dies in Indien momentan der gängige Marktpreis für ein Mädchen? Für diese Summe bekam man in den Staaten nicht mal einen Fernseher.

Mit klopfendem Herzen googelte ich weiter. Ich musste mehr erfahren – mich davon überzeugen, dass ich nicht phantasierte, dass ich mich von dem, was im Internet als Wahrheit verkauft wurde, nicht aufs Glatteis führen ließ. Innerhalb kürzester Zeit fand ich heraus, dass es im Netz zig Blogs, Chats und Berichte über Menschenhandel gab, und beim Lesen kam es mir vor, als befände ich mich in einem langen dunklen Tunnel ohne Licht am Horizont. Irgendwann verlegte ich mich auf eine andere Vorgehensweise. Es machte mehr Sinn, wenn ich mich auf die gut recherchierten Artikel konzentrierte, die von namhaften Journalisten geschrieben waren, die in renommierten Zeitungen publizierten. Nur so würde es mir gelingen, zwischen Wahrheit und Paranoia zu unterscheiden.

Je zuverlässiger die Quellen, desto mehr Glauben schenkte ich ihnen, desto beklemmender lasen sich die zweifelsohne wahren Berichte, die ich fand.

Dass junge Mädchen in Indien und Afrika häufig – wie Chali – von älteren Männern gekauft und dann geehelicht wurden, war mir nicht neu: aber dass sie auch als »Dienstmagd« oder »Zimmermädchen« verhökert und in Wahrheit zur Prostitution gezwungen wurden, erfuhr ich erst jetzt. Selbstverständlich hatte ich von Menschenhandel gehört, doch welches Ausmaß er angenommen hatte, wie viele Jungs und – vor allem – Mädchen von ihren Familienangehörigen als Sexsklaven feilgeboten wurden, erstaunte mich.

Die Zahl, die kursierte, war schockierend: 1,3 Millionen. So viele Kinder wurden allein in Indien zur Prostitution gezwungen, wobei fünfzig Prozent von ihnen einheimisch waren und die übrigen aus anderen Ländern stammten.

Teilweise waren die Opfer so jung wie mein Ben, zahlreiche Mädchen gerade einmal in Susannas Alter. Mädchen in der Pubertät – wie die zwölfjährige Dathi – erzielten den höchsten Preis, und wenn sie versuchten zu fliehen, wurden sie geschlagen und so lange unter Drogen gesetzt, bis sie süchtig waren und gar nicht mehr auf die Idee kamen, sich aus dem Staub zu machen.

Das »Recht der ersten Nacht«, bei dem ein Kind entjungfert wurde, brachte fünfundzwanzigtausend Rupien oder gut fünfhundert Dollar ein.

Danach wurden sie gequält, in Käfigen gehalten, vergewaltigt.

In Indien »bediente« die typische Kinderprostituierte zehn »Kunden« pro Tag, und das sieben Tage die Woche. Dass siebzig Männer Sex mit einem Kind hatten und dafür kaum mehr bezahlten als für eine Tasse Kaffee, erschien mir unvorstellbar. Zudem war es gängige Praxis, dass nur das Bordell das Geld erhielt, während die leidtragenden Kinder leer ausgingen.

Ich legte den Laptop weg. Meine Gedanken überschlugen sich, und ich zitterte wie Espenlaub.

Was kaufte Onkel Ishat sich von den zweihundert Dollar, die er für Dathi erhielt?

Mir wurde ganz schwindelig. Wieder schloss ich die Augen, lehnte mich an das Schlafsofa und wartete, bis sich mein Zustand besserte.

Obwohl ich Dathi noch nicht persönlich begegnet war, wusste ich inzwischen einiges über sie. Da sie nur zu gut wusste, welches Schicksal ihr drohte, war sie von ihm weggelaufen. Im Unterschied zu vielen anderen Kindern in ihrer Lage war sie gebildet und vor diesem schlimmen Schicksal gewarnt worden. Ihre Mutter und Großmutter, die alles darangesetzt hatten, sie vor diesem Los zu bewahren, konnten Dathi nun nicht mehr beistehen. Ich malte mir aus, wie dieses mutige Mädchen ihrer Situation gnadenlos ausgeliefert war, wie sie sich vorkam, als wäre sie in einen bösen Traum geraten, wie sie einen Ausweg suchte und nicht von der Stelle kam. Und dann schweiften meine Gedanken ab – zu den anderen Mädchen, den Vermissten, den toten Prostituierten. Ich dachte an Abby, an die zahllosen Teenager, deren Dasein von der Habgier Dritter, von Gewalt oder beidem geprägt war. Und alle versuchten vergeblich, ihrem Schicksal zu entrinnen, nur um am Ende für immer von der Bildfläche zu verschwinden und in Vergessenheit zu geraten, als wäre ihre Existenz gänzlich unbedeutend.

Chali hatte Dathis Abreise gründlich vorbereitet: Sie hatte ein Visum und ein One-Way-Flugticket für Neujahr besorgt sowie die Fluggesellschaft davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Kind allein von Nagpur nach New York fliegen würde, wo ein Erwachsener es abholte. Ich hatte mitbekommen, wie Chali all dies in die Wege leitete. Wer hätte damals ahnen können, wie wichtig es sein würde, dass ich Bescheid wusste.

Nun war es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Dathi das Flugzeug bestieg und ich rechtzeitig am Flughafen auftauchte, um sie in Empfang zu nehmen. Über alles andere konnte ich mir später noch den Kopf zerbrechen.

War es irrsinnig, dass ich die Verantwortung für Chalis Tochter übernahm? Oder nicht? Indiskutabel. Verrückt.

Oder – in einem anderen Licht betrachtet – nur eine kleine Geste des Beistands?

Ich erhob mich und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Nach ein paar Schluck und tiefen Atemzügen hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich Onkel Ishats Nummer wählen konnte. An die Spüle gelehnt, lauschte ich, wie es viele tausend Meilen weit weg am anderen Ende läutete.

Nach einer gefühlten Ewigkeit meldete er sich.

»Sie schon wieder.«

»Bitte, legen Sie nicht auf.« Ich zwang mich zur Besonnenheit, auch wenn ich ihn am liebsten angeschrien hätte.

Er schwieg und wartete. Ich wusste nicht so richtig, wie ich anfangen sollte, spürte jedoch ganz deutlich, dass er auflegte, falls ich mich nicht sputete.

»Geben Sie mir Dathi.«

Er lachte schallend. »Auf Wiederhören.«

»Warten Sie! Ich zahle Ihnen zwanzigtausend Rupien für sie. Setzen Sie sie einfach in den Flieger nach New York. Mehr brauchen Sie nicht zu tun.«

»Zwanzigtausend, sagen Sie?«

Ich hatte nicht lange überlegt und die Summe, die er für sie verlangte, einfach verdoppelt. Erst jetzt dämmerte mir, dass vierhundert Dollar wahrscheinlich nicht ausreichten, Onkel Ishat dazu zu bewegen, sie zu suchen und zurückzukaufen.

»Dreißig«, sagte ich und trieb in meiner Hektik den Preis selbst in die Höhe. »Vierzig ... Fünfzig.«

»In Ordnung.«

Und damit hatte ich ein Kind gekauft. So einfach lief das.

»Sagen Sie mir, wohin ich das Geld überweisen soll, und ich schicke es Ihnen sofort.«

Er gab mir alle notwendigen Informationen, die ich auf einem Einkaufszettel notierte, der mit einem Magnet an der Kühlschranktür befestigt war. Selbstverständlich musste ich ihm die Summe umgehend überweisen. Des Weiteren musste ich mit der Möglichkeit rechnen, dass er sich nicht an unsere Vereinbarung hielt und keinerlei Anstalten machte, Dathi zu finden.

»Das Flugzeug geht am Samstag«, erinnerte ich ihn. »In sechs Tagen also. Wissen Sie, wo ihr Visum und Ticket sind? Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt? Werden Sie sie finden können?«

Er schwieg kurz. »Welche Frage soll ich zuerst beantworten?«, erwiderte er schließlich.

»Das Ticket, wissen Sie, wo ...«

»Ja, ja, ich weiß, was zu tun ist. Ich warte, bis Ihr Geld eintrifft.« Dann hängte er auf.

Eine kleine Weile lauschte ich dem Knistern in der Leitung, ehe ich ebenfalls auflegte.

Zehn Minuten später hatte ich online mit Western Union die fünfzigtausend Rupien von meiner Kreditkarte auf Onkel Ishats Konto transferiert. Die Summe belief sich – inklusive der Überweisungsgebühr von zwanzig Dollar – auf 1140,31 Dollar, was ungefähr einem Drittel unserer monatlichen Hypothekenzahlung entsprach. Unsere vier Flugtickets nach Kalifornien hatten deutlich mehr gekostet. Für durchschnittliche Mittelschicht-Amerikaner wie uns war das eine relativ unbedeutende Summe. Im Grunde genommen war das so, als ließen wir das Wasser laufen, während wir telefonierten, ohne uns dabei bewusst zu sein, dass diese Unaufmerksamkeit in weiten Teilen der Welt als pure Geldverschwendung empfunden wurde. Dann wurde mir bewusst, dass meine Vergleiche vollkommen absurd waren. Als ich die Website schloss, bemerkte ich plötzlich, dass jemand im Zimmer aufgetaucht war.

Überrascht drehte ich mich um.

»Was treibst du?«

Ein verschwitzter Mac stand hinter mir und musterte mich und den Laptop. Da er freien Blick auf den Bildschirm hatte, war ihm bestimmt auch das Western-Union-Logo aufgefallen. Ich hörte, wie oben jemand den Wasserhahn aufdrehte, und schloss daraus, dass Jon duschen gegangen war.

»Wie lange stehst du da schon?«

»Hast du gerade tausend Dollar überwiesen?«

»Ja.«

»Wofür?«

Es laut auszusprechen, fiel mir zwar nicht leicht, aber ich war nicht in der Verfassung, ihm eine Lüge aufzutischen.

»Ich habe gerade ein Kind gekauft.«

»Was willst du damit sagen?«

»Chalis Tochter Dathi.« Notgedrungen begann ich ganz von vorn, schilderte ihm haargenau mein Gespräch mit Onkel Ishat, erzählte ihm von den Berichten über die sexuelle Ausbeutung indischer Kinder und malte Dathis Schicksal aus, falls wir die Gelegenheit nicht nutzten, die Chali für ihre geliebte Tochter von langer Hand vorbereitet hatte.

»Uns bleibt keine andere Wahl«, erklärte ich zu guter Letzt.

»Uns?« Er reckte das Kinn, was mir gar nicht gefiel. Er war sauer, fühlte sich in die Ecke gedrängt und würde mir mein Verhalten noch eine ganze Weile lang unter die Nase reiben. »Ich habe damit nichts zu tun.«

»Mac ...«

»Das ist Kidnapping.«

»Du siehst das falsch. Chali hat alles in die Wege geleitet. Es ist legal.«

»Bis Dathi in New York aus dem Flieger steigt. Weiß sie überhaupt, dass ihre Mutter tot ist? Wurde sie informiert?«

Ich schwieg.

»Was passiert, nachdem sie gelandet ist? Nehmen wir sie mit nach Hause und halten sie wie ... ein Haustier?«

Auch auf diese Fragen fiel mir keine Antwort ein.

»Du wirst unten am Strand erwartet. Alle haben Hunger und dachten, du wärst nach Hause gegangen, um einen Picknickkorb zu richten.«

»Das habe ich auch.«

Er starrte mich einen Moment lang an. »Sie gehört nicht zu uns, Karin. Sie gehört nicht zu dir. Du kannst Cece nicht ..« Er brach ab, bevor er »ersetzen« sagte.

Ich stand auf und wollte ihn in die Arme nehmen, doch er drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte ich wieder, wie ein Wasserhahn aufgedreht wurde, diesmal im Badezimmer am Ende des Flurs.

»Scheiß drauf«, sagte ich laut. Mit einem Mal hatte ich eine Mission. Jemand musste diese Aufgabe übernehmen, und wenn nicht ich, wer dann? Hätte ich über die entsprechenden Mittel verfügt, hätte ich alle Kinder der Welt gerettet.

Da mir das Geld für den großen Wurf fehlte, tat ich das, was in meiner Macht stand, und rettete wenigstens Arundathi Das.

Chalis einzige Tochter: ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

In diesem Augenblick erschien mir alles ganz einfach.

Nie und nimmer würde ich mich vor dem, was zu tun war, drücken.

Ich schrieb Dathi eine weitere Mail:

Dathi, ich habe eben mit deinem Onkel gesprochen. Alles ist in die Wege geleitet. Er wird dich suchen und wie geplant in den Flieger nach New York setzen. Versteck dich nicht länger. Geh zu ihm zurück. Vertrau uns, bitte. Vertrau mir.

Entsprach das, was ich schrieb, der Wahrheit? Würde Onkel Ishat seinen Teil der Vereinbarung einhalten? Oder das Geld nehmen und sie dennoch an einen Agenten verkaufen? Seinen Profit erhöhen? Nie wieder den Hörer abnehmen, wenn ich anrief? Seine Nichte als verzogene Göre abschreiben und keinen weiteren Gedanken an ihr Schicksal verschwenden?

Mich fröstelte.

Ich klickte auf Senden.

Während der nächsten vier Tage, bis zu unserem Rückflug am Donnerstag, lief ich jedes Mal hektisch zu meinem Handy, wenn der Klingelton verkündete, dass eine Mail eingegangen war. Bedauerlicherweise stammte keine der Nachrichten von ihr. Daher wusste ich nicht, ob sie meine letzte Mail gelesen hatte. Das Einzige, was ich aufgrund einer Bestätigung von Western Union mit Sicherheit wusste, war, dass Onkel Ishat sein Geld erhalten hatte.

* * *

Am späten Sonntagnachmittag kehrten wir nach Brooklyn zurück, in ein von Schatten und Zwielicht dominiertes Häusermeer, das sich von der sonnigen Küste, die wir hinter uns gelassen hatten, wohltuend unterschied. Ich brachte meine Mutter in ihr Apartment, stieg in das wartende Taxi und fuhr nach Hause. Auf den Dächern der Sandsteinhäuser lag frischer Schnee, und unser Block erinnerte an Lebkuchenhäuschen, die mit bunten Lichterketten geschmückt waren. Es herrschte eine unglaubliche Ruhe, die über diese eigenartige und traurige Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr hinwegtäuschte, wo man sich, erschöpft von den anstrengenden Vorbereitungen für die Feiertage, ausruhte und sich schon mal auf den Silvestertrubel einstellte.

Ben sprang aus dem Taxi, erstürmte den nächstbesten Schneeberg und rutschte auf den Gehweg hinunter, der von einer dünnen Schicht Neuschnee überzogen war. Als er Anstalten machte, die vereisten Stufen hochzusteigen, ließ Mac seinen Koffer fallen, packte Bens Kapuze und dirigierte ihn zum unteren Eingang. Ich folgte mit meinem Rucksack und dem anderen Koffer. Innerhalb der letzten Tage hatte das Zerwürfnis wegen Dathi bei uns ein unerträglich höfliches Schweigen hervorgerufen. Er nahm seinen Koffer auf, stellte ihn in den Flur, schnappte die Schaufel und begann, den Bürgersteig freizuschippen. Ich lehnte die Tür an und folgte Ben ins Haus.

Kaum hatte er sich von seinen matschigen Schuhen und der Jacke befreit, flitzte er in sein Zimmer und begann zu spielen. Ich ging nach oben, um die Post durchzusehen, die sich während unserer Abwesenheit angesammelt hatte. Draußen hörte man, wie Mac in gleichmäßigem Rhythmus den Gehweg vom Schnee befreite. Wie konnte ich ihn nur davon überzeugen, dass Dathis Rettung keine seltsame Laune, sondern eine Notwendigkeit war? Ich brauchte ihn auf meiner Seite. Auch wenn die Chance, dass sie an Neujahr in New York landete, meines Erachtens eher gering war, lag mir viel daran, dass sie, falls sie kam, von der ganzen Familie und nicht nur von Ben und mir willkommen geheißen wurde. Wegen der juristischen Probleme – ihre Mutter war tot, und sie kam unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ins Land – machte ich mir vorerst keine Sorgen. In erster Linie ging es mir darum, sie in die Vereinigten Staaten zu holen. Hoffentlich begriff Mac bald, wie unerlässlich und uneigennützig meine Mission war.

Bei einem orientalischen Restaurant in der Smith Street bestellte ich etwas zu essen, und während wir darauf warteten, rief ich Billy an. Falls La-a und George ihn immer noch verdächtigten, roch Billy inzwischen sicherlich den Braten.

»Bist du wieder daheim?« Er klang müde. Oder er hatte einen leichten Schwips.

»Wo bist du?«

»Sitze an der Bar im Brooklyn Inn.«

»Wie war dein Weihnachtsfest?«

»Den ersten Weihnachtsfeiertag habe ich bei meiner Schwester gefeiert. War ganz nett. Und bei dir?«

»Sehr schön. Ich bin gern mit meiner Familie zusammen. Wir haben viel Zeit am Strand verbracht.«

»Du hast mir doch eine Kiste Sonnenschein mitgebracht, oder?«

Ich hörte, wie Eiswürfel aneinanderstießen und er schluckte.

»Na, habt ihr den Killer endlich erwischt?«, fragte ich scherzhaft. Wäre der Mörder dingfest gemacht worden, hätten wir das auch in L. A. mitgekriegt.

»Könnte durchaus sein.«

Mir verschlug es fast die Sprache. »Wie bitte?«

»Wir nehmen Pat Scott ganz genau unter die Lupe.«

»Hat das Labor etwas gefunden, das ihn mit Chali in Verbindung bringt?«

»Das Ergebnis steht noch aus.«

»Inzwischen sind fast drei Wochen vergangen!«

»Tja, Weihnachten wird halt nur auf Sparflamme gearbeitet ...«

Er hatte recht: Um diese Jahreszeit dauerte alles doppelt so lange wie sonst.

»Jetzt kommt etwas, das dich freuen wird: Gestern konnten wir Antonio Neng, den Stalker, einbuchten. Wir haben einen Richter aufgetrieben, dessen Begeisterung für Weihnachten sich in Grenzen hält und der uns prompt einen Durchsuchungsbeschluss ausgestellt hat. In seiner Wohnung haben wir Waffen und ein Tagebuch gefunden, das sich wie eine Todesliste liest.«

»Banker?«

»Durch die Bank.« Er kicherte.

»Kann die Spurensicherung ihm nachweisen, dass er im Haus der Dekkers war?«

»Wie schon gesagt, wir müssen uns da noch etwas gedulden. Die Labortypen erholen sich gerade von Weihnachten und sind vermutlich schon eifrig dabei, ihre Silvesterpartys zu planen.«

»Wie geht es Abby Dekker?«

»Immer noch im Koma.«

»Tut mir leid.«

»Ja, mir auch.«

»Schaut dieser Pfaffe immer noch bei ihr vorbei und liest ihr vor?«

»Tag für Tag.«

»Bestimmt kommt sie bald wieder zu Bewusstsein.« Ich hielt kurz inne. »Nun, ich habe auch Neuigkeiten«, sagte ich und erzählte ihm von Dathi.

»Wow, Karin. Mann ... echt klasse.« Wieder klickende Eiswürfel und Schluckgeräusche.

»Danke. Um ehrlich zu sein, kann ich etwas Unterstützung gut gebrauchen.«

»Dann ist Mac also nicht mit an Bord, hm?«

»Er redet von Kidnapping.«

Billys schallendes Gelächter wirkte ansteckend.

»Hm, du musst tun, was du tun musst, Karin. Und es sähe dir gar nicht ähnlich, wenn du dich einfach zurücklehnst und abwartest.«

Auch wenn aus ihm unter Umständen der Schnaps sprach, tat mir seine Aufmunterung in der Seele gut.

»Schau doch morgen mal bei uns vorbei«, bat ich ihn.

»Bin den ganzen Tag beschäftigt.«

»Dann halt nach der Arbeit ... zum Abendessen.«

»Geht nicht. Ich habe um acht Uhr einen Termin beim Psychiater.« Er sprach das Wort so aus, als käme ihm die Galle hoch, was meiner Freude jedoch keinen Abbruch tat.

»Na, wie wär’s dann mit Samstag? Da sind wir noch frei.«

»Ich melde mich.«

Ich legte auf und trat ans Fenster. Mac, der den Gehweg und die Fläche vor der Eingangstür im Erdgeschoss freigelegt hatte, schaufelte nun Schnee von der Vordertreppe. Ohne groß zu überlegen, öffnete ich die Haustür und verkündete: »Ich habe eben mit Billy gesprochen. Er ist auf einen Drink im Brooklyn Inn und hat gefragt, ob du eventuell Lust hast, zu ihm zu stoßen.« Das war faustdick gelogen, aber wen kümmerte das? Es würde den beiden Männern guttun, sich zu treffen, und außerdem konnte Billy bei der Gelegenheit ein gutes Wort für mich einlegen.

Mac lehnte die Schaufel ans Geländer und klatschte in die Hände, damit sich der Schnee von den Handschuhen löste. »Danke. Ich mache mich auf den Weg, sobald ich hier fertig bin.«

Kurze Zeit später machte Mac sich auf den Weg zum Brooklyn Inn, während Ben und ich uns an den Küchentisch setzten und zu essen begannen. Anschließend badete ich Ben, las ihm vor und brachte ihn ins Bett. Ich schmökerte im Schlafzimmer in einem Buch, als ich endlich hörte, wie unten die Tür aufging.

»Karin!« Mac, der wesentlich fröhlicher klang als vor ein paar Stunden, stapfte ein paarmal energisch auf der Vordertreppe auf und eilte den Flur hinunter. Besorgt setzte ich mich auf und drehte den Kopf erwartungsvoll Richtung Tür.

»Was ist denn?«

Von der Kälte war sein Gesicht gerötet, und seine Augen funkelten. Obwohl er zwar ein paar Drinks intus hatte, war er nicht betrunken.

»Morgen holen sie sie aus dem künstlichen Koma. Billy hat eben den Anruf erhalten.«

»Wen?«, entfuhr es mir. Doch natürlich wusste ich, von wem er sprach. Es gab nur eine Person, deren Aufwachen solch eine Begeisterung rechtfertigte: Abby Dekker.