KAPITEL 10
Am Dienstagmorgen stand Billy in aller Herrgottsfrühe im Flur, und trotz geschlossener Haustür konnte man deutlich sehen, dass kleine Atemwolken aus seinem Mund aufstiegen. Seit nunmehr zwei Jahren ging er zweimal wöchentlich mit Mac zum Basketball, und immer trug er das gleiche Outfit: eine graue Jogginghose und uralte Turnschuhe. Während er auf Mac wartete, der unten mit seiner neuen Assistentin Star redete, die sich verspätet hatte, lief Billy auf der Stelle, um sich aufzuwärmen.
»Hoffentlich dauert das nicht ewig. Sie hat erst gestern angefangen und weiß noch nicht genau, was zu tun ist.« Ich neigte mich zu ihm hinüber und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Unter uns gesagt, wirkt sie ein bisschen unzuverlässig.«
»Hast nicht du das Einstellungsgespräch geführt?«
»Ups.« Ich zuckte mit den Achseln. »Lust auf einen Kaffee, bis Mac fertig ist?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Nein danke.«
»Lass uns wenigstens ins Wohnzimmer gehen und uns setzen.«
Er folgte mir in den angrenzenden Raum und blieb in der Zimmermitte stehen. Ich machte es mir auf dem Sofa bequem, wo mein Laptop lag. Bevor Billy aufgekreuzt war, hatte ich im Netz nach einem neuen Babysitter gesucht. Mir war immer noch schleierhaft, wie ich Ben die Neuigkeiten beibringen sollte, ohne ihm das Herz zu brechen. Bislang hatte ich ihn mit der Ausrede abgespeist, Chali könnte vorerst nicht mehr zu uns kommen, woraufhin er mich bat, sie sofort anzurufen. Mir fiel nichts anderes ein, als schnell das Thema zu wechseln. Da diese Strategie augenscheinlich nicht mehr lange funktionierte, mussten wir ihm bald, sehr bald erzählen, dass sie nie mehr kommen würde.
»Was Neues von Dathi gehört?«, fragte Billy.
»Nichts«, antwortete ich knapp, wohl wissend, dass auch er sich sehr um sie sorgte.
»Übrigens, es gibt eine neue Entwicklung in unserem Fall.«
Wie von der Tarantel gestochen richtete ich mich auf. »Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?«
»Entspann dich, ich bin ja gerade dabei, dich einzuweihen. Frauen!«
»Jetzt geht das wieder los.«
»War nur ein Scherz.« Er zuckte mit den Achseln und schenkte mir ein Lächeln.
Ich ließ mich nach hinten fallen und unterdrückte ein Grinsen. »Schieß los, Billy.«
»Gestern Abend ist ein neuer Typ auf dem Radar aufgetaucht: Antonio Neng. Upper East Side, Privatier. Ich muss mich korrigieren: verärgerter Privatier. Neng hat vier Banker, unter anderem Reed Dekker, belästigt.
Bitterböse E-Mails geschrieben und Dekker als ›Bonzenbanker‹ bezeichnet, der ›sein Leben ruiniert hat‹. Und so weiter und so fort. Und Neng hat sich Sonntagabend in Brooklyn rumgetrieben.«
»Zeugen?«
»Dreißig Leute haben ihn gesehen. Er hat sich den Hintern abgefroren bei einem Barge-Musikkonzert auf dem East River, unten bei der Brooklyn Park Bridge. Wir haben das überprüft: Er war allein. Alle, die ihn kennen, behaupten, er hätte nichts für klassische Musik übrig, sondern stünde auf Hip-Hop, Rap, Punk.«
»Du hast gesagt, er wäre Privatier ...«
»Na ja, als das bezeichnet er sich auf seiner Facebook-Seite. Vor zwölf Jahren hat er seine Reinigung verkauft. Anschließend investierte er den Erlös und machte ein kleines Vermögen, das er 2008 größtenteils verloren hat. Nun arbeitet er wieder, nur dass ihm die Reinigung diesmal nicht gehört. Er steht also hinter der Theke und nimmt dreckige Klamotten in Empfang, was ihm anscheinend gar nicht gefällt.«
»Belästigt er die Leute nur, oder ist er ein richtiger Stalker?«
»Das müssen wir noch klären. Sein Brooklyn Besuch deutet unserer Meinung nach auf Stalking hin, auch wenn er sich wohl erst in einem Anfangsstadium befindet. Bisher tischt er uns Ausreden auf, warum er die ausgetretenen Pfade verlassen hat. Wir werden sehen. Dash ist gerade an ihm dran, und nach dem Basketballspiel werde ich sie dabei unterstützen. Wo bleibt denn nur Mac?« Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr.
Ich lief zur Treppe und brüllte: »Billy wartet!«
»Nur noch eine Minute!«, rief Mac nach oben.
»Also ... was denkst du?« Ich kehrte auf die Couch zurück. Billy, der das Spiel mit Mac nun offenbar in den Wind geschrieben hatte, setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl und zog den Reißverschluss seiner Jacke halb auf. »Fahndest du auch immer noch nach diesem Kerl von der Nevins Street, oder kümmerst du dich ausschließlich um den Dekker-Fall?«
»Dass da ein Zusammenhang besteht, scheint mir recht weit hergeholt. Dash, ich und alle anderen Mitglieder der SOKO – wir verlassen uns auf unser Bauchgefühl, und das sagt, dass die beiden Fälle nur insofern etwas miteinander zu tun haben, als dass Abby am falschen Ort angefahren wurde.«
Ich betrachtete ihn schweigend und versuchte, seine Ausführungen zu verarbeiten.
»Nicht dass es für so etwas den richtigen Ort gibt, aber du weißt, was ich meine.« Ein Sonnenstrahl fiel direkt auf Billy, der sein Auge zukniff. »Mann, hier ist es plötzlich so hell, dass ich dich auf der Couch kaum erkennen kann.«
»Ich bin noch da.«
»Karin, wenn es dich nicht gäbe, wüsste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Das ist mein voller Ernst.«
Ich schmunzelte. »Danke, aber ich weiß nicht so genau, wie du das meinst.«
»Ich habe mich gestern mit jemandem von POPPA getroffen. Er hat mir versprochen, mich erst mal in eine Tai-Chi-Gruppe zu stecken. Nach dem Spiel soll ich dorthin kommen.«
»Das wird dir guttun.«
»Kann sein. Nur bin ich eh schon rund um die Uhr beschäftigt, und die Tage sind einfach zu kurz.«
»Das empfinden alle so. Du musst dir einfach die Zeit geben, um zu -«
»Wie viele Leute kennst du, die neben allen anderen Aufgaben noch einen Serienmörder kriegen müssen?« Er stand unvermittelt auf und steckte die Hände in die Taschen. Durch den Stoff der Jogginghose konnte man sehen, wie er die Hände zu Fäusten ballte.
»Ich will ja nur sagen, dass Zeit relativ ist«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. »Wenn du einen Flashback kriegst, einen Aussetzer hast und abtauchst ... was passiert dann mit deiner Zeit?«
»Sie verpufft.«
»In Grunde genommen ist sie doch verloren, oder? Sieh es doch einfach so: Die Tai-Chi-Stunden ersetzen die außerplanmäßigen Halluzinationen.«
Auf seinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit, und die Hände in seinen Taschen entspannten sich. »Er hat mich auch mit einem Psychiater zusammengebracht, der auf Fälle wie meinen spezialisiert ist.«
»Was hast du denn?«
»Als ob du das nicht wüsstest.«
»Ich habe es dich noch nicht laut sagen hören. Vielleicht wäre das eine gute Übung, damit du offen und ehrlich an die Therapie rangehst. Anderenfalls wird das nicht funktionieren.«
»Weißt du, was, Karin? Du solltest Therapeutin werden.«
»Das will ich aber nicht.« Ich legte mich auf dem Sofa nach hinten, starrte ihn an und wartete. »Los, sag es!«
»Posttraumatisches Belastungssyndrom. Zufrieden?« Er sprach jedes Wort so aus, als hätte er einen schweren Stein im Mund.
»Glaubst du allen Ernstes, ich wäre jemals zufrieden?«
Wir brachen in schallendes Gelächter aus, und just in dem Moment kam Mac in Basketballshorts, einem T-Shirt und offener Winterjacke ins Wohnzimmer. »Fertig?«
Billy erhob sich und verließ mit Mac das Zimmer.
Ich rannte den beiden hinterher. »Mac, willst du wirklich in Shorts rausgehen?«
»Keine Zeit, mich umzuziehen, Karin.«
»Du hast was an den Bronchien!«
»Schnee von gestern.« Er fischte die Schlüssel aus der Schale neben der Haustür.
Es ging ihm zugegebenermaßen besser, was mich jedoch nicht wirklich beruhigte. »Man braucht nur einen Funken gesunden Menschenverstand, um zu wissen, dass man es nicht übertreiben darf und sich warmhalten soll.«
Billy lachte. Mac küsste mich auf die Wange. Und dann waren sie weg.
Gegen die gleißend helle Sonne zog ich die Jalousien halb herunter, setzte mich mit dem Laptop aufs Sofa und rief die zahlreichen Bewerbungen von Babysittern ab, die mein Postfach verstopften. Die Auswahl wäre mir leichter gefallen, hätte ich nur ein paar Antworten erhalten. Die Fülle der Mails überforderte mich. Du hast einen Fehler gemacht, schalt ich mich stumm, Chali kann durch niemanden ersetzt werden.
Unten gab es einen dumpfen Knall, und dann hörte ich, wie Glas zersprang.
»Ach, Mist«, stöhnte Star.
Ich stand auf und sah nach ihr. Sie stand im unteren Flur und lehnte an Bens Bildern. An der gegenüberliegenden Wand, wo wir Familienfotos aufgehängt hatten, fehlten zwei Bilderrahmen. Das zersprungene Glas auf einem Schnappschuss von Mac und mir – wir waren damals gerade auf Hochzeitsreise in Griechenland gewesen – erinnerte an ein Spinnennetz. Auf dem Foto trug Mac wie üblich ein T-Shirt, das die vielen Narben verdeckte, die er einem ganz üblen Schurken zu verdanken hatte, und ich war sichtlich hochschwanger.
Bei der anderen Aufnahme war das Glas noch intakt, aber eine Ecke vom Rahmen war gebrochen.
»Sind Sie in Ordnung?«, fragte ich Star.
»Ich habe eine Pirouette gedreht und das Gleichgewicht verloren.« Ihr kurzes blondes Haar war verstrubbelt, der Lippenstift verschmiert.
»Eine Pirouette?«
»Ich bin Tänzerin ... Ich möchte Tänzerin werden, wollte ich sagen.«
»Ich dachte, Sie hätten in einer Investmentbank gearbeitet.« Und zwar drei Jahre, falls ich mich richtig an ihren Lebenslauf erinnerte.
»Irgendwie muss man ja sein Geld verdienen.« Sie grinste verlegen. Das blonde Haar schmiegte sich an ihr schmales Gesicht. »Außerdem bin ich zwanghaft ehrlich, damit Sie’s gleich wissen.«
»Sehr schön.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Sollen wir hier jetzt Ordnung schaffen?«
»Darum kümmere ich mich. Sagen Sie mir nur, wo ich den Besen finde.«
Gerade in dem Moment, als ich sie in die Küche führte und ihr die Abstellkammer zeigte, klingelte das Telefon.
»Ich gehe ran!«
»Nein, nicht nötig. Hier.«
Mit Besen und Kehrschaufel bewaffnet, stürmte sie nach unten.
Ich holte einmal tief Luft und nahm nach dem vierten Läuten ab.
»Mrs. Schaeffer?«
»Am Apparat.«
»Ich rufe wegen Ihrer Referenz an«, sagte ein Mann.
»Falls es um den Job geht – der ist schon vergeben.« Inzwischen hatte ich meine Zweifel, ob diese Bemerkung in naher Zukunft auch noch zutraf.
»Job?«
»Rufen Sie nicht wegen einem unserer Inserate an?«
»Chali Das, meine Mieterin, hat Sie bei der Anmietung der Wohnung als Referenz angegeben.«
Augenblicklich musste ich an die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Woche denken, und es fröstelte mich auf einmal. Vor meinem geistigen Auge sah ich sie mit dieser grauenvollen Stichwunde auf der Bahre liegen.
»Ja, Chali.« Mehr wusste ich nicht zu sagen.
»Jemand muss vorbeikommen und das Apartment ausräumen. Die Polizei ist hier laut eigener Aussage fertig. Ich muss die Wohnung wieder vermieten, sonst kann ich die Hypothek nicht bedienen.«
Die Vorstellung, ihre Sachen durchzugehen, befremdete mich. Ich nahm kurz den Hörer vom Ohr und versuchte, mich zu sammeln. »Was halten Sie davon, wenn ich morgen Vormittag komme?«, schlug ich schließlich vor.
»Morgen passt mir gut. Spätestens Freitag. Am Wochenende möchte ich die Wohnung neuen Interessenten zeigen.«
Ich legte auf und rührte mich nicht von der Stelle. Nach ein paar tiefen Atemzügen holte ich meine Handtasche hervor, kramte Detective Vargas’ Visitenkarte heraus und rief ihn an, um mir von ihm bestätigen zu lassen, dass er und seine Kollegen den Tatort tatsächlich freigegeben hatten.
»Ja«, erklärte Vargas. »Wir sind dort durch.«
»Wie läuft die Ermittlung?«
»Halten Ihre Kollegen vom 84. Sie nicht auf dem Laufenden?«
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Und?«
»Was auch immer Billy und Lalala Ihnen zugeflüstert haben, entspricht den Tatsachen. Wir unterstützen uns gegenseitig, und sie wissen alles, was ich weiß.«
»Danke.« In Wahrheit war ich ihm natürlich nicht dankbar. Ich hielt ihn für überheblich und unhöflich, außerdem gab er mir das Gefühl, überflüssig zu sein.
»Gern geschehen.« Er meinte das auch nicht ernst.
Wir legten gleichzeitig auf.
* * *
Ein zahnloser Bettler mit Nikolausmütze baute sich in der U-Bahn vor mir auf und hielt mir seine Hand hin: eine schrundige Kartographie seiner Fehlschläge, vergilbt von seiner Sucht, trocken und spröde, mit durchscheinenden braunen Hautschuppen auf aufgedunsenem pinkfarbenem Fleisch.
»Für die Kinder«, murmelte er und suchte meinen Blick, während ich mich beharrlich weigerte, ihm ins Gesicht zu sehen. Hoffentlich log der Mann und hatte keine Kinder. Ich griff in meine Tasche, fand eine Dollarnote und gab sie ihm, nur damit er weiterging. Er zwängte sich durch den Waggon zu den nächsten Fahrgästen, bis nur noch ein übler Geruch an ihn erinnerte.
Ein Stück weiter stand eine junge Frau mit roter Jacke, roter Mütze und rotem Schal, die mich anlächelte. Ich lächelte zurück. Neben ihren Füßen entdeckte ich vier überquellende Einkaufstüten. Aus einer ragten zwei Rollen buntes Geschenkpapier, die mich den Mann, den Geruch und diese traurige Begegnung vergessen ließen.
Chalis Haltestelle war die nächste. Ich stieg aus.
Heute war es sonniger und wärmer als an den vergangenen Tagen. Auf der 4th Avenue schmolzen die Schneeberge, die uns der Sturm vom Sonntag beschert hatte. Durch das ständig von den Vordächern und Baugerüsten tropfende Wasser hatte ich das Gefühl, es würde regnen, obgleich der Himmel vollkommen klar war. Die Sonne blendete mich, als ich in Chalis Straße bog. Ich hob die Hand, um meine Augen abzuschirmen, und wäre beinahe mit zwei Jungen zusammengestoßen, die laut miteinander redeten und sich gegenseitig Karten zeigten. Dennoch waren sie geistesgegenwärtig genug, um mir in allerletzter Sekunde auszuweichen.
Einen Moment lang blieb ich in dem Schatten stehen, den Chalis Haus warf, und genoss die Ruhe. Aus dem Gebäude nebenan kam eine Frau in einem Mantel, unter dem ein Satinsaum hervorschaute. Sie trug rote Lederstöckelschuhe, und als sie an mir vorbeiging, sah ich, dass ihr Lippenstift und Nagellack farblich auf die Schuhe abgestimmt waren.
Man hätte fast meinen können, alles wäre beim Alten.
Als wäre hier vor einer Woche kein Mord geschehen.
Als hätte Chali niemals existiert.
Und die traurige Wahrheit war: Sie existierte jetzt tatsächlich nicht mehr.
Ich holte ihre Schlüssel aus meiner Tasche, betrat den nach Ammoniak riechenden Flur und ging nach oben. Tag für Tag war Chali diese Stufen hochgestiegen. Schade, dass Dathi nun nicht mehr mit eigenen Augen sehen konnte, wie ihre Mutter gewohnt hatte. Ich nahm mir vor, ihr das Apartment in allen Einzelheiten zu beschreiben: die Einrichtung, den Geruch, die Geräusche im Treppenhaus und in der Wohnung, die Anzahl der Zimmer, die Farbe der Wände. Ich kämpfte gegen die aufkeimende Verzweiflung an: Ich musste unbedingt mit Dathi sprechen. Und auch wenn ich es gar nicht erwarten konnte, Antwort von ihr zu erhalten, so schwand doch langsam meine Hoffnung, von ihr zu hören.
Ironischerweise war die Tür diesmal richtig zugesperrt. Wie unsinnig war das denn, dachte ich, drehte den Schlüssel und trat ein.
Das Erste, was mir auffiel, war der metallische Geruch von getrocknetem Blut, der in der Luft hing. Ein Blick ins Wohnzimmer und durch die einen Spaltbreit offenstehende Badezimmertür bestätigte meine Vermutung, dass hier niemand sauber gemacht hatte.
Staubkörnchen, die ich beim Betreten des verlassenen Apartments aufwirbelte, tanzten in den durch die Wohnzimmerfenster einfallenden Lichtstrahlen. Daran, dass die Polizisten hier das reinste Chaos hinterlassen hatten, nahm ich keinen Anstoß. Ich war ja nicht gekommen, um aufzuräumen. Ich sollte Klarschiff machen. Ich legte meinen Mantel ab, besorgte Mülltüten und machte mich daran, die Dinge auszusortieren, die ich mitnehmen wollte. In einer kleinen Schale auf dem Fensterbrett stand ein halb heruntergebrannter Räucherkegel, den ich anzündete. Danach schaltete ich die Stereoanlage an und ließ die CD laufen, die schon im Player lag. Dass sie Abbey Road von den Beatles gemocht hatte, überraschte mich zugegebenermaßen. Doch je länger ich ihre Habseligkeiten durchsah und je mehr ich so über Chalis Leben und Vorlieben erfuhr, desto bewusster wurde mir, dass ich sie eigentlich kaum gekannt hatte.
Nach dem Manuskript zu urteilen, das mir bei meinem letzten Besuch aufgefallen war, hatte sie sich als Dichterin versucht. Ich überflog ein paar Verse und erfuhr, dass die fest im christlichen Glauben verhaftete Chali eine ketzerische Ader besessen hatte. Ihre Einwände gegen die traditionelle Lehre waren praktischer, nicht theoretischer Natur, und ihre auf Englisch verfassten Gedichte legten den Schluss nahe, dass sich ihre Einstellung gegenüber der Gesellschaft seit ihrer Ankunft in Amerika verändert hatte. Die Ballade Arundathi, benannt nach ihrer Tochter, erregte meine Neugier.
Ihretwegen sage ich:
Bitte sie nicht, die Augen zu öffnen,
ehe sie
dazu bereit ist.
Ihretwegen sage ich:
Versuch nicht, sie zu erreichen,
ehe sie
zu dir kommt.
Ihretwegen sage ich:
Beachte sie bitte nicht
Und lass uns beide
wiederauferstehen.
Da ich weder Lyrikerin war noch Gedichte las, stand mir kein Urteil zu. Sie bediente sich einer knappen, einfachen Sprache. Ob dieses Werk gut war, lag nicht in meinem Ermessen, aber irgendetwas daran rührte mich. Das Gedicht handelte von Chalis Leben in Indien, das sie hinter sich gelassen hatte, und verlieh ihrer Hoffnung Ausdruck, Dathis Kindheit möge nicht so unvermittelt und grausam enden wie ihre eigene. Mütter wünschen sich nun mal für ihre Kinder nur das Beste, und Chali bildete da keine Ausnahme.
Ihre ordentlich niedergeschriebenen Werke steckte ich in einen großen Briefumschlag, den ich in der Schreibtischschublade fand. Dathi, die ebenfalls Gedichte schrieb, würde die Arbeiten der Mutter sicherlich gern lesen.
Begleitet von Something (in the way you move) und Maxwell’s Silver Hammer, machte ich mich an die Arbeit.
Zuerst packte ich alles ein, was mir wichtig erschien: den Umschlag mit den Gedichten, drei aufwendig gearbeitete Seidensaris in Smaragdgrün, Rubinrot und Gold, eine wunderhübsche, türkis und orange emaillierte Haarspange, ein paar Zierkissen, die auf dem Bett lagen, ein paar traditionelle Ledersandalen, vermutlich noch aus Indien, sowie eine kleine, abgegriffene Bibel, in die sie ihren Namen geschrieben hatte. Und dann verstaute ich noch zwei in buntes Papier gewickelte Weihnachtsgeschenke, auf denen Dathis Name stand, in der Tüte.
Anschließend legte ich Benny Goodman ’s Greatest Hits auf und nahm mir das zusammengewürfelte Geschirr in Chalis kleiner Küche vor. Inspiriert von Goodmans Klarinette, schweifte ich in Gedanken ab und gab mir schließlich einen Ruck. Ich musste mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und durfte nicht zulassen, dass die vielen schrecklichen Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit mich von meinen Pflichten ablenkten.
Erneut hielt ich mir die schlimmen Vorfälle vor Augen:
Die immer noch nicht identifizierte Tote auf der Nevins Street.
Abby Dekker, die im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte und an deren Bett der Pfarrer ihrer Eltern Wache hielt.
Chali, die in ihrem eigenen Blut badete.
Dathi im fernen Indien, urplötzlich verwaist.
Antonio Neng, der Stalker, der Banker hasste.
P-patrick S-scott. Vor allem Patrick Scott. Wann immer ich an diesen Mann und seine abwegigen Gelüste dachte, seine Suche nach etwas anderem, schlug mein Herz schneller.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Chalis Erfahrungen als Kinderbraut – ein Schicksal, das Dathi möglicherweise drohte, wenn sie zu lange in Indien blieb -, Patrick Scotts Lust auf etwas anderes gerade in dem Moment, als er die elfjährige Abby allein auf der Nevins Street erblickte, verschwundene Mädchen, ein Serienmörder, der Prostituierte tötete – alles nur Teile eines einzigen Puzzles.
Daran, dass er schuldig war, hatte ich keinerlei Zweifel: sein Doppelleben, seine Gewissensbisse, seine Wut, der Umstand, dass er wie alle Freier seine gewalttätige Natur an Frauen (und Mädchen) auslebte, die er gleichzeitig begehrte und hasste. Sollte es sich dabei nicht um expliziten Selbsthass handeln – was war es dann?
Keine Frage, er war der Prostituiertenmörder.
Falls mein Instinkt mich nicht trog und er der Killer war, arbeitete er allein. Damit war das größere Problem noch nicht gelöst. Wie und wo wurden die verschwundenen Mädchen verhökert? Warum kamen sie später auf so brutale Weise zu Tode? Wer hatte die Dekkers auf dem Gewissen? Und Chali brachte es auch nicht zurück.
Doch selbst wenn Antonio Neng die Dekkers umgebracht hatte und Patrick Scott die Prostituierten – wer war dann für Chalis Tod verantwortlich? Schließlich hatte sie ihren Körper nicht verkauft; und dennoch war sie wie all die anderen gestorben. Wie passte sie in dieses Puzzle? Ihr Tod ergab keinen Sinn.
Ratlos, aufgewühlt und untröstlich rutschte ich an der Küchenwand zu Boden, bettete den Kopf auf die Knie, schlang die Arme um die Beine und weinte.
Nach einer ganzen Weile gelang es mir, mich trotz meiner Erschöpfung zu erheben. Auf den Holzdielen in einer Ecke funkelte der Ring, der Detective Vargas gehörte. Ich hob ihn auf und steckte ihn in meine Hosentasche.
Nachdem ich andere Musik aufgelegt hatte, stürzte ich mich wieder auf die Arbeit. Die Zeit verging wie im Flug. Mac hatte Star gebeten, Ben aus dem Kindergarten abzuholen, was mich leicht beunruhigte. Tapfer unterdrückte ich meine Bedenken. Begleitet von Vivaldis Vier Jahreszeiten, sortierte ich aus, packte Chalis Sachen in Tüten, die für den Müll oder für einen Secondhandladen bestimmt waren. Am Ende blieb von ihr noch der Duft von Sandelholz, der den metallischen Blutgeruch verdeckte.
In allerletzter Minute warf ich noch die Abbey Road-CD und das halb volle Schächtelchen mit den Räucherkegeln in eine Tüte, verließ das Apartment und schloss die Haustür zu. Von nun an existierte ihr Heim nur noch in der Erinnerung von den Menschen, die sie gekannt hatten.
* * *
Das 72. Polizeirevier war nur ein paar Blocks entfernt, und so beschloss ich, Detective Vargas einen Besuch abzustatten und ihm den Ring zu bringen. Dies machte weitaus weniger Umstände, als ihn in einen Briefumschlag zu stecken und mit der Post zu versenden oder mit Vargas telefonisch einen Abholtermin zu vereinbaren. Für den Fall, dass er nicht da war, konnte ich das Schmuckstück einem seiner Kollegen aushändigen.
Vor dem Revier, das sich in einem gedrungenen zweistöckigen Gebäude an der Kreuzung 4th Avenue und 29th Street befand, parkten mehrere blau-weiße Streifenwagen schräg zur Bordsteinkante, was das Wegfahren erleichterte. Drinnen herrschte die gleiche Atmosphäre wie auf vielen Dienststellen: Die Luft roch abgestanden, jeder Gegenstand war von einer dünnen Staubschicht überzogen, und überall schwirrten Polizisten herum. Und dann war da noch dieses unerträgliche Wechselspiel zwischen lähmender Langeweile und hektischer Aktivität. Bei meinem Eintreffen führten zwei uniformierte Beamte gerade einen blutjungen Latino mit zartem Bartflaum auf der Oberlippe in Handschellen in eine nahegelegene Arrestzelle. Ich ging zum Empfang und wartete, bis jemand von mir Notiz nahm.
Der Junge warf mir einen Blick zu. »Sind Sie Anwältin?«, fragte er, als handle es sich um zwei Worte.
»Nein.«
»Bulle?«, knurrte er.
»Gast.«
Endlich bemerkte mich der diensthabende Polizist. »Kann ich Ihnen helfen?«
Nachdem ich mein Anliegen vorgetragen hatte, telefonierte er kurz und stellte mir dann noch ein paar Fragen. Dann schickte er mich die Treppe neben dem Foyer hoch und trug mir auf, in der zweiten Etage den linken Flur hinunterzugehen.
Ich landete in einer Art Besprechungsraum mit niedriger Decke und einem Tisch in der Mitte, der Bilder von übernächtigten Polizisten heraufbeschwor, die an unlösbaren Fällen saßen. Auf den an den Wänden aufgehängten Fotos waren Chalis Wohnung und ihr aufgedunsener, aufgeschlitzter Körper abgelichtet. Entsetzt wandte ich mich ab. So wollte ich sie auf keinen Fall in Erinnerung behalten. Auch ohne diese Gedächtnisstütze hatte ich große Mühe, diese Bilder zu vergessen. Ich blickte in eine Ecke, wo eine Staffelei mit einer abwischbaren Tafel stand, auf der jemand alle zum Fall gehörigen Details notiert hatte.
Erst danach bemerkte ich George Vargas am anderen Ende des Tisches, der von meinem Erscheinen sichtlich überrascht war und nun aufstand. Neben ihm saß eine Frau, bei der es sich, wie ich erst bei genauerem Hinsehen erkannte, um La-a handelte.
»Was treibst du denn hier?«, fragte ich sie verblüfft.
»Das fragst du mich?« Sie erhob sich ebenfalls und schlug nun einen freundlicheren Ton an: »Ich wusste nicht, dass du kommst.«
George kam um den Tisch herum und lächelte verkrampft. »Karin ...«
»Schaeffer«, erinnerte ich ihn.
»Was führt Sie her?«
Ich zog den Ring aus der Hosentasche. »Den habe ich in Chalis Wohnung gefunden. Wie ich Ihnen bereits erzählte, hat mich ihr Vermieter angerufen und mich gebeten, ihr Apartment leer zu räumen. Er sucht schon einen neuen Mieter für die Wohnung.«
»Super.« Er nahm den Ring und steckte ihn an den kleinen Finger. »Als meine Freundin hörte, dass ich ihn verloren habe, war sie gar nicht erfreut. Danke.«
»Keine Ursache.«
La-a gesellte sich zu uns. Aus ihrem derangierten Äußeren schloss ich, dass sie wahrscheinlich schon eine ganze Weile auf dem Revier war und ohne Pause durchgearbeitet hatte. Im hinteren Teil des Raumes beugten sich drei Personen, von denen eine sich Notizen machte, neugierig über einen Computermonitor.
»Dann ist es jetzt also offiziell – die Fälle hängen zusammen«, schlussfolgerte ich. »Seit wann kooperieren eure Teams?«
»In manchen Punkten arbeiten wir zusammen, in anderen nicht.« La-a nahm mich am Ellbogen und wollte mich zur Tür dirigieren, wogegen ich mich sträubte.
»Heißt dies, dass Chalis Messer mit den anderen identisch ist?« Ich hasste mich dafür, dass ich es so formulierte: als hätte diese Waffe, mit der sie getötet worden war, ihr gehört.
»Danke für deinen Besuch, Karin.«
»Wo steckt Billy?«
Ich drehte mich um und schaute mich unnötigerweise um. Wäre er da gewesen, hätte ich ihn mit Sicherheit sofort bemerkt; jemanden wie ihn übersah man nicht. Nun fiel mir etwas auf, das mir vorhin entgangen war: Auf der Tafel waren unter der Überschrift VERDÄCHTIGE Patrick Scott und Antonio Neng aufgelistet. Und auch Billys Name.
Verdächtige?
»He!«, entfuhr es mir ungewöhnlich schrill. »Was läuft hier?«
»Nichts, Karin.« La-a verstärkte ihren Griff um meinen Ellbogen.
Ich riss mich los. »Wieso steht da Billys Name?«
Wir drehten uns einander zu, starrten uns wütend an. Ihre großen dunklen Augen, deren Weiß von winzigen roten Äderchen durchzogen war, fixierten mich.
George trat zu uns heran. »Dieser Fall ist ziemlich tückisch. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
»Glaubt ihr allen Ernstes, Billy hätte damit etwas zu tun? Dash, er leidet unter PTBS. Das weißt du doch, oder?«
George warf La-a einen fragenden Blick zu. »Stimmt das?«
»Könnte durchaus was dran sein«, murmelte sie.
»Jedes Mal, wenn etwas passiert, verhält er sich eigenartig und ...« Sie brach ab, denn George wandte sich abrupt ab, ging zur Tafel und wischte mit einer Fingerspitze Billys Namen weg.
»PTBS, Mann. Das ist hart. Letztes Jahr hat sich einer von uns deshalb das Leben genommen.« George schüttelte den Kopf, als wäre er zutiefst enttäuscht, und wandte sich an La-a. »Ich sagte ja bereits, für wie abwegig ich deine Theorie halte. Falls noch ein Kollege Suizid begeht, will ich nicht dafür verantwortlich sein.«
»Tut mir leid, ich dachte nur ...« Dass sie auch diesen Satz nicht beendete, war eher untypisch für sie. »Na schön, dann ermitteln wir in diese Richtung eben nicht weiter.«
»Richtig, denn ich habe keinen Bock, noch mehr von meiner kostbaren Zeit zu verschwenden.« George wischte den tintenschwarzen Finger an seiner Hose ab.
Ich konnte mich nicht des Eindrucks erwehren, einer Aufführung beizuwohnen, wo die Schauspieler so lange improvisierten, bis das Ende meinen Wünschen entsprach. Gleichzeitig hoffte ich inständig, dass sie tatsächlich meinen Freund nicht länger verdächtigten. Billy, den ich seit Ewigkeiten in- und auswendig kannte, war kein Mörder. Dessen war ich mir absolut sicher.
»Du und Billy, ihr seid Partner«, erinnerte ich La-a. »Ihm einen Mord zu unterstellen ist vollkommen irre.«
»Ach ja? Und wieso hat er dann nicht mit mir über das PTBS gesprochen? Jedes Mal wenn wir an einem Tatort sind, flippt dieser Typ aus. Was soll der Scheiß? Warum legt er denn seine Karten nicht offen auf den Tisch, hm?«
»Er hat Angst vor der Stigmatisierung. Und aus gutem Grund. Dir brauche ich das eigentlich nicht zu erklären.«
»Klasse. Und deshalb behält er es für sich und dreht jedes Mal durch, wenn er eine Leiche sieht? Ohne mich einzuweihen?«
»Mir hat er auch keinen reinen Wein eingeschenkt. Dafür hat er mit Mac darüber gesprochen. Ich bin selbst dahintergekommen. Du hättest das doch schnallen müssen. Ehrlich gesagt, ich dachte, du wüsstest Bescheid.«
»Hm.« Sie schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen.
»Er kriegt jetzt Hilfe, Dash. Ich habe dafür gesorgt, dass er sich an jemanden wendet. Ist nur eine Frage der Zeit, bis es ihm wieder bessergeht.«
»Na, jedenfalls würde ich dir raten, über das hier Stillschweigen zu bewahren. Ihn einzuweihen wäre keine gute Idee. Immerhin müssen wir ja auch in Zukunft miteinander arbeiten.«
Obwohl ihr Vorschlag etwas Unlauteres hatte, musste ich ihr beipflichten: Wie sollte Billy den Verrat seiner Partnerin verkraften, wo er sich nicht mal selbst über den Weg traute? Irgendwann musste er davon erfahren, doch das hatte noch Zeit.
Ich verließ das Revier und marschierte in der Eiseskälte schnellen Schrittes die 4th Avenue hoch Richtung U-Bahn. Auf dem Weg dorthin überschlugen sich meine Gedanken.
Billy, ein Verdächtiger?
Sie mochten seinen Namen weggewischt haben, aber ihr Misstrauen würde ich ihnen niemals verzeihen. Was, wenn sie seinen Namen wieder auf die Liste der Verdächtigen gesetzt hatten, kaum dass ich gegangen war? Billys Befürchtungen hatten sich also bewahrheitet: Kaum zeigte man Schwäche, kaum zeigte der eigene Panzer kleine Risse, kamen die Aasgeier angeflogen.