KAPITEL 21

Wie so oft verflog am frühen Morgen die Zeit wie im Nu. Und so fand ich keine Zeit, mit Dathi zu reden, die vollauf mit Anziehen und Frühstücken beschäftigt war und dann zur Tür hinausstürmte, um den Schulbus zu bekommen. Nun musste ich mich bis zu ihrer Rückkehr von der Schule gedulden. Ich war mir allerdings nicht sicher, was bei diesem Gespräch herauskommen sollte. Die Ermittlungsarbeit schien inzwischen recht erfolgversprechend zu sein, und die Polizei würde bestimmt alles herausfinden. Jedenfalls redete ich mir das ein und dachte: Lass die Finger davon.

Nachdem ich Ben im Kindergarten abgeliefert hatte, begegnete ich in der Smith Street den drei Musketieren, die auf dem Weg zu ihrer Bushaltestelle waren. Ich blieb kurz stehen und schaute ihnen hinterher, als sie in Richtung Atlantic Avenue verschwanden. Seit ich wusste, wer sie waren, ihre Namen, Geschichten und Probleme kannte, fand ich sie nicht mehr unsympathisch. Im Gegenteil, sie taten mir leid. Wie eine Mutter wünschte ich ihnen das Beste, während ich mit dem Schlimmsten rechnete.

Sirenengeheul riss mich aus meinen Gedanken. Ein Streifenwagen raste auf die Court Street und die Kirche St. Paul’s zu. An der Kreuzung warf ich einen Blick in diese Richtung, um zu sehen, was dort passierte. Leider waren aus der Ferne nur geparkte Fahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht zu erkennen. Dass die Ermittlung sich jetzt auf das Kirchengebäude konzentrierte, war nicht verwunderlich, denn die Polizei musste auch vor Ort nach Beweisen suchten. Ich wusste zwar, dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, dennoch ging ich die Court Street hoch und sah nach, was sich dort tat.

Sowohl der Haupteingang als auch das Pfarrhaus waren mit gelbem Absperrband gesichert. Dahinter standen Streifenpolizisten.

»Was ist hier los?«, fragte ich den nächstbesten Polizisten.

»Gehen Sie bitte weiter, Ma’am.«

Ich lief zu dem Nebeneingang in der Congress Street und wiederholte meine Frage.

»Gehen Sie weiter, Lady.«

Mein Blick fiel auf den verschneiten Innenhof und die Bleiglasfenster, hinter denen mehrere Personen ihrer Arbeit nachgingen und das Gebäude durchsuchten. Ich erkannte eine junge Frau mit geblümten Stiefeln wieder; ich hatte sie im Besprechungszimmer der SOKO gesehen. Bestimmt kämmte sie das Gebäude schon mehrere Stunden durch ... Was hätte ich darum gegeben, da drinnen Mäuschen zu spielen!

Ich beschloss, bei Billy vorbeizuschauen. Dass er immer noch nicht erreichbar war, bereitete mir Sorgen.

Auf dem Weg schickte ich Mac eine SMS und teilte ihm mit, was ich vorhatte. Ich ging die Bergen Street hoch, überquerte die 3rd Avenue und kam an einer ganzen Reihe neuer luxuriöser Apartmenthäuser zwischen zwei sanierten Sandstein-Vierteln vorbei. Billy wohnte auf der anderen Seite, am Rand von Park Slope.

»Karin!«

Ich drehte den Kopf. Mac kam keuchend zu mir gelaufen.

»Ich dachte, du sitzt an deinem neuen Fall?« Dieser Auftrag unterschied sich keinen Deut von seinen früheren: ein untreuer Ehemann, eine aufgebrachte Ehefrau, eine drohende Scheidung, Verbitterung auf beiden Seiten.

»Vor lauter Sorge um Billy kann ich mich nicht konzentrieren. Und außerdem ... Mary ist im Büro. Die hat es echt drauf. Ich habe sie darauf angesetzt, ein paar Spuren nachzugehen. Die Frau ist ein wahres Naturtalent.«

Wir überquerten die 4th Avenue und gelangten zu Billys Block. Er wohnte nur einen Katzensprung von der 5th Avenue entfernt, am St. Mark’s Place in einem Erdgeschoss-Studio eines Sandsteinhauses. Das Gebäude hatte eine doppelflügelige blaue Eingangstür, die ins Foyer und zu den oberen Stockwerken führte. Doch Billys Wohnung hatte einen separaten Eingang. Wir öffneten das Tor zum Wohnkomplex und überquerten einen kleinen Vorhof, auf dem Mülltonnen standen. Dann stiegen wir ein paar Stufen hinunter und läuteten bei Billy. Keine Reaktion.

Ich spähte durch das vergitterte Fenster und klopfte an die Scheibe. »Billy? Bist du da? Billy?«

»Brennt da nicht Licht?«, sagte Mac und guckte angestrengt durch die Scheibe. Ich hatte den Eindruck, dass im Wohnzimmer eine Lampe brannte, doch da sich die Sonne im Fenster spiegelte, war ich mir nicht ganz sicher. »Ich glaube, er ist da. Wir sollten unbedingt nachsehen, ob ihm etwas passiert ist.«

Seit Billys Einzug war das Schloss seines Türgitters defekt. Mac öffnete es und holte ein Handpickset heraus, das er immer bei sich trug, seit er sich selbständig gemacht hatte. Ich wartete, während er sich an dem Schließzylinder zu schaffen machte. Nach einigen Versuchen ging die Tür endlich auf. Mac betrat zuerst das Apartment. Ich folgte ihm und schloss die Tür.

Die Wohnung bestand aus einem großzügigen, offenen Raum: Der Wohnbereich ging zur Straße hinaus, der Schlafbereich zum Garten, dazwischen lag die Küche. Zwei halbhohe Wände trennten die Bereiche voneinander, ohne das Gefühl von Weitläufigkeit zu mindern.

Bangen Herzens schaute ich mich in der Wohnung um. Weder Mac noch ich hatte es laut ausgesprochen, aber wir waren nur aus einem einzigen Grund hier: weil wir fürchteten, dass Billy angesichts seiner Misere kapituliert und sich das Leben genommen hatte. Nach Steve Campbells Selbstmord schien auf einmal alles möglich. Dass Billy unter PTBS litt und George Vargas und La-a ihn verdächtigten, machte ihm das Leben nicht leichter. Obwohl wir beide von seiner Unschuld überzeugt waren, nagte ein leiser Verdacht an uns, den es auszuräumen galt.

Wir öffneten Schränke, schauten hinter Vorhänge, knieten uns auf den Boden und spähten unter Billys Bett.

»Er ist nicht da«, konstatierte Mac.

»Was ist das da?« In einer Ecke des Schlafbereichs lag eine große Einkaufstüte mit Kleidern. Ich zog das oberste Stück heraus: ein tief ausgeschnittenes rotes Oberteil, auf dessen Vorderseite ein Auge aus Glitzersteinen prangte. Das Material war billig, der Saum aufgerissen, der Ausschnitt mit Lippenstift verschmiert. »Woher hat er das Zeug?«

Ich beugte mich nach unten, um den Inhalt genauer zu inspizieren. In der Tüte befand sich nur Frauenkleidung: hautenge goldene Leggings, schwarze Netzstrumpfhosen, knappe, schulterfreie Oberteile, superkurze Miniröcke. Das aus der Tüte aufsteigende Parfüm löste bei mir Brechreiz aus.

»Was läuft da bei Billy?« Das purpurfarbene Oberteil stopfte ich in die Tüte zurück.

»Eigenartig«, entgegnete Mac kurz angebunden und weigerte sich beharrlich, seine offensichtlichen Befürchtungen laut auszusprechen.

»Wir müssen mit La-a reden«, meinte ich.

»Zuvor sollten wir sie anrufen.«

»Gar keine gute Idee. Sollten sie seine Bude auf den Kopf stellen, ist Billys Karriere futsch, auch wenn sie nichts finden.« Dann konnte er seinen Beruf an den Nagel hängen: arbeitslos wegen eines unbegründeten Verdachts. »Wir statten ihr einen Besuch ab und reden mit ihr von Angesicht zu Angesicht. Nur um sicherzugehen.« Am liebsten hätte ich die Tüte mit den Kleidungsstücken mitgenommen, doch mir war klar, dass ich alles so lassen musste, wie wir es vorgefunden hatten. In dem Moment zeigte sich, dass ich im Herzen zuerst Polizistin und dann Freundin war. Gehörten diese Kleidungsstücke den Opfern, konnte Billy nicht auf mich zählen.

* * *

Als wir auf dem 84. Revier in den SOKO-Besprechungsraum stürmten, blieb mir fast das Herz stehen. Billy saß auf einem Drehstuhl am anderen Ende des Tisches. Seine Füße, die in staubigen Cowboystiefeln steckten, lagen auf der Tischplatte. Neben ihm las George Vargas etwas auf einem Computermonitor. La-a stand vor der Wand, studierte neue Aufnahmen und unterhielt sich dabei mit einem Mann, der mitschrieb.

»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Mac bei Billys Anblick.

»He! Compadres!« Billy nahm die Füße herunter, beugte sich vor und grinste. »Was bringt euch denn hierher?«

»Wir versuchen schon eine ganze Weile, dich zu erreichen.« Ganz bewusst schlug ich einen ernsten, leicht vorwurfsvollen Ton an.

»Hm, sorry. Mein Akku war leer, und der Keller meiner Schwester steht unter Wasser. Rohrbruch im Badezimmer. Ich musste ihnen beim Ausräumen helfen. Das war vielleicht eine Schweinerei.« Seine Miene verdüsterte sich. »Was liegt an?«

Sollte ich jetzt erst recht wütend werden oder erleichtert sein? Was ich gerade empfand, tat im Grunde genommen nichts zur Sache. »Wieso bewahrst du in deinem Schlafzimmer eine Tüte mit billigen Frauenklamotten auf?«

»Wow!« Zorn blitzte in seinen Augen auf. »Ihr wart in meiner Wohnung?«

Mac baute sich zwischen Billy und mir auf. »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht und sind deshalb in deine Wohnung gegangen.«

Kurz sah es so aus, als würde Billy sich an Mac vorbeizwängen. Stattdessen sagte er ernüchtert: »Diese Klamotten sind von meiner Nichte, und ich wollte sie Dathi geben ... Ach, vergesst es.«

»Deine Schwester lässt ihre Tochter wie eine Nutte rumlaufen?«

Billy funkelte mich wütend an. Ein Kollege auf der anderen Seite des Raumes verkniff sich ein Lachen.

»Dachtest du allen Ernstes, Dathi würde solche Fummel tragen?«

»Ich habe mir die Sachen nicht angeschaut, Karin. Ich habe die Tüte geschnappt, sie daheim in eine Ecke geworfen und bin aufs Revier.«

La-a wandte sich zu ihm um. »He, Billy, wir haben zu tun.«

»Was soll das, Dash? Du hast gerade zwanzig Minuten mit einem von deinen Kindern telefoniert!«

»Du machst dich vom Acker, während wir uns abplagen, tauchst später wieder auf, tust ganz locker und bildest dir ein, der Rest von uns, der die ganze Nacht durchgeschuftet hat, darf nicht mit seinen Kindern reden?«

»Halt die Luft an ... Ich hatte frei.«

»Na, heute aber nicht! Vielleicht solltest du deine Freunde bitten, dich irgendwann anders zu besuchen.«

George Vargas schaute vom Monitor auf. Die Auseinandersetzung der beiden schien ihn zu interessieren.

Billy starrte seine Kollegin an. »La-a, weißt du, was? Ich bin nicht dein Mann, falls du das vergessen hast.«

Ihre Augen wurden ganz schmal. »Dich würde ich nie und nimmer heiraten, selbst wenn du der letzte Mann auf Erden wärst.«

»Gut. Dann sind wir uns ja wenigstens in dem Punkt einig.«

»Lass uns verschwinden«, wisperte Mac mir zu. »Wir haben ihn gefunden, und wie es aussieht, sind diese Klamotten -«

In dem Augenblick kam die junge Polizistin, die ich durch die Kirchenfenster gesehen hatte, mit einem Karton herein und sprach mich sofort an. »Hallo, Karin. Super, dass Sie da sind. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Ich konnte mich nicht erinnern, ihr vorgestellt worden zu sein. Aber Mac und ich waren hier seit der achtzehn Monate zurückliegenden Katastrophe mit Jasmine so etwas wie Legenden.

Die junge Polizistin stellte den Karton auf den Tisch. »Übrigens, ich bin Sam. Detective Sam Wright.«

»Sie sind Sam? Billy hat Sie mal erwähnt. Ich dachte ...«

Sie grinste. »Ist irgendwie cool, einen Jungennamen zu haben. Ähm, eigentlich heiße ich Samantha.«

»Und ich bin Mac«, stellte er sich vor. »Karins Mann.«

»Nett, Sie kennenzulernen.« Sam schüttelte energisch seine Hand.

»Was hast du da?«, fragte Vargas und linste in den Karton.

»Toller Fund«, antwortete Sam.

Sie machte sich ans Auspacken: ein Laptop, drei CDs in weißen Papierhüllen, ein Gästebuch, ein Stapel Fotos, eine verschlossene Metallbox, eine Papiertüte mit einem Kamm mit grauen Haaren, eine weitere Tüte mit einer Zahnbürste und ein paar zerknüllte Papiertaschentücher.

»Den Laptop bringe ich sofort zur CCU«, verkündete Vargas.

Billy sah zu Mac und mir auf. »Wisst ihr, was? Die CCU hat endlich Abbys Facebook-Account unter die Lupe genommen. Jemand hat sich da reingehackt. Der E-Mail-Verkehr läuft über einen Server in Übersee, die dazugehörige IP stammt irgendwo aus dem Mittleren Westen. Wir konnten die Daten noch nicht mit der Festplatte abgleichen, aber ...« Sein Blick wanderte zu dem abgegriffenen schwarzen Laptop, der in dem Karton gelegen hatte.

So eine Auswertung dauerte: Der Computer musste zuerst umständlich als Beweisstück verbucht und hinterher in die CCU gebracht werden. Gut möglich, dass die anderen Gegenstände aus dem Karton schnellere Ergebnisse lieferten.

Mac öffnete mit seinem Werkzeug die Metallbox.

Als ich sah, was darin aufbewahrt wurde, glaubte ich, meinen Augen nicht trauen zu können. Doch Fotos lügen nicht.